Archiv

Neues Buch von Rüdiger Safranski
Eine Biografie der Zeit

Rüdiger Safranski erzählt in seinem neuen Werk "Zeit. Was sie mit uns macht und was wir aus ihr machen" literarisch, literaturgeschichtlich und philosophisch zugespitzt von der Zeit. Leichtfüßig greift er dabei auf alles zurück, was er sich in seinen Studien über die Romantiker, über Heidegger, Nietzsche oder Schopenhauer erarbeitet hat.

Von Hans-Jürgen Heinrichs |
    Leider liegt für dieses Bild keine Bildbeschreibung vor
    Der deutsche Philosoph und Schriftsteller Rüdiger Safranski (picture alliance / dpa / Patrick Seeger)
    Der Philosoph und Autor Rüdiger Safranski hat mit seinen Biografien ein Panorama deutscher Geistesgeschichte entworfen. Entziehen sich schon die von ihm porträtierten Schriftsteller und Philosophen - vor allem Heidegger und Nietzsche - in vielen Teilen ihres Lebens und Werks unserem Zugriff, so ist dies geradezu das Wesen der Zeit, ganz gegenwärtig zu sein und uns doch beständig zu entgleiten. Gleich mehrfach nennt sie Safranski eine "Furie des Verschwindens".
    "Die Zeit bewirkt, dass wir einen schmalen Streifen von Gegenwärtigkeit bewohnen, nach beiden Seiten umgeben von einem Nicht-Sein: das Nicht-Mehr der Vergangenheit und das Noch-Nicht der Zukunft."
    Mit vielen Verweisen auf Schriftsteller und Philosophen, die sich dem Phänomen der Zeit gewidmet haben, versucht Safranski dem höchst eigentümlichen Charakter der Zeit auf die Spur oder, wenn man so will: auf die Schliche zu kommen: eben noch gegenwärtig gewesen zu sein und Augenblicke später schon vergangen zu sein und dem gerade noch Zukünftigen als Gegenwärtigem jetzt Platz gemacht zu haben - und auch dies nur vorübergehend. Es stellt sich die Frage, ob man von der Zeit überhaupt mit Recht sagen kann, dass sie ist, dass ihr ein Sein zugesprochen werden kann. Rüdiger Safranski ruft gleich zu Anfang seines Buches zwei Zeugen auf, die Kunde geben von dem Rätsel der Zeit. Hugo von Hofmannsthal:
    "Die Zeit, die ist ein sonderbar Ding. Wenn man so hinlebt, ist sie rein gar nichts. Aber dann auf einmal, da spürt man nichts als sie."
    Und der Heilige Augustinus:
    "Was also ist die Zeit? Wenn niemand mich danach fragt, weiß ich's, will ich's aber einem Fragenden erklären, weiß ich's nicht."
    Die Zeit beginnt mit der Zeugung und der Geburt
    In diesem Zwiespalt befindet sich natürlich auch derjenige, der ein Buch über die Zeit schreibt: Er fasst sie, und er verfehlt sie, sie ist rein gar nichts, und sie ist alles, sie ist ein Nichts, und sie ist ein Sein. Hat diese Spannung, so fragt man sich als Leser, für den Autor etwas Anfeuerndes, Belebendes, Euphorisierendes gehabt oder hat ihn diese Doppelexistenz der Zeit eher verzweifeln lassen, zumindest immer wieder beim Schreiben entmutigt?
    "Dieses Gleiten zwischen Sein und Nichts bei der Erfahrung der Zeit, das ist einer der unglaublichen Mysterien, und das war eigentlich auch eine Herausforderung. Am schönsten fand ich sie bisher beschrieben bei dem Heiligen Augustin in dem berühmten Kapitel seiner "Bekenntnisse", wo er genau diesen Punkt auch beschreibt, dass eine Wirklichkeit ins Nichtige entgleitet und etwas, was noch nicht ist, in der Wirklichkeit ankommt. Und diese Vertrautheit mit dem Nichts, das wir überhaupt im Zeiterfahren machen, diese Vertrautheit, das ist eigentlich ein wichtiges Movens gewesen für das ganze Nachdenken."
    Rüdiger Safranski hat sein Buch in zehn Kapitel gegliedert: "Zeit der Langeweile", "Zeit des Anfangens", "Zeit der Sorge", "Vergesellschaftete Zeit", "Bewirtschaftete Zeit", "Lebenszeit und Weltzeit", "Weltraumzeit", "Eigenzeit", "Spiel mit der Zeit", "Erfüllte Zeit und Ewigkeit".
    Ist diese Gliederung einsichtig? Woran ist sie orientiert? Wären die Kapitel auch beliebig austauschbar - angesichts der Zeit als Furie, als eines sich beständig entziehenden Phänomens? Denkt man die Zeit als eine chronologische Abfolge, beginnt man dann mit der "Weltzeit" oder der "Weltraumzeit"? Im Leben des Einzelnen beginnt die Zeitrechnung freilich viel eingeschränkter: mit der Zeugung und der Geburt.
    Hier ist bereits eine Klippe verborgen: Kann man überhaupt die Lebenszeit auf die Weltzeit hin verlängern? Oder sind das nicht ganz verschiedene Vorstellungen von "Zeit"? Die Lebenszeit hat einen Anfang und ein Ende. Aber führt von hier ein Weg zur naturwissenschaftlichen Annäherung an die Zeit?
    "Womöglich hat die Zeit einen Anfang und ein Ende wie alles andere auch, und vielleicht ist sie überhaupt nur ein Vordergrundphänomen. Aber auch während Theorien über den angeblich illusionären Charakter der Zeit entwickelt werden, vergeht die Zeit."
    Physik nimmt wenig Raum ein
    Solche Formulierungen machen die enorme Schwierigkeit deutlich, der sich der Autor gegenübersah: Auch wenn er eine Vorstellung von der Unfassbarkeit der Zeit und den Theorien der modernen Physik hat, möchte er doch am Alltagsverständnis der vergehenden Zeit festhalten. So gesehen kann der Obertitel der Studie "Zeit" von Safranski gar nicht vollständig eingelöst werden. Analog dazu, wie er in seinen Biografien die Wirkungsgeschichte der porträtierten Schriftsteller erörtert hat, so beschreibt er auch die Zeit: "Was die Zeit mit uns macht und was wir aus ihr machen."
    "Man könnte das Buch eine Art Biografie der Zeit nennen, natürlich auch, weil ich nun sonst immer auch Biografien schreibe. Aber ich würde noch eher sagen, es ist der Versuch, die conditio humana wirklich am Leitfaden der Zeiterfahrung noch mal zu beschreiben. Die Zeit als Thema des Nachdenkens, das ist ja wirklich nichts Neues. Da steckt man auch nicht unter dem Stress, nun unbedingt so was ganz Originelles jetzt hervorzubringen. Mir kam es darauf an, wirklich das Panoramatische, die Vielfalt der Zeiterfahrungen, die wir machen können, wieder herzustellen. Unter dem Gesichtspunkt zum Beispiel, dass man immer die physikalische Zeit beschreibt, geht das verloren. Wiederherstellung des Reichtums der Erfahrung mit der Zeit - das war ein Ziel des Buches."
    Auffällig ist, wie wenig Raum die Physik in diesem Buch einnimmt. Wäre der Titel nicht "Zeit", sondern etwa "Zur Wirkungsgeschichte der Zeit", würde man dies auf den ersten Blick gar nicht erwarten. Bei näherem Hinsehen aber doch, denn ohne die Erkenntnisse der modernen Physik, der Relativitätstheorie, Astrophysik, Teilchenphysik und Quantentheorie über die Zeit wäre die heutige Technik, die unser gesamtes Leben bestimmt, in vielen Bereichen überhaupt nicht denkbar.
    Es handelt sich also nicht um theoretische Spezialgebiete zum akademischen Verständnis der Zeit. Diese Erkenntnisse wirken vielmehr ununterbrochen in der Mitte unseres Alltags. Wer glaubt, die modernen Physiker gäben sich überheblich und omnipotent, irrt gewaltig. Sie gestehen ein, dass sie vom Universum, von Raum und Zeit gerade mal fünf bis zehn Prozent verstünden.
    "Für uns gläubige Physiker hat die Scheidung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nur die Bedeutung einer wenn auch hartnäckigen Illusion."
    Safranski zitiert Albert Einstein mit diesem Bekenntnis und spricht von dessen Einsichten als dem "nach Newton bedeutendsten Einschnitt im physikalischen Verständnis von Raum und Zeit". Hier aber ist die Physik nicht stehen geblieben.
    "Über große Strecken ist der physikalische Begriff der Zeit, wenn man mal den Kern erfasst, ziemlich langweilig eigentlich, ja, das ist ja das, eigentlich ist es ein Nachdenken über das Messen der Zeit, ja. Gerade da, besonders bei den populär gemeinten Büchern der Physiker, ja, die erzählen einem dauernd etwas über die gemessene Zeit. Aber das Rätsel beginnt ja da in dem Kontrast zwischen dem Messbaren und dem Erfahrbaren, also das Aufklaffen von Erfahrungszeit und gemessener Zeit, oder anders gesagt, erfahrener Zeit und die Zeit der Uhren. Aber richtig spannend wird's natürlich schon bei Einstein. Das sind aber Bereiche, die wir erfahrungsmäßig gar nicht mehr abdecken können, aber philosophisch hochinteressant, dass das Zeitverstreichen abhängig ist von der Bewegungsart. Das ist natürlich schon philosophisch hohe Klasse."
    "Das Buch hat mir Spaß gemacht"
    Man hat Safranski bei der Besprechung dieses Buches abschätzig einen "Zitatmeister aus Deutschland" genannt. Auch wenn sich streckenweise seine Darstellung entlang von Zitaten entwickelt, dienen diese doch immer einer anschaulichen Erzählung, einer Erzählung, die in diesem Buch vom großen literaturgeschichtlichen Wissen des Autors zehrt. Leichtfüßig kann er auf all das zurückgreifen, was er sich in seinen Studien über die Romantiker, über Heidegger, Nietzsche oder Schopenhauer erarbeitet hat. Das ist die Stärke dieses Buches: Wie literarisch, literaturgeschichtlich und philosophisch zugespitzt erzählt wird: von der Zeit der Langeweile, der Zeit des Anfangens, der Zeit der Sorge und vieler anderer Vorstellungen.
    "In besonderem Maße hat es Literatur mit dem Abenteuer des Anfangens zu tun. Literatur ist im Verhältnis zum Ernstfall des Lebens ein virtuelles Handeln, ein Probehandeln. Ein Autor experimentiert mit Biografien, auch mit der eigenen. Er stellt sich andere Lebensläufe vor. Und schon mit diesem Vorstellungsakt springt er aus der gewöhnlichen Zeitreihe heraus..."
    Nach der Lektüre des Buches und vor allem auch des Finales über "Erfüllte Zeit und Ewigkeit" fragt man sich erneut, wie es wohl dem Autor beim Schreiben angesichts des selbst gewählten anspruchsvollen Titels ergangen ist. Hätte er am Ende doch lieber die Selbstbeschränkung auf literarische und philosophische Aspekte der Zeit gewählt? Vielleicht auch das Sich-Einlassen auf eigene Lebenserfahrungen im Umgang mit der Zeit? Oder eine Vertiefung der zum Schluss angedeuteten Praktiken der Hingabe, des hingebungsvollen Verweilens in der Kunst und Meditation - und der Liebe?
    "Mich reizte wirklich bei diesem Thema der totale Blick. Ich weiß, das ist ganz unbescheiden, aber ich wollte es für mich selbst mal wissen. Ich wollte die Aspekte, die mir interessant sind, die wollte ich zur Sprache bringen. Und deswegen auch in diesem Kontrast, dass ich die phänomenologisch erfahrbare Zeit, dass ich die kontrastiere mit der physikalisch beschriebenen Zeit. Nein, ich wollte schon das Ganze, gebe aber zu, so eine Kühnheit, einfach das Ganze zu wollen, das hätte ich sicher nicht als erstes, als zweites Buch gemacht. Da muss man so einen universalistischen Trotz haben. Ehe man ins Grabe sinkt, will man noch mal das Ganze gehabt haben. Es hat mir Spaß gemacht. Das Buch hat mir Spaß gemacht. Und ich wollte auch eine bestimmte Leichtigkeit. Ja, mein Gott, die Zeit, die ist unser Vertrautester. Eigentlich können wir mit ihr auf Du und Du sein, mit der Zeit."
    Rüdiger Safranski: Zeit. Was sie mit uns macht und was wir aus ihr machen. Carl Hanser Verlag München 2015, 272 Seiten, 24,90 Euro.