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Neues Denken in Frankreich

Nach den epochemachenden französischen Philosophen von Michel Foucault bis Jacques Derrida findet in Frankreich eine neue Denker-Generation Aufmerksamkeit. Neben Alain Badiou und Jacques Rancière ist hier Jean-Luc Nancy zu nennen, der zuletzt in Straßburg lehrte. Der kleine Berliner Diaphanes Verlag widmet sich auf bewundernswerte Weise diesem neuen Denken und seiner Verbreitung im deutschsprachigen Raum.

Von Hans-Jürgen Heinrichs |
    Wenn auch im Format eines schmalen Büchleins, wiegt Jean-Luc Nancys Traktat über Gesellschaft und Religion doch schwerer als so manches übergewichtig daherkommende Werk der Politik -und Gesellschaftswissenschaften. Sein Ausgangspunkt liegt in der Reflexion des einfachen Wortes "Gemeinsam-Sein" oder "Mit-Sein" beschlossen. Was ist das: gemeinsam, mit anderen, in Gemeinschaft sein? Welchen Gesetzmäßigkeiten folgt das Miteinander und wie verhält es sich zum Gegeneinander der Auseinandersetzung?

    "Die 'Gemeinschaft' ist uns gegeben, das heißt, uns ist ein 'wir' gegeben, ehe wir ein 'wir' artikulieren oder gar rechtfertigen können."

    Ist dies nicht aber der Kern der Religion: sich den Glaubensbrüdern und Schwestern verbunden zu fühlen, sich mit ihnen eins zu wissen, vor jeder Individuation? Der Begriff der Religion wird ja in diesem Sinn auch zumeist von "religare" (verbinden, durch ein Band verknüpfen) abgeleitet. Zugleich ist in keinem anderen gesellschaftlichen Bereich das Gegeneinander und die Bekämpfung des Andersdenkenden stärker als in der Religion. Nancy schließt an einen zentralen Gedanken des Schriftstellers Maurice Blanchot an, der davon sprach, dass Gemeinschaft aufs engste mit einer stets beunruhigenden und verstörenden Fremdheit verknüpft ist. In jeder Gemeinschaft gilt es, die eigene Kluft und die eigenen Brüche zu erkennen.

    "Die Allmacht und Allgegenwart eines Einen ist zu seiner eigenen Monstrosität geworden ... Die Gemeinschaft muss begreifen, dass sie es ist, die aufklafft -klaffend geöffnet auf ihre abwesende Einheit und Essenz ... Gemeinschaft zerreißt sich selbst, indem sie die anderen zerreißt."

    Für Nancy geht es darum, eine Welt zu denken, die in sich selbst und durch sich selbst zerbrochen ist. Die der Gemeinschaft eigene Kluft zu erkennen und anzuerkennen, fordere das Denken und die Gesellschaft beständig neu heraus, lockt sie aus der Idee und dem Phantasma der Geschlossenheit heraus. Daher der Titel dieses Traktats: "Die herausgeforderte Gemeinschaft".

    Wie aber kann man, fragt sich Nancy, am Begriff der Gemeinschaft festhalten, nachdem er durch die nationalsozialistische und kommunistische Propaganda derart missbraucht worden ist. Nur, so seine Antwort, indem Gemeinschaft im Sinn eines "Zusammen-Seins" und "Mit-Seins" entideologisiert und auf eine beständig sich erneuernde Kommunikation hin geöffnet wird.

    Nancy spricht von einer Gemeinschaft, die sich weigert, "sich ins Werk zu setzen" und sich einen "abwesenden Sinn" mitteilt. Die "entwerkte Gemeinschaft" ist die Gemeinschaft derer, "die ohne Gemeinschaft sind". Man erkennt hier eine sehr französische Denkweise, die sich an einzelnen Wörtern und Wortpartikeln, vornehmlich Vorsilben zum Beispiel in den Begriffen Gemeinschaft, Korrespondenz, Kommunikation und Werk bzw. Entwerkung abarbeitet, um den Kern eines noch nicht missbrauchten politischen und religiösen Sprechens freizulegen.

    "Es reicht nicht, die Gesellschaft davon abzuhalten, sich zum Werk zu machen in dem Sinne, wie die National- oder die Parteistaaten es wollen, die ... Kirchen, die Versammlungen und Räte, die Völker, Gesellschaften oder Bruderschaften. Man muss auch bedenken, dass es schon immer ein 'Werk' der Gemeinschaft gegeben hat ..."

    Somit besteht also Nancys Anliegen zum einen darin, der Manifestierung der Gemeinschaft in einem starren System, einem "Werk" (wie er es nennt), entgegenzuwirken; zum anderen aber legt er größten Wert darauf, dass die Gemeinschaft ursächlich gegeben ist und immer schon zum Menschen und seiner Seinsweise oder, wie es Martin Heidegger nannte, zu seinem "Mitdasein" gehört. In diesem Sinn gibt es die Gemeinschaft von jeher als Werk. Dies gelte es zu erkennen -im Grunde basiere darauf unser In-der-Welt-Sein -und zugleich müsse man dagegen angehen. Dieser Widerspruch sei der Gemeinschaft und der Gesellschaft eigen.

    "Wir befinden uns nicht in einem 'Krieg der Zivilisationen', sondern in einer inneren Zerrissenheit der einzigen und einzigartigen Zivilisation, welche die Welt im Zuge derselben Bewegung zivilisiert und barbarisiert."

    In manchen Hinsichten bleiben Nancys Überlegungen kryptisch und erschließen sich nur ansatzweise. Auch hat die Übersetzung naturgemäß enorme Schwierigkeiten, dieses sprachgeleitete Denken adäquat zu vermitteln. Bedeutsam ist Nancys Ansatz auch insofern, als er uns gegen die Verlockungen der Globalität und ihrem Bild einer Gemeinschaft stark macht.

    "Was uns widerfährt, ist eine Erschöpfung des Denkens des Einen und einer einzigen und einzigartigen Bestimmung der Welt."

    Jean-Luc Nancy: Die herausgeforderte Gemeinschaft.
    Aus dem Französischen von Esther von der Osten.
    48 S., Diaphanes Verlag Berlin. 10,00 EUR.