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Neues Erzählen im Radio
Podcasts - unwiderstehlich, aber auch fragwürdig

Audio-Erzählungen werden in unseren unruhigen, hektischen Zeiten immer beliebter: sie bieten eine Gelegenheit zum langsamen Abtauchen. Das Verführerische daran hat aber auch eine manipulative Seite.

Von Rebecca Mead |
Adnan Syed, der wegen Mordes verurteilt wurde und dem jetzt wegen des Krimi-Podcasts "Serial" ein neuer Prozess gemacht wird.
Podcasts sind mächtige Erzählungen. Die investigative Story "Serial" stieß in den USA sogar eine Neubewertung eines Mordfalls und des Verurteilten Adnan Syed an (The Baltimore Sun via AP)
In den frühen Podcast-Zeiten, vor ungefähr zehn Jahren, gab es technische Grenzen, die eine größere Verbreitung limitierten. Podcasts mussten von einem Festnetzcomputer in einen MP3-Player oder iPod überspielt werden, also waren Podcasts etwas für Nerds, von denen sie ja auch gemacht wurden. Das änderte sich 2014, als Apple eine Podcast-App in das iPhone installierte. Abonnieren war einfach, noch besser, es war kostenlos.
Die Explosion der Podcasts aber war keine technische, sondern eine kreative: die Veröffentlichung von "Serial", eine investigative Suche nach dem Mörder von Hae Min Lee, einer Highschool-Schülerin in Maryland, präsentiert von Sarah Koenig, Mitarbeiterin der Public-Radio-Show "This American Life". Millionen Hörerinnen und Hörer weltweit und ein Boom des seriellen Erzählens brachten die internationale Medienwelt auf Trab.
Rebecca Mead betrachtet eine Szene, ihre Verheißungen und auch fragwürdige Wirkungen.
Rebecca Mead, geboren 1966 in London, Ausbildung an der Oxford University und New York University. Seit 1997 schreibt sie als feste Autorin für "The New Yorker" und "L. A. Review of Books". Sie lebt in Brooklyn und London. Bücher: "One perfect Day. The Selling of the American Wedding" (2007) und "My Life in Middlemarch - a celebration of literature" (2014).

Information und Erzählen
1936 veröffentlichte der deutsche Philosoph und Kulturkritiker Walter Benjamin einen Essay mit dem Titel "Der Erzähler". Vor langer Zeit, so Benjamin, boten Geschichten ihren Hörern praktischen oder moralischen Rat und Beistand, so wie es Märchen heutzutage für Kinder leisten würden. Sie vermittelten allgemeine Lebensweisheiten, eingebettet in die persönlichen Erfahrungen des Erzählenden, die in einer Art und Weise vermittelt wurden, dass die Zuhörer sie in ihr eigenes Leben integrieren konnten.
Diese Art des Erzählens war den Kräften der Moderne zum Opfer gefallen, argumentierte Benjamin. Soldaten, die von den Schlachtfeldern des 1. Weltkriegs zurückkehrten, waren weniger als die Kämpfer früherer Kriege dazu geneigt, über das zu sprechen, was ihnen widerfahren war. Ihnen schien die Alltagssprache unvereinbar mit den Schrecken der mechanischen Kriegskunst. Aber der Hauptgrund für den Niedergang des Erzählens war eine neue Form der Kommunikation:
"Information". Oder überprüfbare und tagesaktuelle Neuigkeiten.
Der Siegeszug der elektronischen Kommunikation bedeutete, dass Neuigkeiten sofort, ohne Verzögerung und weltweit übermittelt werden konnten. Auch wenn Benjamin anmerkte, dass diese Art der Kommunikation nicht immer exakter war als die Methoden, die sie überholt hatte, beruhte ihre Autorität doch zumindest auf dem Anschein der Genauigkeit und Fehlerfreiheit. Benjamin schrieb:
"Mittlerweile erreicht uns keine Begebenheit mehr, die nicht mit Erklärungen schon durchsetzt wurde. Beinah nichts mehr, was geschieht, kommt der Erzählung zugute."
Mehr als 80 Jahre nachdem Benjamin über den Niedergang des Erzählens schrieb, leben wir in einem neuen Goldenen Zeitalter desselben, dem Zeitalter der Podcasts.
Podcasts in den USA
On-demand Audios, welche ein Hörer downloaden und abspielen kann, auf dem Weg zur Arbeit, beim Sport, oder - mit dem richtigen Equipment - beim Duschen. Eine jüngst von Edison Research durchgeführte Studie kam zu dem Schluss, dass fast ein Viertel aller Amerikaner mindestens einmal im Monat Podcasts hört.
Die beliebtesten Shows in Amerika werden jeden Monat mehrere zehn Millionen Mal heruntergeladen. Dazu gehören Formate wie der von der "Times" produzierte News‑Podcast "The Daily" mit dem ehemaligen Reporter Michael Barbaro als gewinnendem, zugänglichem Gesprächspartner seiner Nachrichten sammelnden Kollegen. Oder "The Joe Rogan Experience", in dem der grobschlächtige Comedian Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens zu Themen wie Männlichkeit und Technologie interviewt.
Einige der erfolgreichsten amerikanischen Podcasts, wie "Slow Burn" der Plattform Slate, das in seiner zweiten Staffel der misslichen Geschichte von Präsident Bill Clintons Amtsenthebung nachging, bieten eine provokante Sicht - nicht nur auf die Vergangenheit, sondern auch auf aktuelle Ereignisse. Wenn der Host der Show eine Zeugin zu ihrer Aussage interviewt, in den '70-Jahren von Clinton sexuell belästigt worden zu sein, sorgt das in der Ära von #MeToo für ein ernüchterndes Hörerlebnis.
Neben den Chart-Spitzenreitern stehen eine halbe Million weiterer Podcasts zur Verfügung, die jeden erdenklichen Geschmack bedienen.
Die eigentliche Explosion des Mediums, der wirkliche Beginn des Podcast-Hypes, war kreativen Ursprungs: 2014 wurde "Serial" veröffentlicht, das den 1999 verübten Mord an der Schülerin Hae Min Lee in Maryland neu aufrollte. Moderiert wurde das Format von Journalistin Sarah Koenig, einer ehemaligen Producerin von "This American Life", einer Sendung des öffentlichen Rundfunks, die auch den Podcast produzierte. Lees Ex-Freund Adnan Syed war trotz seiner Unschuldsbeteuerungen wegen Mordes verurteilt worden.
Der Einzug von Serial in die Welt des Erzählens
"Serial" verknüpfte Telefoninterviews im Gefängnis mit Gesprächsaufnahmen von Freunden, Polizeibeamten, einem forensischen Experten sowie mit Archivaufnahmen. "Serial" war der erste Podcast, den Hörer und Kulturkommentatoren mit einer Begeisterung analysierten, die bislang nur großen TV-Serien wie "Breaking Bad" oder "Mad Men" vorbehalten war.
Der Podcast entwickelte sich zu einer Spurensuche, lieferte aber kaum zufriedenstellende Antworten auf die aufgeworfenen Fragen zu Lees Ermordung und Syeds Verurteilung. Die Sendung hatte einen unverwechselbaren Ton: unterhaltsam, unvorhersehbar, ungezwungen und gelegentlich gespielt naiv. In der ersten Episode beschreibt Koenig ihren Besuch im Büro von Rabia Chaudry, einer Einwanderungsanwältin und Freundin von Syed, die Koenig auf die Story aufmerksam gemacht hatte.
"Ihr Büro nimmt eine Ecke eines viel größeren offenen Raumes ein, der mir ein pakistanisches Reisebüro zu sein scheint, obwohl sich das nicht mit Sicherheit sagen lässt", stellt Koenig fest. Koenig wusste als ehemalige Reporterin der "Baltimore Sun" mit Sicherheit wie sich herausfinden lässt, ob es sich um ein pakistanisches Reisebüro handelte: nämlich indem man fragt. Aber Koenig hatte bei "This American Life" gelernt, dass sie eine überladene Büroumgebung plastischer heraufbeschwören konnte, indem sie ihre anfängliche Verwirrung mit den Hörern teilte, statt die Angelegenheit durch Nachfragen aufzuklären.
Zu Beginn des Podcasts teilt Koenig ihrem Publikum mit, dass "wir diese Geschichte der Reihe nach erzählen" und vermittelt den Hörern so die Illusion, sie während ihrer journalistischen Streifzüge zu begleiten. Aber die Sendung war viel geschickter konstruiert. Die erste Episode beschäftigte sich hauptsächlich mit den Aussagen von Asia McClain, einer Klassenkameradin von Syed, die behauptete, ihn genau dann in der Bibliothek gesehen zu haben, als er laut Anklage Lee ermordet haben soll. Koenig spürte McClain allerdings erst vier Monate nach ihrem Gespräch mit Rabia Chaudry auf. Da hatte sie schon ein Drittel ihrer einjährigen Untersuchung abgeschlossen.
"Serial", das zwar kostenlos, aber von Werbung eingerahmt war, ging es weniger darum, das Rätsel zu lösen oder den Fall aufzuklären, es wollte vielmehr das Procedere des Aufklärungsversuchs offenlegen. Das bedeutete, selbst kleinste Details von Koenigs Nachforschungen zugänglich zu machen.
Aber das eigentlich Neue und Revolutionäre der Show bestand darin, Koenigs psychologische Reise einzufangen - ihren inneren Kampf bezüglich dessen, was sie glauben sollte.
"Irgendwie habe ich diese Vorstellung, dass ich Syed mal bei einer Lüge erwische", sagt sie in Episode 6, mitten in der Staffel. Doch dann fügt sie hinzu: "Ich spreche mit ihm, und spreche mit ihm und spreche mit ihm und ich beginne, an meinen Zweifeln zu zweifeln." Die Episode endet mit einem sehr intimen Telefonat zwischen Koenig und Syed, in dem er ihr sagt, dass er möchte, dass sie ihn für unschuldig befindet, nicht weil er zu nett scheint, um Lee ermordet zu haben, sondern weil sie entlastende Beweise gefunden hat.
Es war dieser Fokus auf die quälende Unschlüssigkeit einer Reporterin, der den hohen Suchtfaktor von "Serial" ausmachte. Das Ganze funktionierte nach der "Tell‑as-you-go"-Formel, bei der das Erleben des Reporters wie live geschildert und kommentiert wird - auch mit Banalitäten durchsetzt. "Serial" vermittelte eine dramatische Dringlichkeit, die über die Tatsache hinwegtäuschte, dass es hier um Ereignisse ging, die 12 Jahre zurück lagen und an denen die Öffentlichkeit keinen sonderlichen Anteil genommen hatte. Koenigs Berichterstattung war so aufrüttelnd, dass die Hörer begannen, ihr Hinweise zu schicken, und Ermittlungsbeamte sich gezwungen sahen, zu reagieren.
"Serial" bediente sich gleichermaßen bei den Gepflogenheiten des investigativen Journalismus, des Memoirs und des Potboilers, einer künstlerischen Arbeit für den Markt. Es gelang der Podcast-Serie eine narrative Innovation, ähnlich wie 1966 Truman Capote mit seinem Tatsachenroman "Kaltblütig".
Innerhalb eines Monats nach seinem Debut hatte "Serial" bereits eine Million Hörer erreicht, und die erste Staffel wurde seit ihrem Erscheinen 240 Millionen Mal heruntergeladen. Die dritte Staffel des Podcasts, die sich auf das Strafrechtssystem in Cleveland konzentriert, wird exklusiv von Zip Recruiter gesponsert - ein Abschluss, der angeblich den größten Podcast-Deal aller Zeiten darstellt.
Investigativer Journalismus, Memoirs und Potboiler
Der kreative und wirtschaftliche Erfolg von "Serial" hat unzählige Nachahmer auf den Plan gerufen und viele haben schamlos seine rhetorischen Figuren kopiert: den umsichtigen, neugierig forschenden, methodisch vorgehenden Moderator, den True Crime-Fall oder auch ein anderes aufsehenerregendes Ereignis, das aus Zeitungsarchiven gepflückt und in eine wendungsreiche Geschichte verwandelt wurde. Um mit Walter Benjamin zu sprechen, bieten diese Podcasts die mitunter reißerische Genugtuung der Geschichte, die durch die scheinbare Rechtschaffenheit der Tatsachen angereichert wird.
Inzwischen ringen Dutzende von Podcasting-Firmen darum, eine Sensation in der Größenordnung von "Serial" zu erschaffen. Dazu gehört auch Pineapple Street Media, das seinen Sitz in einem loftartigen Büro in der Innenstadt von Brooklyn hat. Ins Leben gerufen wurde das Unternehmen 2016 von Max Linsky, dem Mitbegründer des "Longform Podcast", der Interviews mit erzählenden Journalisten zu Gehör bringt, und von der ehemaligen BuzzFeed-Audioproduzentin Jenna Weiss-Berman. Vor einigen Monaten wurde bei Pineapple ein Projekt diskutiert, das Hitpotenzial hatte: ein Podcast über die Einzelhaft in amerikanischen Gefängnissen.
Die Serie war von dem Schriftsteller und Journalisten Adam Sternbergh konzipiert worden; dies war sein erster eigener Podcastversuch. Die Idee war, sein imaginatives und dokumentarisches Können auf eine Art und Weise zu kombinieren, die der herkömmliche Journalismus nicht zuließ. Sternbergh wollte einen fiktiven, in Einzelhaft sitzenden Gefangenen in den Mittelpunkt stellen, dessen Erfahrungen und Erinnerungen das erzählerische Rückgrat der Serie bilden sollten. Um ein Gerüst aus Tatsachen zu liefern, sollte die Geschichte mit Interviews durchwirkt werden, man würde Gespräche mit Strafvollzugsexperten, ehemaligen Gefangenen und Justizvollzugsbeamten führen. Sternbergh und Pineapple war bewusst, dass ihr Experiment nur funktionieren würde, wenn es gelänge, Fiktion und Reportage in reizvoller und glaubhafter Weise zu vereinen.
Das intime Medium
Pineapple schlug eine andere Art von Lockvogeltaktik vor:
"Stell dir eine Show vor, die damit beginnt, dass uns ein Experte erzählt, wie die Dinge in der Einzelhaft ablaufen. Dann hören wir einen Gefangenen über seine Erfahrungen sprechen. Und dann kommt Adam dazu und sagt: 'Der Gefangene, den ihr gerade gehört habt? Das ist ein Schauspieler, und seine Geschichte ist fiktiv. Aber diese erfundene Geschichte basiert auf umfassenden Recherchen, die ich als Reporter durchgeführt habe. Und die anderen Stimmen, die ihr hört? Die sind echt.'"
Podcasts sind ein besonders intimes Medium. Meist für einen selbst über Kopfhörer oder auf dem Weg zur Arbeit über die Stereoanlage im Auto ausgespielt, kann ein narratives Audio viel immersiver sein, als es einem im Hintergrund laufenden Küchenradio gelingt. Podcasts sind so konzipiert, dass sie Zeit in Anspruch nehmen, sie sind dafür geschaffen, Zeit in Anspruch zu nehmen. Sie wollen nicht kurz geklickt, registriert und überflogen werden: Sie sind geschaffen für die Momente, in denen man sich nicht durch die Smartphone-Bildschirminhalte scrollen kann oder will. Für ein digitales Medium zeigen Podcasts eine ungewöhnliche Hingabe zu geruhsamem Aufbau und sinnlicher Atmosphäre.
Bei Pineapple verwirft man oft Stunden an Material, das aufgenommen wurde, bevor ein neuer Host eines Podcasts zu seinem oder ihrem Stil gefunden hat. Eine einstündige Episode kann Dutzende von Schnittstunden erfordern. Dennoch sind Talkshows im Vergleich zum berichtenden Erzählen, zur erzählten Reportage, deren Herstellung das Unternehmen ebenfalls im Auge hat, relativ unaufwändig und kostengünstig zu produzieren.
Bisher ist Pineapples größter Hit ein Podcast aus dem investigativen Genre, obwohl es sich bei dem untersuchten Sachverhalt nicht um einen vergessenen Mordfall handelt, sondern um etwas weit weniger Bedeutsames: Es geht um den Fitness- und Diät-Guru Richard Simmons und dessen Verschwinden aus der Öffentlichkeit. "Missing Richard Simmons" wurde von dem ehemaligen "Daily Show"-Produzenten Dan Taberski moderiert. Der Podcast spiegelt Taberskis Bemühungen wider, herauszufinden, warum Simmons, der jahrzehntelang eine ungewöhnlich innige Beziehung zu seinen Fans pflegte, plötzlich den Laden dicht machte und nicht mehr in der Öffentlichkeit auftrat.
Es war eine Ermittlung ohne Verbrechen, obgleich Taberski im Verlauf der sechs Episoden diverse Vermutungen über mögliche schändliche Gründe für Simmons' Verschwinden anstellte. Er zitierte ein Gerücht, nach dem Simmons von seiner Haushälterin kontrolliert werde, und ein weiteres, wonach Simmons sich gerade einer Geschlechtsumwandlung unterziehen würde. Keine der beiden Theorien ließ sich aufrechterhalten, befand Taberski, also suchte er weiter.
Der Podcast übernahm das investigative Format von "Serial", schien aber mehr für das Interesse einer sensationsgeilen Öffentlichkeit konzipiert. Viele der Hörer, die den Podcast-Folgen von "Missing Richard Simmons" treu blieben, hatten dennoch ein mulmiges Gefühl dabei, das Gefühl, in eine unbehagliche Komplizenschaft mit Taberskis und seiner fieberhaften Recherche geraten zu sein.
Die Originalität des Podcasts lag jedoch gerade darin, dieses Gefühl des Unbehagens zu kultivieren: Als Hörer wollte man nicht nur unbedingt wissen, was mit Simmons passiert war, sondern auch, wie Taberski mit dem ethischen Dilemma umgehen würde, einer verschwundenen Berühmtheit öffentlich so zugesetzt zu haben. Der Podcast schaffte es schnell an die Spitze der Apple Charts, und obgleich die "Times" die Sendung als "moralisch suspekt" bezeichnete, nahm die Hörerschaft weiter zu. Der Erfolg der Show kam für Pineapple überraschend, und es scheint, als hätte die Kritik an der Show eine Art Selbstkasteiung ausgelöst. Das Team überarbeitete die letzte Episode ein halbes Dutzend Mal, bevor man sich auf eine Version einigte, in der Taberski zu dem Schluss kommt, dass Simmons es doch verdient hätte, in Ruhe gelassen zu werden.
Kommerziell war der Podcast jedoch ein unbestreitbarer Erfolg: Er wurde 13 Millionen Mal heruntergeladen und Amazon will eine Fernsehserie daraus machen.
Neue Einnahmequellen
Bis der große Podcast-Boom eintrat, hatte sich eigentlich niemand dem Genre der narrativen Audios zugewandt, weil er glaubte, dass dies ein Weg zu Ruhm und Reichtum sein könnte. Der öffentliche Rundfunk in den USA, von dem viele Erzähl‑Podcaster kommen, ist nicht gewinnorientiert, sein Ziel ist es, ein Programm im Dienste einer besseren und besser informierten Gesellschaft zu gestalten.
Nun aber herrscht eine positive Aufbruchsstimmung, eine Ahnung aufregender Möglichkeiten unter denen, die sich sonst vielleicht als Blogger etcetera ausprobiert hätten: Es ist plötzlich vorstellbar, dass jemand mit dem nötigen Talent durch Podcasting seinen Lebensunterhalt bestreiten oder sogar damit reich werden kann.
Einige der erfolgreichsten Podcasts wurden vom öffentlichen Rundfunk produziert, darunter "In the Dark", eine investigative Serie, die von American Public Media hergestellt und von Madeleine Baran moderiert wird. Die Show, die bisher zwei Staffeln absolviert hat, beschäftigt sich mit Machtmissbrauch und wird dadurch motiviert und inspiriert, dass sie am Sendungsbewusstsein des öffentlichen Rundfunks festhält. Barans Augenmerk liegt weniger darauf, einen Kriminalfall zu lösen, als das Versagen des Polizeiapparats oder die Voreingenommenheit des Justizsystems offenzulegen.
Die zweite Staffel befasst sich mit dem Fall von Curtis Flowers, der seit über 20 Jahren wegen vierfachen Mordes im Gefängnis sitzt - und bis heute jede Schuld von sich weist. Bemerkenswerterweise wurde Flowers wegen der Verbrechen gleich sechsmal angeklagt, Grund war eine Reihe von fehlerhaften Prozessen und unentschiedenen Jurys. Anders als bei einer National Public Radio-Sendung wie "Morning Edition", die die Fakten auf höchst anschauliche und effiziente Art darlegt, lässt "In the Dark" den Hörer eintauchen in die ethnisch gespaltene Mississippi‑Gemeinde, in der die Morde geschahen. Baran bringt uns einzigartige Persönlichkeiten näher, darunter Odell Hallmon, Hauptzeuge der Anklage, der selbst wegen Mordes hinter Gittern sitzt. Hallmon schrieb dem Produzenten der Show Nachrichten auf einem eingeschmuggelten Telefon; erst wollte er Geld dafür, dass er redete, tat es dann doch umsonst und lieferte sowohl einen Einblick in seinen literarischen Geschmack als auch einen Widerruf seiner Aussage, nach der Flowers ihm gegenüber die Morde gestanden hatte. Das Resultat war eine eindrucksvolle vielstimmige überzeugende Anklage gegen Bezirksstaatsanwalt Doug Evans.
"In the Dark" entkräftete systematisch zehn schwache Argumente der Staatsanwaltschaft und hinterließ bei den Hörern das Gefühl, Zeugen großer Ungerechtigkeit geworden zu sein.
Podcast-Unternehmer in den USA glauben, dass der wirtschaftliche Druck mit dazu beigetragen hat, die Hörfunkprogrammgestaltung zu beleben. Pineapple Produzentin Jenna Weiss-Berman arbeitete früher bei "StoryCorps", einer Non-Profit‑Organisation, die in einem großen Audioarchiv Interviews zu den Erfahrungen gewöhnlicher Amerikaner zusammenträgt. "Im öffentlichen Rundfunk", sagt sie, "klopft man sich für Bemühungen um mehr Diversität gern auf den Rücken, aber bei BuzzFeed war es eine richtige Offenbarung: Wir sollten Podcasts für Leute machen, für die niemand Podcasts macht, weil es gut fürs Geschäft ist, weil es sich rentiert." Einer der ersten BuzzFeed-Hits war "Another Round", ein kostenloser Podcast über Popkultur, Gender und Race, der von zwei jungen schwarzen Frauen moderiert wird.
Der Werbemarkt für Podcasts
Podcasting hat Werbetreibenden einen neuen Weg eröffnet, mit demografischem Zielgruppen-Targeting Konsumenten zu erreichen. Viele Podcasts beinhalten mittlerweile vom Moderator verlesene Werbezusätze, die oft einen Rabattcode für ein Produkt oder eine Dienstleistung enthalten. Für Hörer, die eine Trennung zwischen Werbung und Sendungsinhalt gewöhnt sind, kann diese Verwischung der Grenzen sehr irritierend sein.
Podcast-Werbung ist immer noch eine relativ neue Wissenschaft. Produzenten und Werbetreibende haben einen schnellen Überblick, wie oft eine Show heruntergeladen wurde, aber es ist nicht so leicht festzustellen, wie viele Leute die Sendung auch ganz gehört haben. Der Werbemarkt setzt Podcaster unter Druck, Content zu erschaffen, der Millionen von Hörern anzieht, was nicht unbedingt eine Garantie für starke oder feinsinnige Inhalte ist. Neue Möglichkeiten der Podcast‑Monetarisierung werden erforscht, darunter ein kostenpflichtiges Abonnement-Modell.
"This American Life" - die Radiorevolution
Die öffentlich-rechtliche Hörfunksendung, die den größten Einfluss auf das erzählende Podcasting hatte, ist unbestritten "This American Life", Sie debütierte 1995 und wurde schon im Jahr darauf von öffentlichen Stationen des National Public Radio im ganzen Land präsentiert. Zahlreiche Produzenten und Moderatoren brachte "This American Life" zum Podcasting, allen voran Gimlet Medias-Geschäftsführer Alex Blumberg, dessen erste Show "Startup" ein unterhaltsamer und aufschlussreicher Meta-Podcast über das Unterfangen war, den öffentlichen Hörfunk zu verlassen, um Podcast-Unternehmer zu werden.
"This American Life" wird wöchentlich ausgestrahlt, von Ira Glass moderiert und besteht vor allem aus Reportage-Elementen, die locker durch ein gemeinsames Thema verbunden sind. Die Sendung hat Art und Weise, wie Geschichten im Radio erzählt werden, revolutioniert: zum einen mit der Idee eines persönlicheren, nicht unfehlbareren Erzählers und zum anderen durch der Einführung einer Erzählstruktur - aus Exposition, Komplikation, Epiphanie und Auflösung, ein Konzept, das sich so fest etabliert hat, dass es nicht mehr wegzudenken ist.
Zu den akustischen Merkmalen und verbalen Eigenarten von Glass und seinem Team gehören die langen Pausen, die exzentrische Vortragsweise, die Angewohnheit, jeden Satz wie eine Frage enden zu lassen. Sie haben sich inzwischen so durchgesetzt, dass es schwer fällt, sich daran zu erinnern, wie radikal neu sie einst klangen. Mittlerweile ist es zu einem der Podcast-Klischees geworden, dass ein Moderator sich, wie bewandert er auch in einem Thema sein mag, betont naiv gibt, und dass das Audio immer auch Basales und Banales des Berichterstattungsprozesses beinhaltet.
Die Entscheidung, den Reportageprozess - und manchmal auch die Schwächen und Misserfolge des Reporters - zu akzentuieren, wurde schon bei der ersten Konzeption des von der Times produzierten News-Podcast "The Daily" kurz nach der Präsidentschaftswahl 2016 getroffen.
"Beim traditionellen Journalismus geht es darum, dem Publikum ein fertiges Produkt zu liefern", sagt der Podcastpresenter Michael Barbaro. "Vertrauen Sie uns und unserer allwissenden Kompetenz, die wir uns erworben haben. Podcasts sind aber per Definition ein ungeschützteres, transparenteres Medium. Man hört es, wenn der Reporter unsicher ist."
In der Podcast-Ära können Reporter ihre Glaubwürdigkeit erhöhen, indem sie die Fassade der glänzenden Kompetenz bröckeln lassen.
"S-Town" - der Radioroman
"This American Life", das mittlerweile auf mehr als 500 Sendern ausgestrahlt wird, macht auch auf dem Podcast-Markt eine gute Figur und findet sich regelmäßig unter den am häufigsten heruntergeladenen Shows in den USA. Neben "Serial" von Sarah Koenig produzierte "This American Life" auch "S-Town", einen weiteren Meilenstein in der Geschichte der Erzähl-Podcasts. "S-Town" oder "Shit Town", wie es im Podcast heißt, wurde 2017 ausgestrahlt und von Brian Reed moderiert. Es schien zunächst nur ein weiterer düsterer Bericht über ein Verbrechen und die dazugehörigen Ermittlungen zu sein - ein vermeintlicher Mord in Alabama war angeblich von der lokalen Polizei vertuscht worden. Reeds Recherchen wurden angeregt von einem Hörer des öffentlichen Rundfunks, der einen Hinweis geschickt hatte in der Hoffnung, dass ein Reporter den Fall lösen könnte. Diesmal wurde jedoch der Hörer - der autodidaktische Uhrmacher John B. McLemore aus Woodstock, Alabama - zum Mittelpunkt der Berichterstattung.
Die Serie dokumentiert in sieben "Kapiteln" McLemores barockes kleines Universum, das unter anderem ein ausgefeiltes, von ihm selbst entworfenes Heckenlabyrinth umfasst sowie ein Tattoo-Studio in der Nachbarschaft, dem McLemore einen engen Freundeskreis und einen reich verzierten Oberkörper zu verdanken hat. Die Serie bietet Brian Reeds Hörern auch die Möglichkeit, McLemore besser kennen zu lernen, indem sie lange Ausschnitte aus Reeds Telefonaten mit ihm zu Gehör bringt.
McLemore lässt sich über seine Besessenheit mit dem Klimawandel aus, und über seine Verachtung für die Engstirnigkeit, die in seinem Heimatort vorherrscht. Die Gespräche machen seine Einsamkeit und Verzweiflung auf kaum erträgliche Weise spürbar. Es kommt wie ein Schock, wenn auch nicht als Überraschung, als Reed am Ende von Kapitel 2 erfährt, dass McLemore Selbstmord begangen hat. Die restlichen fünf Episoden befassen sich nicht mit dem mutmaßlichen Mord, der, wie sich herausstellt, nie stattgefunden hat, sondern mit den Umständen, die zu McLemores Tod führten und mit dem Versuch auszuloten, welche Wirkung sein Ableben auf die Menschen in seinem Umfeld hatte.
"S-Town" ist beklemmend: Es wird schnell deutlich, dass McLemore den Radioreporter Reed aus purer Verzweiflung kontaktiert haben muss. Die Geschichte, die Reed schließlich erzählt, ist sicherlich nicht die, um die McLemore ihn bat, und sie beinhaltet eine ausführliche Erörterung von McLemores sexuellen Begegnungen mit Männern - ein Aspekt seines Lebens, den McLemore immer für sich behalten hatte.
Voyeuristisches Vergnügen?
Wie bei "Missing Richard Simmons" unterstellten einige Kommentatoren auch "S‑Town", eine verletzliche und schutzlose Person ausgenutzt zu haben. Der Guardian schieb, dass Reed und seine Produzenten "mit einer gewissen Arroganz davon ausgehen, dass dies Reeds Geschichte sei und nicht McLemores, dessen Qualen zu unserem voyeuristischen Vergnügen herhalten müssen." McLemores Nachlassverwalter verklagten die Produzenten von "S-Town" auf Straf- und Entschädigungszahlungen und behaupteten, McLemore habe nicht zugestimmt, dass seine Lebensgeschichte in der Art und Weise aufbereitet würde, wie Reed dies getan habe.
Reeds Schilderung hat, im Gegensatz zum Geplauder der meisten Podcasts, oft die Dichte literarischer Texte, und seine Beobachtungen sind die eines Schriftstellers. Von den mehr als einer halben Million Sendungen, die in der kurzen Geschichte des Podcastings veröffentlicht wurden, dürfte "S-Town" am ehesten als Kunstwerk Bestand haben.
Konkurrierende Informationsströme
Es überrascht nicht, dass mehreren prominenten Podcasts vorgeworfen wurde, nicht nur nachlässig mit ihren Geschichten umgegangen zu sein, sondern auch ihre Geschichten falsch erzählt zu haben. Einige Hörer der ersten Staffel von "Serial" hielten es für leichtsinnig, dass Sarah Koenig so viele Zweifel an Syeds Verurteilung aufkommen ließ, ohne zu einer glaubwürdigen alternativen Erklärung für den Mord zu gelangen.
Brian Reed von "S-Town" wurde als homophob bezeichnet, weil er McLemores Geschichte der flüchtigen Techtelmechtel und das Fehlen eines Lebenspartners als etwas Bedauernswertes dargestellt hätte. Und weil er sich heterosexueller Wertvorstellungen bediene, insbesondere dem augenscheinlichen Verlangen nach monogamen Zweierbeziehungen, um die queere Lebensweise seines Protagonisten zu verstehen.
In den 1930er-Jahren lebte Walter Benjamin, der vor den Nazis geflohen war, im Exil in Paris und seine Schriften aus dieser Zeit zeugen von einer Skepsis gegenüber der objektiven Autorität von Informationen. Er konnte nicht ahnen, wie sehr sich eine solche Skepsis in unserer Zeit durch neue Medienformen ausbreiten würde. "Fake News" ist zu einem Schlachtruf für Präsident Trump und seine Anhänger geworden, obgleich Trumps Kritiker Tausende von Fällen dokumentiert haben, in denen er selbst gelogen hat. In diesem Zusammenhang scheint sich die "Information" in dem Sinne, wie Benjamin den Begriff benutzte, nicht mehr vom Geschichtenerzählen zu unterscheiden. In der gespaltenen amerikanischen Gesellschaft gibt es konkurrierende Informationsströme: die Informationen, die der Sender CNN anbietet unterscheiden sich so gravierend von denen, die Fox News verbreitet, dass es am Ende so ist: einer Seite zu glauben heißt, auch davon überzeugt zu sein, dass die andere Seite eine Geschichte beziehungsweise eine Lüge erzählt.