Archiv

Neues Fachmagazin
Mehr Verständnis für Autismus schaffen

Zwei von 100 Menschen sind Autisten. Doch was Autismus ist und wie Menschen damit leben, wissen viele nicht. In Medien wird die Entwicklungsstörung oft klischeehaft dargestellt. Das will das Magazin "Autismus verstehen" ändern. Einer der beiden Chefredakteure hat selbst das Asperger-Syndrom.

Von Ulrike Mix | 18.10.2018
    Grafik: Geometrische Formen wirbeln um depressive Frau herum
    Autisten nehmen ihre Umwelt anders wahr. Für viele sind etwa laute Geräusche sehr anstrengend. (imago stock&people)
    Andreas Croonenbroeck erzählt lebhaft von dem Thema, das ihn schon sein ganzes Leben lang beschäftigt: Autismus. Er ist einer der beiden Chefredakteure von "Autismus verstehen" - und hat das Asperger-Syndrom. Eine Form von Autismus. Im Gespräch merke ich davon nichts. Er hat gelernt, sich so zu verhalten, dass er "normal" auf andere wirkt: Er hält Augenkontakt – was Autisten schwer fällt. Er lächelt – was viele Autisten kaum tun. Säßen wir nicht in einem ruhigen Zimmer, wäre Andreas Croonenbroeck aber möglicherweise überfordert.
    "Es kann sein, dass wenn ich jetzt mit ihnen in einem Café oder einem Restaurant sitze und mich mit ihnen unterhalte, dass alles, was in diesem Restaurant passiert - sei es das Rattern von der Kaffeemaschine oder das Gespräch am zehnten Tisch weiter hinten - alles genau gleich laut bei mir ankommt wie unser Gespräch, weil mir einfach eine gewisse Filterfunktion fehlt, dass mir einfach mein Gehirn nicht sagen kann, das was jetzt unwichtig ist, wird ausgeblendet und einfach ganz leise, sondern es ist alles gleich laut."
    Eine angeborene Verhaltensstörung
    Einen solchen Schwall an ungefilterten Reizen zu verarbeiten ist kräftezehrend. Nach einem solchen Gespräch kann eine tagelanger Erschöpfungszustand eintreten.
    Autismus ist eine angeborene Verhaltensstörung. Als Folge entwickeln viele Betroffene echte Krankheiten – etwa Depressionen. Andere haben Mangelerscheinungen, weil sie nur bestimmte Nahrung essen können.
    Der 43 Jahre alte Andreas Croonenbroeck weiß seit fünf Jahren, dass er das Asperger Syndrom hat. Wie viele andere fühlte er sich mit der Diagnose allein gelassen.
    "Das Thema Autismus ist eigentlich in der Gesellschaft noch viel zu wenig vorhanden und viel zu wenig präsent – auch in den Medien nicht. Und wenn es mal präsent ist, ist es häufig klischeebehaftet, auch häufig mit einem sehr negativen Unterton. Von daher ist da noch sehr, sehr viel Nachholbedarf, um einfach das Thema ins rechte Licht zu rücken."
    Das will das Magazin "Autismus verstehen" tun, erklärt der zweite Chefredakteur Christoph Ammon, der kein Autist ist. Er betreut seit Jahren ehrenamtlich eine autistische Selbsthilfegruppe.
    Im Moment hat das Magazin eine Auflage von 3000 Stück. Finanziert durch Werbeeinnahmen, Spenden, den Verein und den Verkauf an die Abonnenten.
    "Die Mehrzahl sind Privatleute, die das Magazin bestellt haben. Aber es sind natürlich auch Institutionen, soziale Einrichtungen und Verbände oder Kliniken oder Arztpraxen, die sind natürlich auch dabei."
    Für Autisten und Nicht-Autisten interessant sein
    Wichtig fände Christoph Ammon auch "dass zum Beispiel in den Schulen dieses Magazin in jedem Lehrerzimmer zu finden wäre und das ist leider nicht der Fall. Also die Politik hält sich da sehr dramatisch zurück."
    Inhaltlich will das Magazin sowohl für Autisten als auch für Nicht-Autisten interessant sein.
    Im aktuellen Heft geht es um Freundschaften und Beziehungen bei Autisten. Teils anonym, teils mit Namen kommen Menschen zu Wort, die beschreiben, welche Hürden sie im Zusammenleben mit anderen erleben.
    Ein international anerkannter Fachmann erzählt, welche neuen Erkenntnisse es in der Autismusforschung gibt. In einem anderen Artikel erfährt man, dass LIDL in Irland jetzt in all seinen Filialen einen Einkaufsabend für Autisten eingeführt hat – Einkaufen in Ruhe – ohne belästigende Musik oder Werbung und bei gedimmtem Licht.
    "Wir versuchen in jedem Heft, Experten zu gewinnen, und darüber hinaus natürlich auch Eindrücke von autistischen Menschen, die über ihr Leben schreiben oder auch von Müttern, Eltern, wie auch immer. Und das ist einfach dieser Themenmix, den wir jedes Mal aufs Neue versuchen zu definieren und eine Mischung zu finden, die eben alle Ebenen anspricht", erläutert Andreas Croonenbroeck. Er ist als Grafiker auch für das Layout verantwortlich. Das Heft hat viele Bilder, ist aber nicht überfrachtet. Die Bilder sind einfach und passen zu den Texten: In einem reichen sich zwei Menschen über eine Linie hinweg die Hände – der Text erzählt von vorsichtigen Annäherungsversuchen zwischen einem Autisten und einer Nicht-Autistin.
    Große Potenziale und Spezialinteressen
    Themen für künftige Hefte gibt es viele. Zum Beispiel, dass 80 Prozent aller Autisten in Deutschland Hartz IV beziehen, weil viele sich in der Schule schwer tun, oft keine guten Abschlüsse machen und später keinen Job finden. Dabei haben Autisten laut Andreas Croonenbroeck oft große Potenziale und interessante Spezialinteressen. Ein Werbepartner des Magazins habe das erkannt: Die Softwarefirma SAP. Die habe eine Abteilung, die gezielt Autisten anwerbe.
    "Das sind nicht nur IT-Positionen, das kann querbeet sein, wenn die Interessensgebiete der Autisten mit dem übereinstimmen, was da an Anforderungen ist. Das heißt SAP ist eines der wenigen Unternehmen in Deutschland, das sich gezielt um die Anwerbung autistischer Menschen kümmert und erkannt hat, dass autistische Menschen einfach ein großes Potential für den Arbeitsmarkt haben."