Stefan Heinlein: Gerne wird dem Gesetzgeber vorgeworfen, Politik allzu kompliziert zu verpacken, mit wahren Wortungetümen zu hantieren, die Bürger und Verbraucher meist ratlos zu machen. Franziska Giffey arbeitet gegen diesen Trend; sie versucht, ihre Vorhaben möglichst griffig zu formulieren, einfach und simpel.
Dem bereits beschlossenen "Gute-Kita-Gesetz" soll jetzt das "Starke-Familien-Gesetz" folgen. Die Eckpunkte wurden in Berlin jetzt präsentiert. Es folgt der Weg durch Bundestag und Bundesrat.
Am Telefon begrüße ich jetzt den Hauptgeschäftsführer des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, Ulrich Schneider. Guten Morgen, Herr Schneider!
Ulrich Schneider: Schönen guten Morgen. Hallo!
Heinlein: Wie stark ist für Sie das Gesetz für schwache Familien?
Schneider: Ich denke mal, das Stärkste an dem Gesetz ist wahrscheinlich der Titel. Das was dann folgt in dem Gesetz selber, sind ja, ich sage mal, nicht die Riesenbeträge. Wenn man sich das anschaut: Beim Mittagessen, wenn man das überhaupt bekommt in der Schule, braucht der Euro nicht mehr gezahlt werden.
Die Selbstverständlichkeit wird geregelt, dass ein Kind dann auch den Schulbus kostenlos nutzen kann, wenn es arm ist und wenn es den Schulbus braucht. Das sind ja alles jetzt nicht die Riesenwürfe.
Und wenn man sich das dritte anschaut, was wirklich sehr schön ist, dass die Zuschüsse zu den Schulkosten von 100 auf 150 Euro im Jahr erhöht werden, das ist schön für die Familien, das ist auch sehr gut.
Aber wir wissen aus genug wissenschaftlichen Untersuchungen, dass die Schulkosten in der Regel bei 200 bis 400 Euro im Jahr liegen. Das heißt, es sind eigentlich eher Kleinigkeiten, die da geregelt werden. Der große Wurf ist das sicherlich nicht.
Und wenn man sich den Kinderzuschlag anschaut, über den ja gerade berichtet worden ist, diese Erhöhung von 170 auf 185 Euro, der sich ja an die Familien wendet, bei denen die Eltern mit ihrem Arbeitseinkommen zwar selber über die Runden kämen, aber wegen des Kindes in Hartz IV fallen würden, mit dieser Maßnahme wird von den zwei Millionen Kindern, die jetzt in Hartz IV sind, kaum eines aus Hartz IV rausgeholt.
Denn nehmen Sie eine alleinerziehende Familie, von der vorhin auch die Rede war. Wenn hier die Mutter - meistens sind es ja Frauen - keinen so großen Verdienst hat und auch nur halbtags arbeiten kann wegen der Kinder, dann wird das nicht reichen, dass sie diesen Kinderzuschlag bekommt. Sie wird in Hartz IV bleiben, denn diese Regelung ist ungeheuer kompliziert.
Bestimmte Höchstgrenzen darf man nicht unterschreiten. Bestimmte Niedriggrenzen muss man aber erreichen mit dem Einkommen. Dann gibt es Freibeträge, dann gibt es Anrechnungsregelungen. Da blickt kaum ein Mensch durch.
"Da wurde eine Riesen-Bürokratie für nichts losgetreten"
Heinlein: Sehr schwierig, sehr bürokratisch. Darüber müssen wir gleich noch reden, Herr Schneider. Ich würde gerne auf den ersten Punkt, den Sie erwähnt haben, eingehen: das kostenlose Mittagessen für Schüler. Das ist sehr einfach zu verstehen, das ist nicht kompliziert. Da sollen künftig die Eigenanteile für bedürftige Familien wegfallen.
Kein Kind aus armen Verhältnissen muss Geld haben, um dann mittags in der Schule etwas Warmes in den Magen zu bekommen. Was ist denn daran falsch? Da wäre es doch auch mal Zeit zu sagen, ja, das ist richtig, höchste Zeit, dass das passiert.
Schneider: Das sind die Dinge, wo ich sagen würde, das ist selbstverständlich. So war das ja vor Einführung des Bildungs- und Teilhabepaketes in aller Regel dort, wo Essen ausgereicht wird, an den Schulen ja auch schon. Die, die Hartz IV bezogen, da haben die meisten Kommunen und Schulen gesagt, die nehmen wir so mit.
Erst mit Einführung des Bildungs- und Teilhabepaketes wurde gesagt, nein, die müssen aber mindestens einen Euro zahlen, und damit wurde eine Riesen-Bürokratie für nichts losgetreten. Das wird jetzt endlich wieder einkassiert.
Aber ich sage mal so: Das ist wie mit dem Schulbus, ist wie mit dem Essen. Das sind ja eigentlich alles Selbstverständlichkeiten. Wenn wir in Deutschland eine Schulpflicht haben, richtigerweise, und richtigerweise sagen, auch arme Kinder müssen und sollen zur Schule, das ist deren Chance, dann muss man auch dafür sorgen, dass da ein bisschen Essen ist, dann sollte auch da was zu Trinken sein und frische Luft.
Und dass die Kinder da hinkommen mit einem Schulbus, sollte eigentlich auch selbstverständlich sein. Das ist, was uns ein bisschen aufstößt, dieser Riesen-Titel "starke Familien" für Dinge, wo alle sagen, ja sicher!
"Das wird ein Gesetz sein, was zu großen Teilen ins Leere läuft"
Heinlein: Stört Sie der Titel, oder stört Sie der Inhalt?
Schneider: Beim Inhalt stört uns, dass dieser große Bürokratieabbau, den wir wirklich bräuchten, dass der nicht stattfindet, und das hat auch verheerende Folgen. Die eine Folge ist - nehmen wir diesen Kinderzuschlag, von dem die Rede war. Richtig ist - da hat Frau Giffey völlig recht -, der Kreis der Anspruchsberechtigten, die die Leistung beantragen könnten, wird erhöht.
Was sie aber nicht erwähnt ist, dass auch heute bereits lediglich zwischen 30 und 40 Prozent, die die Leistung kriegen könnten, überhaupt sie beantragen, weil es so kompliziert ist. Und wenn man sich anschaut - auch dieses ist ja eigentlich ein Kern dieses Bildungs- und Teilhabepakets - die Leistungen für Teilhabe an Sport, Musikveranstaltungen, Musikunterricht, Geselligkeit, Jugendverbände; da bekommen die Kinder, die arm sind, einen Gutschein im Monat von zehn Euro.
Damit können sie wirklich nichts anfangen. Das ist ungeheuer kompliziert. Dies nehmen nur 15 Prozent der betroffenen armen Kinder überhaupt in Anspruch. Daran ändert sich jetzt nichts! Das bleibt so kompliziert und es wird ein Gesetz sein, was weiterhin zu großen Teilen ins Leere läuft.
Heinlein: Es bleibt so kompliziert. Sie und andere, auch der Kinderschutzbund kritisiert ja diese Bürokratie, dieses Bürokratiemonster. Das ist sehr wohlfeil, denn - Stichwort Sozialmissbrauch - ist es nicht richtig, wenn Beamte Anträge tatsächlich jedes Mal prüfen, bevor sie Geld zahlen? Das verhindert diesen Missbrauch, diesen Sozialmissbrauch, den es ja gibt.
Schneider: Aber man muss immer die Verhältnismäßigkeit wahren. Wenn man sich anschaut, dass das sogenannte Bildungs- und Teilhabepaket mit den Gutscheinen, die ich ansprach, Verwaltungskosten hat, die fast genauso hoch sind wie die Leistungen, die ausgezahlt werden - rund 50 Prozent geht für Verwaltung drauf -, dann ist das nicht mehr verhältnismäßig und dann würde ich sagen als Steuerzahler, dann lieber mal einen Zehn-Euro-Gutschein zu viel ausgegeben, wenn man da überhaupt von Missbrauch reden will.
Wenn ein Kind, was weiß ich, in zwei Vereinen drin ist und nicht nur in einem Verein, dann lieber einmal zu viel, anstatt nur noch Beamte zu bezahlen.
Heinlein: Glauben Sie, dass das die Eltern genauso sehen, die für das Mittagessen und den Schulbus ihrer Kinder bezahlen müssen?
Schneider: Ich denke schon. Ich denke, das ist ja etwas, was in unserem Sozialstaat Grundlage ist. Die, die sich nicht helfen können, die sollen auch Hilfen bekommen. Es geht hier ja in der Tat um Familien, wo auch gearbeitet wird, wo die Menschen erwerbstätig sind und wo sie trotzdem arm sind. Ich denke, so neidisch sind diejenigen, die gut über den Monat kommen, nicht, dass sie den Armen nicht mal dieses Wenige gönnen.
"Wir sagen dann, unterzieht es den Steuern"
Heinlein: Herr Schneider, wenn wir mal den Blick von Deutschland lösen, über die Grenzen hinaus, nach Europa blicken, in die EU, wo wird es denn besser gemacht aus Ihrer Sicht, die Unterstützung und Förderung armer, einkommensschwacher Familien?
Schneider: Die Beispiele sind bekannt. Wir haben natürlich in den skandinavischen Staaten vieles, was hier vorbildlicher läuft. Wenn man sich anschaut die Schulbetreuung, die ganzheitliche Schulbetreuung, wenn man sich anschaut, dass hier viele Leistungen wie selbstverständlich erst mal fließen, aber dann natürlich auch mit einer deutlich höheren Steuerquote als in Deutschland, muss man sehen. Da tut sich Deutschland ja ungeheuer schwer, wenn es ans Teilen, geschweige ans Umverteilen geht.
Wenn wir da nicht so zaghaft wären, dann ließen sich ja einfache Möglichkeiten denken. Wir plädieren zum Beispiel mit dem Kinderschutzbund und anderen zusammen für ein einheitliches, einfaches, bedarfsdeckendes, existenzsicherndes Kindergeld. Wir sagen, jetzt macht ein richtiges Kindergeld, und wir sprechen hier von etwas über 600 Euro im Monat, und zwar für alle Kinder ganz einfach auszahlen. Das ist existenzsichernd.
Heinlein: Auszahlen auch für Reiche?
Schneider: Auch für Reiche, für alle. Dann kommt aber der Pfiff! Wir sagen dann, unterzieht es den Steuern. Das heißt: Der, der gar nichts hat, der auch keine Steuern zahlt, der kann die 600 Euro behalten. Dann wäre kein Kind mehr auf Hartz IV angewiesen. Derjenige, der ein gutes Einkommen hat und der deshalb viel Steuern zahlen muss, der muss dann auch viel abgeben von diesem Kindergeld, das dann versteuert wird.
Wir würden sagen: Dann hätten wir in der Tat den Familienlastenausgleich vom Kopf auf die Füße gestellt. Der, der am meisten braucht, bekommt am meisten. Wir hätten den einfach gemacht, man braucht nicht mehr tausend Anträge stellen für Kleinstbeträge und es würde wirksam sein. Wir würden Kinderarmut endlich bekämpfen, und das wäre dann in der Tat ein "starkes Familiengesetz".
Heinlein: Im Deutschlandfunk heute Morgen der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, Ulrich Schneider. Herr Schneider, herzlichen Dank für das Gespräch und auf Wiederhören.
Schneider: Nichts zu danken. Tschüss!
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