Die EU-Grenzschutzagentur Frontex steht seit Monaten im Verdacht, an Menschenrechtsverletzungen bei ihrer Arbeit an der EU-Außengrenze beteiligt zu sein. Es geht dabei um illegale und gewaltsame Pushbacks von Flüchtlingsbooten. Zudem hat die EU-Anti-Korruptionsbehörde OLAF ein Ermittlungsverfahren gegen Frontex eingeleitet, um etwa interne Beschwerden zu untersuchen. Diese Vorwürfe seien ernst zu nehmen, findet Jochen Oltmer, Migrationsforscher an der Universität Osnabrück. Frontex habe ein Transparenz-Problem.
Neues Mandat passe zum Entwicklungstrend von Frontex
Dass sich Frontex in Zukunft zu einer Rückführungsagentur entwickeln soll, wie es der griechische, für Migration zuständige EU-Kommissar Margaritis Schinas beschreibt, passe zur bisherigen Entwicklung der Agentur. Davon ist Migrationsforscher Jochen Oltmer überzeugt: "Die EU-Kommission möchte eben eine eigene Grenzpolizei im Laufe der Zeit aufbauen."
Seit Jahren messe sie in ihrem Programm Frontex zunehmend Gewicht bei. Das zeigt sich Oltmer zufolge aktuell an der geplanten Aufstockung von Budget und Personal für die Agentur.
Der Forscher von der Universität Osnabrück ist generell skeptisch, ob überhaupt Bedarf an dem neuen Mandat für Frontex besteht. Bereits jetzt gebe es einige Programme und Konzepte, um Migrantinnen und Migranten ohne Bleiberecht in der EU freiwillig in Herkunftsstaaten zurückzuführen. In Deutschland sind dabei etwa die Bundesländer sowie Kommunen, aber auch Wohlfahrtsverbände beteiligt. Ob Frontex dazu beitragen könnte, diese Ansätze zu vereinheitlichen, sieht der Migrationsexperte kritisch.
Generell gilt laut Oltmer: Es sei schwierig, die bisherigen europäischen Programme zur Rückführung zu bewerten. Seit Jahrzehnten gebe es nur wenige Erkenntnisse darüber, wie es den Menschen nach der Rückführung in Herkunftsstaaten gehe. In diesem Punkt sieht er Verbesserungsbedarf.
Das Interview in voller Länge:
Christoph Schäfer: Frontex kennen wir als umstrittene EU-Grenzschutzagentur. Herr Oltmer, ist das eine gute Voraussetzung, um künftig glaubwürdig als Rückführungsagentur tätig zu sein?
Jochen Oltmer: Schwierig. Sie haben gerade diese Vorwürfe, diese Pushback-Vorwürfe angesprochen. Es gibt Korruptionsvorwürfe. Wir sehen, dass es jetzt, zuletzt im März 2021, einen Abschlussbericht, einen internen Abschlussbericht, über diese Pushback-Vorwürfe gegeben hat. Dort konnten nicht alle Vorwürfe ausgeräumt werden. Auch der Frontex-Verwaltungsrat, also der Aufsichtsrat gewissermaßen, spricht von Unzulänglichkeiten und zeigt sich besorgt.
Man kann den Eindruck haben, dass Frontex ein Transparenz-Problem hat, nicht zuletzt auch deshalb ein Transparenz Problem, weil diese Grenzsicherung in den vergangenen Jahren ein immens wachsender Markt geworden ist, wo es große ökonomische Interessen gibt. Es geht um Satelliten, große Datenbanken, viel Lobbyarbeit und das Korruptionsrisiko in diesem Zusammenhang ist gewiss nicht gering. Von daher sind diese Vorwürfe, die da entwickelt worden sind, gewiss ernst zu nehmen. Frontex, noch einmal, hat ein Intransparenz-Problem.
Oltmer: Frontex-Etat wird sich verdreifachen
Schäfer: Das heißt kurz, Sie sind skeptisch, was das neue Mandat für Frontex anbelangt.
Oltmer: Ja, bin ich. Zumal nicht klar ist, zumindest aus den vielen Papieren, die jetzt umgehen, mir nicht klar geworden ist, warum gerade Frontex diese Aufgabe im Kontext dieser Rückführung übernehmen soll. Die EU-Kommission macht deutlich in dem Papier, das da gestern vorgestellt worden ist, dass es innerhalb der EU sehr viele unterschiedliche Vorstellungen darüber gibt, wie diese unterstützte Rückführung laufen soll. Es gibt sehr viele unterschiedliche Behörden, es gibt diverse unterschiedliche Programme. Und jetzt soll Frontex mit der Aufgabe betraut werden, erst einmal zu schauen, was es an Programmen gibt und wie man damit umgehen soll.
Ich hätte gesagt, man sollte erstmal vonseiten der EU-Kommission überprüfen: Was gibt es an Programmen, was gibt es an Konzepten? Dann hätte man überlegen können, welche Agentur, welche Einrichtung man überhaupt mit solchen Aufgaben betrauen möchte oder ob man nicht vielleicht es bei dem System, das bislang besteht, belassen sollte, dass nämlich die einzelnen Mitgliedsstaaten sich um die Frage kümmern, wie Rückführungspolitik betrieben werden soll.
Schäfer: Sie haben vorhin auch erwähnt, die illegalen Pushback-Vorwürfe gegen Frontex, die EU-Anti-Korruptionsbehörde OLAF hat ein Verfahren gegen die Agentur begonnen. Wieso, Herr Oltmer, hat sich die EU-Kommission dennoch dafür entschieden, Frontex mit mehr Kompetenzen auszustatten?
Oltmer: Ja, also das ist dann tatsächlich ein Trend, den wir seit längerem sehen. Wir haben ja die Situation inzwischen schon seit mehreren Jahrzehnten, dass wir eine europäische Außengrenze haben. Und die EU-Kommission möchte eben eine eigene Grenzpolizei im Laufe der Zeit aufbauen, die einen Beitrag dazu leistet, dass gewisse Unzulänglichkeiten, die die EU-Kommission sieht, im Blick auf das jeweilige einzelstaatliche Verhalten in Hinsicht auf den Grenzschutz, dass das abgestellt wird. Und wir sehen seit 2015 insbesondere kommt Frontex im Programm der EU-Kommission ein immer stärkeres Gewicht zu.
Der Etat soll sich in den nächsten Jahren verdreifachen. 10.000 Frontex Beamte sollen eingestellt werden, und zwar schneller als ursprünglich geplant. Also Frontex ist sozusagen das Instrument, auf das die EU-Kommission vor allem setzt, um eben einen Grenzschutz zu entwickeln, der bestimmte einzelstaatliche Unzulänglichkeiten ausräumt.
"Wir wissen sehr wenig über die bestehenden Programme"
Schäfer: Sie haben vorhin schon erwähnt, es gibt andere Konzepte und Programme. Welche Akteure sind denn bereits tätig gewesen, wenn es darum geht, Migrantinnen und Migranten ohne Asyl in der EU freiwillig in ihre Heimatländer zurück zu begleiten?
Oltmer: Naja, also zunächst einmal ist es tatsächlich die Aufgabe der Einzelstaaten. Die Organisationen in Einzelstaaten ist total unterschiedlich. Es gibt zum Teil Agenturen, die für den gesamten Staat zuständig sind. Es gibt in der Bundesrepublik beispielsweise sehr viele unterschiedliche Akteure. Die Bundesländer sind zuständig, die Kommunen haben Zuständigkeit. Die Beratungen in diesem Zusammenhang, die ja von der EU-Kommission auch sehr stark in den Vordergrund gehoben wurde, läuft zum Teil über freie Träger, über Wohlfahrtsverbände.
Wir haben eine ganze Anzahl von verschiedenen Akteuren, das ist ein ziemlich undurchschaubares Gebilde, das sich da in diesem Zusammenhang entwickelt hat. Aber man muss auch sehen, es gibt auch sehr viele unterschiedliche Fälle in diesem Zusammenhang. Es gibt sehr viele unterschiedliche Behörden. Und ob jetzt wirklich die Perspektive einer Vereinheitlichung, die hier angestrebt wird, der Königsweg ist, ist durchaus sehr umstritten. Also aus meiner Sicht käme es darauf an zu schauen, was könnten unterschiedliche Wege sein.
Schäfer: Herr Oltmer, ein unübersichtliches Feld, sagen Sie damit schon. Wir hatten denn bislang bei der freiwilligen Rückkehr die Zusammenarbeit mit den Herkunftsländern funktioniert?
Oltmer: Ja, das ist eine Frage, die Einzelnen, die sehr wichtig ist, die einzelnen Herkunftsländer, stellen sich sehr unterschiedlich. Das ist der eine Punkt, der zweite Punkt, der in diesem Zusammenhang sicherlich auch sehr wichtig ist: Wir wissen faktisch über die bestehenden Programme, die zum Teil seit den 1990er Jahren bestehen, relativ wenig. Das heißt also, Menschen werden in diesem Zusammenhang zurückgeführt, kehren zurück mit Unterstützung. Und dann sind sie weg.
Das heißt, inwieweit diese Programme erfolgreich sind, können wir gar nicht sagen. Das heißt, wir haben es mit Programmen zu tun, die seit langem betrieben werden, von denen nur behauptet wird, sie würden funktionieren. Auch ein wichtiger Aspekt aus meiner Sicht. Zunächst einmal überprüft werden müsste.
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