Am Anfang steht eine Art Begriffserklärung:
"'Pop' ist ein kurzes und prägnantes Wort, ein angenehmes three letter word. Sein Sinn erschließt sich schnell. 'Pop' ist die Kurzfassung für 'populär'".
So beginnt Jochen Hörisch sein neues Buch, das laut Untertitel vielversprechend das "Spannungsverhältnis zwischen U- und E-Musik" thematisieren soll. Es dauert einige Seiten, bis Hörisch diese Trennlinie erstmals genauer in den Blick nimmt:
"E-Musik und Pop-Musik […] haben sich etwas zu sagen, selbst und gerade dann, wenn sie sich wechselseitig zu ignorieren scheinen."
"Zauberflöte" mit 'Pop-Charakter'
Was aber haben sie sich zu sagen? Ein Leser, der hier auf eine detailliertere Betrachtung hofft, wird enttäuscht. Stattdessen flüchtet sich der Autor in verallgemeinernde Formulierungen, bis er schließlich Mozart als wichtigen Kronzeugen anführt, der mit seinen Werken unmittelbar die U-Musik beeinflusst hat. Dass Mozart selbst von Volks-Musik, der damaligen Pop-Musik, inspiriert wurde, erwähnt Hörisch mit keinem Wort. Die "Zauberflöte" nennt er pauschal ein "kokett auf Naivität und Volkstümlichkeit angelegtes Singspiel", bevor er die Behauptung aufstellt: "viele Arien und Duette aus der Zauberflöte haben Pop-Charakter" - ohne das werkbezogen an einem Detail nachzuweisen. Bereits nach wenigen Seiten also zeigt sich, auf welch banalem Reflexions-Niveau sich die Ausführungen bewegen.
Musik: Wolfgang Amadeus Mozart, Die Zauberflöte (Harmoniemusik)
Das Buch besteht aus fünf essayartigen Kapiteln, mit teils reißerischen Überschriften wie zum Beispiel:
Liebe, Eros und Sex – Die Gewalt der Leidenschaft und der Musik
Oder:
Totengespräche – Franz Schubert trifft John Lennon
In diesem Kapitel bringt Hörisch ein treffendes Beispiel, wo U- und E-Musik nachweisbar in ein unmittelbares Spannungsverhältnis treten: Es ist der langsame Satz aus Franz Schuberts Es-Dur-Klaviertrio, dem ein schwedisches Volkslied zugrunde liegt.
Musik: Franz Schubert, 2. Satz, aus: Klaviertrio Es-Dur op. 100 D 929
Doch anstatt nun aufzuzeigen, wie Schubert die schwedische Vorlage verarbeitet und wie dieser Satz dramaturgisch gestaltet ist, anstatt zu fragen, inwieweit diesem Beispiel exemplarische Bedeutung zukommt, hastet Hörisch zum nächsten Schauplatz: zu den beiden großen Liedzyklen "Winterreise" und "Schöne Müllerin", um dem Leser folgende Zusammenfassung anzubieten:
"Der Kern der Geschichten, die sie erzählen und musisch aufladen, ist bemerkenswert schlicht und vielen Pop-Songs nicht unvertraut: boy meets girl."
Trivialer geht es kaum! Beim anschließenden Versuch einer Verallgemeinerung rückt Hörisch Schuberts Lied-Zyklen unmittelbar neben Mick Jaggers "Backstreet Girl" - und kommt zu dem Schluss:
"E- und U-Musik könnten keine heißere Liebesaffaire haben als die, die das Kunstlied mit dem Popsong verbindet. Sollten Franz Schubert oder Robert Schumann aus ihren Gräbern auferstehen […] sie wären elektrisiert und würden nicht ohne Stolz wissen, dass sie würdige Nachfahren gefunden haben."
Außerdem behauptet Hörisch, dass Schuberts Walter Scott-Vertonung "Ellens dritter Gesang", ein "Ave Maria", und Paul McCartneys "Let it be", bis auf einige motivische Ähnlichkeiten, zusammenhängen. Sein Fazit:
"Die weisen und himmlischen Klänge aus dem Land der Engel (in "Let it be") müssen einen wiederauferstandenen Schubert in den Bann schlagen."
Stadt und Land: Wo entsteht welche Musik?
Bei der im Buch-Titel formulierten Thematik darf der Leser erwarten, dass unter anderem die unterschiedlichen Produktionsformen von U- und E-Musik in den Blick genommen, sie verglichen und bewertet werden. Gleiches gilt für die Rezeption. Doch Jochen Hörisch reiht mit einer an Willkür grenzenden Beliebigkeit Assoziation an Assoziation. Eine seiner Erkenntnisse lautet:
"Pop-Musik ist in aller Regel (groß)städischen Ursprungs, E-Musik nicht unbedingt. Nicht nur pastorale E-Musik ist häufig auf dem Land entstanden. Zwischen der Zeitkunst Musik und charakteristischen Orten besteht fast immer ein zumindest lockerer, mitunter auch eben auch naher, ja intimer Zusammenhang. Salzburg und Mozart, Bayreuth und Wagner, Johann Strauß und Wien."
Marketingmanager hätten an solch plakativen Allianzen gewiss ihre Freude. Als Leser hingegen ärgert man sich, einmal mehr. Zu fragen wäre etwa: Was folgert überhaupt aus Hörischs Behauptung? Oder: Verknüpfen wir Wagner ausschließlich mit Bayreuth? Was ist mit Dresden, Riga, Paris oder Luzern? Und was ist mit Komponisten, die sich weit weniger klischeehaft einer Stadt zuordnen lassen, etwa mit Bach und Brahms, Beethoven und Chopin? Schließlich: Welche historischen, gesellschaftlichen oder biographischen Hintergründe haben bei solchen Städte-Allianzen, wie Hörisch sie plakativ ins Feld führt, eine Rolle gespielt? Doch der Autor folgt seinen Spuren nicht, er hat sofort den nächsten Allgemeinplatz parat: Pop-Musik sei "noch enger an Städtenamen" gebunden. Hörisch spricht, englisierend, vom "Sound of the Cities":
"Bob Dylan singt nicht in Konzerthäusern, Rockkonzerte passen nicht in Liederhallen."
Auch sprachlich eine große Enttäuschung
Das Buch umfasst nur knapp 120 Seiten, auf vielen davon sind komplette Lied-Texte abgedruckt. Jochen Hörisch liefert keinerlei Erklärungen zu seinem methodischen Vorgehen, dafür reiht er lose Beobachtungen mit teilweise grotesken Behauptungen aneinander. In jeder Hinsicht mangelt es diesem Band an einer differenzierten Betrachtung, an fundierten Begründungen. Der Autor mäandert von einem Teil-Aspekt zum nächsten, ohne dass sich daraus eine argumentative Linie und – mehr noch – eine Zielsetzung ergäbe.
Auch sprachlich ist dieser Band eine große Enttäuschung. Jochen Hörisch bemüht häufig umgangssprachliche, saloppe Formulierungen, die Anschaulichkeit garantieren sollen. Stattdessen belegen sie eher einen Mangel an Seriosität. Diese Art von populärwissenschaftlichem Schreiben scheitert an sich selbst – an gewollt wirkenden Modernismen ebenso wie an einer Fülle unscharfer Adjektive und an Beliebigkeiten, die ein kritisches Urteilsvermögen vermissen lassen. Alle Bemühungen, am Ende doch noch einen anerkennenden oder gewinnbringenden Aspekt herauszustellen, laufen ins Leere. Dass ein seriöser Verlag, der etliche Wissenschaftsbücher in seinem Katalog führt, einen solchen Band überhaupt ins Programm aufgenommen hat, bleibt ein Rätsel.