In der aktuellen Ausgabe des Fachmagazins PNAS beschreiben Forscher in China ein neues Influenzavirus, das sich dort in den riesigen Schweineherden ausbreitet. Da das Virus offenbar auch in der Lage ist, Menschen zu infizieren, ist die mediale Aufmerksamkeit in Zeiten von Corona groß. Doch Grund zur Panik besteht nicht. Noch fehlt dem Erreger eine Schlüsseleigenschaft, um zu einer globalen Bedrohung zu werden.
Droht jetzt unmittelbar die nächste Pandemie?
Nein. Es ist zwar unausweichlich, dass es immer wieder neue Pandemien geben wird. Die Menschheit ist für Viren einfach ein attraktives Ziel. Aber ob es nun wirklich dieses neue Influenzavirus namens G4 sein wird, das kann derzeit noch niemand sagen. Und auch die Experten, mit denen ich gesprochen habe oder die von den Kollegen bei der BBC oder bei Science zitiert werden, warnen vor Panik.
Woher stammt dieses neu beschriebene Virus?
Influenzaviren sind sehr flexibel, weil sie sich so schnell verändern. Sie kommen ursprünglich aus Wasservögeln, aber sie können eben auch Säugetiere infizieren und da insbesondere Schweine. Die nehmen eine Sonderrolle ein, weil sich in ihnen Viren aus Vögeln mit Viren aus Säugetieren mischen können. Das liegt gar nicht unbedingt an einer besonderen Schweinebiologie. Es gibt einfach viele davon, und in China kommen sie eben auch in engen Kontakt mit Enten und mit Menschen. Das neue Virus G4 ist ein Mischvirus: Es hat Anteile von Vogelinfluenzaviren, Anteile von der Schweinegrippe H1N1, die von den Menschen zurück in die Schweine gewandert ist, und auch noch von einem dritten Influenzavirus. So eine Mischung sorgt dafür, dass dieses Virus für das Immunsystem der Schweine noch recht unbekannt ist. So konnte es sich seit 2013 erst einmal unter den chinesischen Schweinen rasant verbreiten und hatte bis 2018 praktisch alle anderen Grippeviren in den Ställen verdrängt.
Eine neue Grippevariante bei Schweinen - wie ungewöhnlich ist das?
Das kommt immer wieder vor. In dänischen Schweineställen wurde 2017 ein neues Grippevirus gefunden, das ebenfalls eine Neukombination aus drei unterschiedlichen Grippestämmen darstellt. Was die Forscher in China jetzt aber festgestellt haben: Die G4-Variante lässt sich ziemlich effektiv in menschlichen Lungenzellen vermehren. Sie haben das Virus auch in Frettchen getestet, die in der Grippeforschung oft als Stellvertreter für Menschen genutzt werden - und da verbreitet sich G4 leicht von Tier zu Tier. Das lässt schon aufmerken.
Die Forscher in China haben auch über die Jahre immer wieder Blutproben von Arbeitern in Schweineställen untersucht. Und bei den über 300 Proben waren zehn Prozent positiv. Das heißt, diese Arbeiter hatten irgendwann einmal eine Infektion mit diesen G4-Influenzaviren durchgemacht. Bei der Allgemeinbevölkerung aus der Gegend lag der Wert immerhin noch bei vier Prozent. Hier waren sich allerdings die Experten, mit denen ich gesprochen habe, einig, dass so ein Antikörpertest, mit das erfasst wurde, nicht unbedingt auf eine Infektion mit genau diesem G4-Virus hinweisen muss. Diese Tests reagieren manchmal auch auf andere Viren. Entscheidend ist der Nachweis des Virus selbst bei menschlichen Patienten. Es gab früher schon Berichte aus chinesischen Krankenhäusern über zwei Patienten, die tatsächlich eine schwere G4-Infektion durchgemacht haben. Ein 46-jähriger Mann ist sogar daran verstorben. Aber er hat niemanden angesteckt.
Wie groß ist das Risiko einer Pandemie?
Ich habe mit einem Vertreter der Arbeitsgemeinschaft Influenza am Robert-Koch-Institut gesprochen. Der hat darauf hingewiesen, dass Schweinegrippeviren immer wieder auch Menschen infizieren und bei den Betroffenen dann auch Krankheitssymptome hervorrufen. Aktuell wird gerade ein Fall in Deutschland untersucht. Auch der Virologe Timm Harder vom Friedrich-Loeffler-Institut auf der Insel Riems sieht das so. Von ihm und seinen Kollegen erscheint demnächst eine Arbeit, die im Grunde ganz ähnliche Beobachtungen bei Schweinen in europäischen Ställen dokumentiert. Es finden sich verschiedene Grippeviren in den Populationen, die untereinander auch Elemente austauschen und neu kombinieren; diese Viren können menschliche Lungenzellen infizieren und werden zwischen Frettchen übertragen; sie infizieren auch gelegentlich Menschen und verursachen dabei auch Symptome.
So eine Infektion ist meldepflichtig und das RKI informiert dann auch die Weltgesundheitsorganisation. Entscheidend für das Potenzial, eine Pandemie auszulösen, ist aber: Werden diese Viren effektiv von Mensch zu Mensch verbreitet - wie etwa die Schweinegrippe H1N1 im Jahr 2009? Und zweitens: Wie häufig führen sie zu schweren Krankheitsverläufen. Beides zeichnet sich derzeit weder beim G4-Virus aus China noch bei den Schweinegrippeviren in Europa und auf anderen Kontinenten ab. Alle Experten sagen deshalb: Grippeviren haben grundsätzlich das Potential, eine neue Pandemie auszulösen. Aber welche der vielen Varianten in den Ställen und bei Wildtieren, das am Ende auch tatsächlich schaffen wird, ist schwer zu sagen.
Wozu raten die Fachleute jetzt?
Es spricht alles dafür, die Situation in den Ställen in China und anderswo aufmerksam zu verfolgen - um schnell zu entdecken, wenn sich dieses Virus in eine ungünstige Richtung weiterentwickeln sollte. Tim Harder vom Friedrich-Loeffler-Institut sagt: Das entscheidende Warnzeichen wäre, wenn ein solches Virus sich unter Menschen verbreitet - in Familien oder in einem Betrieb. Theoretisch könnte man auch Vorbereitungen für einen Impfstoff gegen G4 treffen. Das dürfte allerdings Ressourcen binden, die für die Impfung gegen die saisonale Grippe gebraucht werden. Die kommt ja sicher im Winter und wird die Probleme mit Covid-19 verstärken. Es heißt also: Wachsam bleiben! Aber vorerst sollten wir die Anstrengungen darauf konzentrieren, der Corona-Pandemie entgegenzuwirken.