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Neues Selbstbewusstsein am Bosporus

Die Drohung des türkischen Ministerpräsidenten, die Beziehungen zur EU während der Ratspräsidentschaft Zyperns 2012 einzufrieren, ist nach Ansicht des Politologen Cemal Karakas vor allem taktisch motiviert. Eine ernsthafte politisch-wirtschaftliche Alternative zum EU-Beitritt habe die Türkei nicht.

Cemal Karakas im Gespräch mit Mascha Drost |
    Mascha Drost: Es ist ein Stück Europa, aber umgeben von Israel, Libanon, Syrien, Ägypten und der Türkei, keine direkt angrenzenden Staaten - dazwischen befindet sich das Mittelmeer -, aber um einen kleinen europäischen Teil hat sich gerade ein jahrzehntelanger Konflikt wieder verschärft, der Konflikt um die Insel Zypern. Zypern wird Mitte 2012 die EU-Ratspräsidentschaft antreten, und der türkische Ministerpräsident Tayyip Erdogan hat damit gedroht, die Beziehungen der Türkei zur EU für ein halbes Jahr einzufrieren. - Cemal Karakas ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Hessischen Stiftung Frieden und Konfliktforschung, und ihn habe ich vor der Sendung gefragt, ob dieser Schritt Erdogans vorauszusehen war oder ob sich da eine neue Mentalität im Umgang mit der EU abzeichnet.

    Cemal Karakas: Also ich würde das nicht Mentalität nennen, sondern meines Erachtens ist das Ganze vor allem taktisch motiviert. Man darf ja nicht vergessen, dass Zypern ein vollwertiges Mitglied der Europäischen Union ist und jederzeit die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei stoppen kann und somit auch am längeren Hebel sitzt. Aber diese Hebelfunktion funktioniert ja nur so lange, wie die Türkei auch ernsthaft der Europäischen Union beitreten will. Das heißt also, wenn man diese Beitrittsperspektive, so wie es jetzt der Premierminister Erdogan gemacht hat, von sich aus relativiert, dann nimmt man so ein Stück weit auch den Wind aus den Segeln der Beitrittsgegner und auch Zyperns.

    Drost: Und dieses Vorhalten, eben die Verbindung zur EU einzufrieren, ist das ein neues Selbstbewusstsein, eines, das die Bittstellerrolle an die EU nicht mehr nötig hat?

    Karakas: Ja! Also ich denke auch, dass das ein neues Selbstbewusstsein der Türkei repräsentiert. Aber ich denke auch, dass da eine gewisse Frustration mit herausspricht. Ich meine, man darf nicht vergessen, dass die Türkei seit Mitte der 60er-Jahre, also heute seit über 50 Jahren, ja schon assoziiertes Mitglied der Europäischen Gemeinschaft ist, und diese Beitrittsperspektive, die gibt es seit Ende der 90er, und seit einigen Jahren wird ja auch verhandelt. Aber man darf jetzt auch hier nicht vergessen, dass - seit sechs Jahren wird verhandelt - aber von den insgesamt 35 Beitrittskapiteln auch nur ein Kapitel erst abgeschlossen wurde, ja. Und wenn es in diesem Tempo weitergeht, denke ich, dass ein Beitritt der Türkei erst um 2020 realistisch ist.

    Drost: Ist das von der türkischen Seite her jetzt eine Abkehr von der EU oder bloß ein Warnschuss?

    Karakas: Ich würde das Ganze nicht Abkehr nennen. Warnschuss vielleicht, aber da muss man auch immer schauen, welche Alternativen die Türkei ja selber für sich hat, also Alternativen zur EU-Mitgliedschaft, und ich bin da immer ein bisschen vorsichtig, der Türkei jetzt, wie sie das gerne selber macht, so eine Rolle als Vermittler oder Hegemon in Nahost zuzuschreiben. Ich denke, das Problem hier ist, dass man ja nicht Everybody's Darling sein kann, gerade die Türkei nicht in Nahost. Also man kann nicht Israel kritisieren und die Hamas wiederum nicht, was der Fall ist mit der AKP-Regierung, und das führt zu Glaubwürdigkeitsverlusten, und mich hat auch noch keiner davon überzeugen können, dass die Türkei eine ernsthafte politisch-wirtschaftliche Alternative zum EU-Beitritt hat.

    Drost: Vielleicht eine stärkere Rolle im Mittleren oder im Nahen Osten?

    Karakas: Das kann durchaus sein, dass sie so eine Vermittlerrolle einnehmen will, aber auch da wäre ich ein bisschen vorsichtig, weil ein Land meines Erachtens ja nur dann glaubhaft vermitteln kann oder demokratische Prozesse im Ausland fördern kann, wenn es selber innergesellschaftlichen Frieden hat, und das ist im Falle der Türkei leider noch nicht der Fall. Ich gebe hier zu bedenken, dass es noch eine ganze Reihe von Einschränkungen gibt, was die Minderheitenrechte angeht oder jetzt auch in jüngerer Zeit die Pressefreiheit.

    Drost: Bleiben wir noch mal ganz kurz zum Schluss bei diesem Selbstbewusstsein, das die Türkei natürlich hat durch wirtschaftlichen, durch den kulturellen Aufschwung, auch durch die Reformen, die die Türkei natürlich in den letzten Jahren genommen hat. Kann es sein, dass sie sich irgendwann von der EU emanzipiert, sie sozusagen gar nicht mehr nötig hat?

    Karakas: Das kann durchaus sein. Also wenn dieser wirtschaftliche Aufschwung so weitergeht wie in den letzten zehn Jahren, kann es durchaus sein, dass die Türkei zumindest aus materiellen Gründen der EU nicht mehr beitreten will. Das war ja in der Vergangenheit immer eines der wichtigsten Argumente, dass man immer ein Auge hatte auf die Transferleistungen aus Brüssel, sei es für die türkische Landwirtschaft oder für die Strukturpolitik. Wenn jetzt natürlich die türkische Wirtschaft so prosperiert, wie es in den letzten Jahren der Fall war, dann steigt ja auch das durchschnittliche Einkommen und dann ist man eben auf diese materiellen Zuwendungen nicht mehr angewiesen. Aber neben diesem ganzen Materiellen gibt es auch eine immaterielle Seite, also eine politische Absicht, der Europäischen Union beizutreten, und das war auch in der Türkei in den letzten Jahren immer von großer symbolischer Bedeutung, dass man immer gesagt hat, wir gehören politisch ja auch zum Westen. Die Türkei - das darf man ja nicht vergessen - ist Mitglied der NATO, ist Mitglied des Europarates, also ist schon in dem westlichen Sicherheitsdispositiv verankert, und da wollte man über den Beitritt zur Europäischen Union auch diesen Verwestlichungsprozess zum Ende bringen.


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