Die wirkliche Sensation dieser Wiederinbetriebnahme des Stuttgarter Schauspielhauses war nicht die von Pfusch und Krisen begleitete Sanierung der Spielstätte, sondern die glänzende – ja: Wiederentdeckung eines Klassikers, den man zu kennen glaubte. Was Hasko Weber und seinem Ensemble - besonders im ersten Teil dieses Don Karlos - gelang, war von beklemmender Dichte, Präzision und einer dramatischen Schärfe, die ihresgleichen sucht. Und von bestürzender Aktualität. Dabei ohne jede aktualisierende Anbiederung. Allein die Hintergrundbilder verweisen auf den arabischen Frühling. Aber ob die Menschen auf diesen Bildern von Rauchschwaden fast verdeckt sind, oder ob Krüppel, Verletzte und Tote erkennbar auf den Straßen liegen – nichts davon berührt die Figuren, die in der düsteren El Escorial-Weltmachtzentrale ausschließlich mit sich beschäftigt sind, bedeutungshungrig, selbstsüchtig, ja selbstverliebt – und machtversessen. Dabei blind für die Realität. Einer wie der andere Hasardeur der Macht, bewegen sich die Akteure im Gehäuse ihrer Idiosynkrasien, sehnen sich nach Bedeutung, erleiden kläglich Schiffbruch, suchen ihr Heil in Intrigen, berauscht von Augenblicken wahrer Empfindung, die sie alles andere vergessen machen.
Nicht nur Karlos, alle werden plötzlich zu Besessenen ihrer eigenen schrillen Wahnvorstellungen der Liebe, wie Karlos; der Allmacht, wie Philipp; des möglichen Einflusses, wie Marquis Posa; der Rache der Getäuschten, wie die Eboli. Selbst die stets gefasste Königin gerät in den Sog politischer Intrigen und balanciert auf des Messers Schneide. Jeder bespitzelt jeden und allein ein Hofnarr beobachtet sie alle. Der sagt manches, was nicht bei Schiller, sondern in Heiner Müllers Hamletmaschine steht und gleitet immer mal wieder im Rollstuhl durch die Szenen. Am Ende lüftet er sein Inkognito und setzt König Philipp unter Druck: der Großinquisitor.
"Die Kunst Schiller zu sprechen" – in Stuttgart materialisiert sich geradezu Ernst Blochs Traum von Schillers Sprache und der Sprechbarkeit seiner messerscharfen Dialoge. Selbst gefürchtete Sätze, die Schillers Text perforieren und in Aphorismushalden verwandeln, ergeben sich selbstverständlich aus dem Gedankengang einer Figur, sind plötzlich lebendig und taufrisch. Oder aber so raffiniert überartikuliert, dass sich ihr Zitatcharakter en passant spielerisch entfaltet. Doch diese wunderbare Aufführung ist nicht nur ein Sprachkunstwerk, sondern alle inneren Gleichgewichtsstörungen der Figuren finden ihren Ausdruck in manchmal atemberaubend artistischem Körperspiel. Dem fantastisch aufeinander eingespielten Ensemble gelingt etwas ganz Seltenes: Alle Akteure sind bis in extreme Gefühlslagen und Ambivalenzen glaubwürdig und zugleich reine Kunst-Figuren – und die Aufführung fokussiert zentrale Konflikte unserer Gegenwart, ohne belehrselig zu sein.
Wo Schiller aufhört, macht Sartre weiter. Auch in dessen frühem Stück Rien ne va plus / Das Spiel ist aus geht es um sein oder nicht sein – und auch hier sind der politische und der private Mensch vollständig auseinander gefallen und bekämpfen sich bis aufs Blut und über den Tod hinaus. Aber wie es scheint, hat Sebastian Baumgarten Sartres fast vergessenem Stück nicht recht getraut und ihm eine witzig gemachte, sehr ausführliche Einführung in die Philosophie des Existenzialismus vorangestellt.
In Sartres Experiment gilt die Wette, ob zwei Mordopfer, Eve, die Tochter des Regenten, und der Untergrundkämpfer Pierre, die im Jenseits zueinanderfinden, ihre zweite Chance auf Erden nutzen können. Doch wo es um krude politische Notwendigkeiten, um Verrat und Betrug geht und darum, das reale Verhängnis womöglich aufhalten zu können, kann weder vom freien Willen noch von freien Gefühlen die Rede sein. Die beiden gehen ein weiteres Mal zugrunde. Was in Baumgartens Inszenierung allerdings kaum Anteilnahme an diesem Geschick aufkommen lässt. Er jagt das Geschehen in so hektischer Geschwindigkeit durch das Mahlwerk der Drehbühne, dass den Figuren und dem Zuschauer Hören und Sehen vergeht. Projektionen, zweifache, dreifache Bildüberblendungen lösen die Figuren förmlich auf, indem sie bis zur Unkenntlichkeit visualisiert, als Tote nur karikiert und als Lebende so gnadenlos entpsychologisiert werden, dass man sich weder für sie noch für ihre Probleme auch nur ansatzweise interessieren kann. Aber wir wissen jetzt, was die modernisierte Bühnentechnik alles kann.
Nicht nur Karlos, alle werden plötzlich zu Besessenen ihrer eigenen schrillen Wahnvorstellungen der Liebe, wie Karlos; der Allmacht, wie Philipp; des möglichen Einflusses, wie Marquis Posa; der Rache der Getäuschten, wie die Eboli. Selbst die stets gefasste Königin gerät in den Sog politischer Intrigen und balanciert auf des Messers Schneide. Jeder bespitzelt jeden und allein ein Hofnarr beobachtet sie alle. Der sagt manches, was nicht bei Schiller, sondern in Heiner Müllers Hamletmaschine steht und gleitet immer mal wieder im Rollstuhl durch die Szenen. Am Ende lüftet er sein Inkognito und setzt König Philipp unter Druck: der Großinquisitor.
"Die Kunst Schiller zu sprechen" – in Stuttgart materialisiert sich geradezu Ernst Blochs Traum von Schillers Sprache und der Sprechbarkeit seiner messerscharfen Dialoge. Selbst gefürchtete Sätze, die Schillers Text perforieren und in Aphorismushalden verwandeln, ergeben sich selbstverständlich aus dem Gedankengang einer Figur, sind plötzlich lebendig und taufrisch. Oder aber so raffiniert überartikuliert, dass sich ihr Zitatcharakter en passant spielerisch entfaltet. Doch diese wunderbare Aufführung ist nicht nur ein Sprachkunstwerk, sondern alle inneren Gleichgewichtsstörungen der Figuren finden ihren Ausdruck in manchmal atemberaubend artistischem Körperspiel. Dem fantastisch aufeinander eingespielten Ensemble gelingt etwas ganz Seltenes: Alle Akteure sind bis in extreme Gefühlslagen und Ambivalenzen glaubwürdig und zugleich reine Kunst-Figuren – und die Aufführung fokussiert zentrale Konflikte unserer Gegenwart, ohne belehrselig zu sein.
Wo Schiller aufhört, macht Sartre weiter. Auch in dessen frühem Stück Rien ne va plus / Das Spiel ist aus geht es um sein oder nicht sein – und auch hier sind der politische und der private Mensch vollständig auseinander gefallen und bekämpfen sich bis aufs Blut und über den Tod hinaus. Aber wie es scheint, hat Sebastian Baumgarten Sartres fast vergessenem Stück nicht recht getraut und ihm eine witzig gemachte, sehr ausführliche Einführung in die Philosophie des Existenzialismus vorangestellt.
In Sartres Experiment gilt die Wette, ob zwei Mordopfer, Eve, die Tochter des Regenten, und der Untergrundkämpfer Pierre, die im Jenseits zueinanderfinden, ihre zweite Chance auf Erden nutzen können. Doch wo es um krude politische Notwendigkeiten, um Verrat und Betrug geht und darum, das reale Verhängnis womöglich aufhalten zu können, kann weder vom freien Willen noch von freien Gefühlen die Rede sein. Die beiden gehen ein weiteres Mal zugrunde. Was in Baumgartens Inszenierung allerdings kaum Anteilnahme an diesem Geschick aufkommen lässt. Er jagt das Geschehen in so hektischer Geschwindigkeit durch das Mahlwerk der Drehbühne, dass den Figuren und dem Zuschauer Hören und Sehen vergeht. Projektionen, zweifache, dreifache Bildüberblendungen lösen die Figuren förmlich auf, indem sie bis zur Unkenntlichkeit visualisiert, als Tote nur karikiert und als Lebende so gnadenlos entpsychologisiert werden, dass man sich weder für sie noch für ihre Probleme auch nur ansatzweise interessieren kann. Aber wir wissen jetzt, was die modernisierte Bühnentechnik alles kann.