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Neujahrsfest
Rituale des Übergangs in den verschiedenen Kulturen

Das Neujahrsfest, die Zeit zwischen den Jahren, eint weltweit ganz verschiedene Kulturen. Zwar wird das Neujahrsfest an unterschiedlichen Tagen gefeiert - aber insbesondere das familiäre Treffen und das exquisite Essen gibt es fast überall als Ritual.

Von Peter Leusch |
    Zwei Gläser mit Champagner
    Schon bei der Frage, an welchem Tag eigentlich das neue Jahr beginnt, gibt es große Unterschiede zwischen den Kulturen. (picture alliance / dpa / Pekka Sakki)
    Silvesterfeuerwerk: Raketen, Böller. Glockengeläut. Die Sektenkorken knallen. Und die Menschen umarmen einander, küssen sich: Prosit Neujahr. Ein frohes Neues Jahr. Auf der ganzen Welt, überall wird der Beginn eines neuen Jahres gefeiert. Doch nicht in allen Kulturen zum selben Zeitpunkt. Und auch nicht auf die gleiche Weise.
    -"Ich komme aus Tunesien. Wir haben das islamische Neujahr und dieses Jahr ist es am 24.10.2015 gekommen."
    - "Bei uns in Palästina feiern wir an diesem Tag in der Moschee, singen die Leute ein Lied für Prophet Mohammed. Die Familie ist beim Essen zusammen und es gibt Geschenke für die Kinder an diesem Tag."
    - "Und auch noch feiern wir in Tunesien das christliche Neujahr, das heißt Silvester am 31. Dezember. Und da essen die Leute Hähnchen. Und die jungen Leute gehen feiern - wie in Deutschland."
    - "Unser neues Jahr ist am ersten Frühling und heißt Nouruz. Wir sollen an diesem Tag zusammen mit der Familie bleiben."
    - "Wir machen ein großes Feuer, das ist eine Tradition. Wir springen über das Feuer und sagen: Die rote Farbe von dir ist für mich, und die gelbe Farbe von mir ist für dich. Gelbe Farbe bedeutet bei uns Hass und Krankheit. Wir geben unsere Krankheit dem Feuer. Und wir bekommen Gesundheit vom Feuer."
    Ausländische Studierende der TH Köln, aus arabischen Ländern und aus dem Iran, erzählen von ihren Neujahrsfesten. Andere berichten aus der Ukraine, aus Russland oder Guinea in Afrika.
    - "Bei uns ist Neujahr der wichtigste Feiertag des Jahres. Wir bekommen Geschenke und haben Feiertag. Das ist ähnlich wie in Deutschland, aber wir kochen ganz viel für zwei Wochen. Dann können wir gut feiern, ohne zu kochen."
    - "Kurz vor zwölf ist man mit der ganzen Familie bei Tisch. Wir zählen dann: zwölf, elf, zehn, neun. Und auch noch vor zwölf Uhr hören wir die Rede unseres Präsidenten. Und genau um zwölf Uhr schreien wir: Hurra, das neue Jahr ist schon hier. Novim Godom. Dann trinken wir Champagner und gehen auf den Balkon oder nach draußen, um das Feuerwerk zu genießen."
    - "Wenn wir Champagner trinken, schreiben wir einen Zettel mit unserem Wunsch, verbrennen diesen Zettel, werfen ihn in den Champagner und trinken das."
    - "Wir haben nicht nur Neujahr am 31. Dezember, sondern auch am 14. Januar, das heißt altes Neujahr, das kommt aus dem alten Kalender. Wir feiern das auch nicht so schick, aber trotzdem mit vielen Speisen und mit der Familie zusammen."
    - "In Guinea ist das Neujahrsfest sehr wichtig, vor allem in den Dörfern. Was ich sehr lustig finde, ist, dass die Leute denken, am 1. Januar haben alle einen neuen Geburtstag: Wenn man zum Beispiel 20 Jahre alt ist, dann ist man am ersten Januar automatisch 21 Jahre. Das ist die Meinung der alten Leute."
    Grundbedürfnis nach zeitlicher Gliederung
    Menschen haben ein Grundbedürfnis nach zeitlicher Gliederung. Das Leben und Erleben ordnet sich auf diese Weise, schaut, wo sich ein Kreis schließt, wo Altes endet und Neues beginnt. Und auch, wo etwas wiederkehrt: das Wiedererwachen der Natur, der Vegetationszyklus in den gemäßigten Zonen, Aussaat und Ernte, der Wechsel von Regen- und Trockenzeiten in den Tropen.
    Für den Planeten Erde bildet das astronomische Jahr, die Wiederkehr der Sonne, den stärksten Taktgeber der gesamten Natur und aller Lebewesen. Aber auch die Zyklen des Mondes, die Monate, ordnen die Zeit. Zeit ist für den Menschen eben nicht nur ein gleichförmiger Strom, ein Fluss ohne Wiederkehr, nicht bloß eine große Linie ohne Anfang und ohne Ende.
    "Der Jahreszyklus muss zum Abschluss gebracht werden und wieder beginnen können. Wir leben eigentlich viel mehr in einer zyklischen Zeit als in einer linearen Zeit."
    Thomas Macho, Kulturhistoriker an der Humboldt Universität Berlin:
    "Das ganze Jahr wird skandiert von Festen, das können alltägliche Feste sein wie die Sonntage oder kleinere Festtage, das können private Festtage sein wie Geburtstage, Namenstage oder Hochzeiten. Und das können eben die großen Feste sein. Und zu diesen großen Festen gehören sowohl die religiösen Feste, aber auch Feste, die durch die Vegetationszyklen nahe gelegt werden, wie ein Erntedankfest zum Beispiel oder auch so etwas wie ein Neujahrsfest."
    Doch wann genau im Jahreskreislauf das alte Jahr endet und das neue beginnt, dieser Zeitpunkt bestimmt sich von der jeweiligen Zeitrechnung her, vom Kalender, den eine Kultur für sich aufgestellt hat.
    "Wir sind, was das Neujahrsfest betrifft, in der römischen Tradition. Das Neujahrsfest ist 153 vor Christus auf den ersten Januar gelegt worden. Davor haben die Römer den Jahresbeginn Anfang März gefeiert. Ab 153 haben die Konsuln den Beginn ihrer Amtszeit auf den ersten Januar gelegt und später in der Kaiserzeit war der erste Januar das große Fest für den Beginn des neuen Jahres."
    1. Januar hat säkularen Ursprung
    Das westliche Neujahrsdatum 1. Januar hat also keinen religiösen, sondern einen säkularen Ursprung. Die frühen Christen im Römischen Reich kannten auch noch kein Weihnachtsfest, das viel bedeutender als Neujahr ist. Erst nach der konstantinischen Wende führten die Kirchenväter im 4. Jahrhundert das Geburtsfest Jesu ein und legten es auf den 25. Dezember, auf jenen Tag nach der Wintersonnenwende, wo im Kult des Sol invictus, der unbesiegte Sonnengott und - ihm wesensgleich -der Kaiser, verehrt wurden. Außerdem feierte die Frühkirche am 6. Januar die Erscheinung des Herrn, bei Jesu Taufe im Jordan, Epiphanias. Aber der 1. Januar blieb zunächst ein religiös unbeschriebenes Blatt.
    "Einen religiösen Sinn für die Christen hatte es nicht so richtig: Beschneidung Jesu oder Namensgebung Jesu, eine Zeit lang hat man die Geburt Mariens am 1. Januar gefeiert. Es gab verschiedene Möglichkeiten, wie man das besetzen konnte. Und die haben auch gewechselt."
    Bis heute wird im Westen der Jahreswechsel laut und ausgelassen gefeiert, mit Sekt und exquisitem Essen. Aber die Kirche hat sich bemüht, andere Akzente zu setzen. Im Gottesdienst am sogenannten Altjahrsabend gemahnt sie die Gläubigen zu Einkehr und Besinnung, ruft sie dazu auf, im Vertrauen auf die Allmacht und Güte Gottes ins Neue Jahr zu gehen.
    "Von guten Mächten treu und still umgeben,
    behütet und getröstet wunderbar,
    so will ich diese Tage mit euch leben
    und mit euch gehen in ein neues Jahr.
    In der Spätantike, auf dem Konzil von Nicäa 325, fiel eine Entscheidung, die den westlichen Kalender bis heute prägt. In einem Kompromiss mit dem römischen Kaiser Konstantin schloss sich die Kirche dem Sonnenkalender an - mit dem 1. Januar als Beginn, mit dem Sonntag als Feiertag. Aber in Bezug auf Ostern, auf das höchste christliche Fest, hielt die Kirche an ihren jüdischen Wurzeln fest, das heißt Ostern terminiert sich nach dem Mondkalender. Mit der Konsequenz, dass Weihnachten und Neujahr ein festes Datum haben, aber Ostern und die daran anschließenden Kirchenfeste wandern.
    Judentum berechnet nach dem Mondkalender
    Das Judentum hingegen regelt den Jahresablauf vollkommen nach einem Mondkalender, den Moses, so heißt es, vor dem Auszug aus Ägypten eingerichtet hat.
    "Rosch Haschana heißt Beginn des Jahres. Und dieser Beginn eines jüdischen Jahres - wir schreiben im Augenblick das Jahr 5776 - fällt in den Herbst und eröffnet sozusagen den Zyklus der hohen jüdischen Feiertage. Beginnend mit Rosch Haschana, dem Neujahrsfest, danach dann Jom Kippur, das Versöhnungsfest. Und endet dann mit Simchat Tora. Simchat Tora beschließt nun wiederum das Laubhüttenfest, Sukkot."
    Hermann Simon ist Historiker und war bis zu seiner Pensionierung Direktor der Stiftung Neue Synagoge – Centrum Judaicum in Berlin.
    "Das jüdische Neujahrsfest ist für das bürgerliche Neujahr insofern von Bedeutung, als wir ja alle den Wunsch kennen "Guten Rutsch". Die Frage ist immer, woher denn dieses Rutsch kommt. Und da gibt es mindestens eine Erklärung. Und ich glaube, das ist wohl heute auch die als richtig anerkannte, dass dieses Rutsch zusammenhängt mit Rosch. Rosch, der Beginn, der Anfang eines neuen Jahres. Also man wünscht, dass sozusagen der Anfang gut ist, damit wahrscheinlich das ganze Jahr gut ist."
    Unter Sprachwissenschaftlern konkurrieren zwei etymologische Erklärungen für den Silvesterspruch Guten Rutsch. Die einen leiten ihn wie Hermann Simon aus dem Jiddischen ab, die anderen verweisen darauf, dass das Wort rutschen in älteren Wörterbüchern auch reisen oder fahren bedeuten konnte, so heißt es noch bei Goethe: "Sonntag rutscht man auf das Land". Guten Rutsch meint dann also gute Reise, gute Fahrt aus dem alten - hinüber ins neue Jahr.
    Auch chinesisches Neujahrsfest nach dem Mondkalender
    Genau wie das Judentum, so folgt auch die chinesische Kultur einem Mondkalender. Nur, dass das chinesische Neujahr nicht in den Herbst, sondern ins Frühjahr fällt. Im kommenden Jahr datiert es auf den 8. Februar. Dann beginnt das Jahr des Affen. Das Neujahrs- oder Frühlingsfest ist das wichtigste und größte Volksfest in China:
    "Das wird immer zwischen dem 21. Januar und dem 21. Februar nach dem westlichen Kalender gefeiert. Also an dem Neumond zwischen dem 21. Januar und dem 21. Februar, an dem Tag wird das chinesische Neujahr gefeiert."
    Peiling Cui, Sinologin an Bonner Universität.
    "Traditionell feiert man das Fest einen ganzen Monat. Also man beginnt schon zehn Tage vor dem Frühlingsfest. Und danach dauert es noch meistens bis zum 15. Januar nach dem chinesischen Mondkalender. Man nennt den 15. Januar nach dem Mondkalender auch Laternenfest. Insgesamt 25 Tage bis einen Monat feiert man das chinesische Frühlingsfest. Aber heute haben die Leute nicht mehr so viel Zeit. Und dann feiert man eine Woche ungefähr."
    Das chinesische Neujahrsfest ist traditionell ein großes Familien- und Clantreffen. Lange vor Festbeginn setzt deshalb eine wahre Völkerwanderung ein. Alle werden zu Hause erwartet. Manche kehren nachher auch nicht an ihren Arbeitsplatz in der Ferne zurück, weil sich während des Festes über familiäre Beziehungen neue Jobs auftun. Touristen jedenfalls seien gewarnt, dass in diesem Zeitraum in China oder angrenzenden Ländern wie Vietnam, Unterkünfte ausgebucht und die Verkehrsmittel hoffnungslos überlastet sind.
    "Man nennt das auch chinesisch, also Verkehrskrise oder auch Verkehr während des Frühlingsfestes. Insgesamt dauert diese Zeit 40 Tage, nicht nur die Menschen, die jungen Leute, die an einem anderen Ort arbeiten, fahren mit dem Zug, mit dem Flugzeug oder Fernbussen zu ihren Eltern nach Hause. Und die Studenten, die woanders studieren, müssen auch vielleicht zehn Stunden fahren, um zu den Eltern zu kommen und mit ihnen zusammen das Fest zu feiern."
    Nouruz-Fest am Frühlingsbeginn
    Es gibt noch ein anderes Neujahrsfest zum Frühlingsbeginn, das im Großraum Zentralasien gefeiert wird, vor allem im Iran, im Nordirak, in Afghanistan, bei den Kurden, vereinzelt auch im Kaukasus und bis nach Indien hinein. Es handelt sich um das altpersische Nouruz-Fest aus vorislamischer Zeit, das von der UNESCO ins Weltkulturerbe aufgenommen wurde.
    "Nouruz heißt Neuer Tag, das setzt sich aus zwei Elementen zusammen, dem persischen Wort nou für neu, und ruz – das ist Tag."
    Eva Orthmann, Islamwissenschaftlerin von der Universität Bonn:
    "Das Nouruz-Fest ist ein Frühjahrsfest, das ist astronomisch festgelegt, das heißt Nouruz ist genau in dem Moment, in dem die Sonne in das astronomische Zeichen des Widders eintritt, etwas vereinfacht gesagt, es ist die Tag-und-Nacht-Gleiche, also unser Frühjahrsanfang."
    Das Nouruz-Fest nach dem Sonnenkalender ist so populär und fest verankert in der Bevölkerung, dass es sich auch in der strengen Islamischen Republik Iran behauptet - auch gegenüber dem islamischen Mondkalender, dessen Jahreszählung mit der Auswanderung Mohammeds von Mekka nach Medina, mit der sogenannten Hidschra im Jahr 622 unserer Zeitrechnung, beginnt. Heute sind im Iran drei verschiedene Kalender im Gebrauch - mit kuriosen Folgen, so Eva Orthmann, zum Beispiel, wenn man sich verabreden will.
    "Sie haben einerseits den islamischem Kalender, der ein Mondkalender ist und sich eben nach dem Hidschra-Jahren richtet. Der wird für religiöse Zwecke verwendet. Dann verwendet man den Hidschri-Schamsi-Kalender, der zwar den gleichen Ausgangspunkt hat, also auch im Jahr 622, aber dann in Sonnenjahren zählt. Der fängt immer mit Nouruz an, hat aber eben Sonnenjahre und nicht Mondjahre und lässt sich deswegen sehr leicht umrechnen mit unserem Kalender. Daneben gibt es auch den europäischen Kalender, der aber eigentlich für den täglichen Gebrauch nicht verwendet wird. Wenn ich dann sage, ich möchte mich mit ihnen am 18. August verabreden, müssen die genauso nachschlagen, welches Datum das eben nach ihrem Hidschri-Schamsi-Kalender ist."
    Von der schiitischen Geistlichkeit, vom Regime im Iran, ist Nouruz immer wieder kritisch beäugt worden mit dem Vorwurf, so Orthmann, es sei kein islamisches Fest und deshalb zu verwerfen.
    "Da finden sich unterschiedliche Rechtsgutachten aus islamischer Warte und Traditionen, die es ablehnen und andere, die es quasi befürworten und im Grunde sagen, der Prophet hätte sich schon positiv zur Feier dieses Festes geäußert. Aber letztendlich ist das Fest so populär, dass man es nicht abschaffen konnte."
    Islamisches Neujahr nach dem Mondkalender
    Der Islam bestimmt sein eigenes Neujahr nach einem Mondkalender, der 355 Tage umfasst. Deshalb verschiebt sich der islamische Neujahrsbeginn gegenüber dem gregorianischen Kalender jedes Jahr um elf Tage. Das aktuelle islamische Neujahr hat am 24. Oktober begonnen, nicht um Mitternacht, sondern am Vorabend, wenn nach Neumond das erste Neulicht gesichtet wurde. Für Muslime ist es jedoch kein Feier-, sondern ein Gedenktag. Gedacht wird der Auswanderung Mohammeds von Mekka nach Medina im Jahr 622, wo er das erste islamische Gemeinwesen gründete. Viele Familien erinnern zu Hause an das Ereignis mit einem festlichen Essen. Eine öffentliche Neujahrsfeier aber lehnen die Muslime als eine unislamische Neuerung ab, die im Koran nicht begründet sei. Deshalb begehen sie den Neujahrstag in einem stillen Gedenken.
    Wer die verschiedenen Neujahrsfeste Revue passieren lässt, entdeckt eine Fülle von Bräuchen und Handlungen, die zum Teil abergläubisch anmuten. Angefangen von Grüßen und Glücksbringern, über Feuerwerke, bestimmte Speisen und Getränke, bis hin zu Horoskop und Bleigießen, wo man in die Zukunft schauen und das Schicksal günstig stimmen will. Es sind Handlungen mit einem hohen Symbolgehalt, der manchmal nicht mehr bewusst ist. Wissenschaftler wie der Ethnologe Klaus E. Müller forschen nach, um den verschütteten Sinn wieder freizulegen.
    "Man muss dafür Sorge tragen, dass das neue Jahr die Züge annimmt, die man für wünschenswert erachtet. Es gibt eine Fülle von Dingen, zum Beispiel trinkt man Gläser nicht ganz aus, damit immer etwas darin bleibt. man legt sogenannte Adonisgärtchen an, das sind so Schüsseln, da werden die Hauptnahrungsfrüchte irgendwann im Dezember ausgesetzt, und dann sieht man an Neujahr, ob sie gut gekommen sind oder nicht. Und man bewirft sich mit Konfetti. Konfetti, das ist ein Symbol für Regen, weil es wichtig ist, dass im Frühjahr Regen fällt, damit die Saat aufgeht. Das ist Regenzauber."
    Klaus E. Müller nennt diese feststehenden Handlungen Rituale. Müller, der bis zu seiner Emeritierung an der Universität Frankfurt Ethnologie lehrte, hat zahlreiche Stammeskulturen erforscht, wo solche Rituale eine bedeutsame Rolle spielen. Insbesondere dienen sie einer Gemeinschaft dazu, Übergänge und Wendezeiten zu bewältigen. Denn Übergänge, so Müller, seien kritische Phasen, äußerst instabil und gefährlich.
    "Nicht nur in biografischen Übergangsphasen oder sozialen Übergangsphasen bei einer Amtsübernahme oder bei der Geburt oder bei der Heirat oder beim Tod, überall dort sind diese kritischen Übergangsrituale am Platz. Aber eben auch während solcher Wendezeiten. Und allgemein hat man den Wechsel von einem Jahr zu einem anderen Jahr als ganz besonders kritisch bezeichnet, weil man sich vergewissern wollte, dass man gut vom alten Jahr wegkommt und als - quasi neugeborener - neuer Mensch anfängt im neuen Jahr."
    Viele Übergangsrituale
    Übergangsrituale gibt es nicht nur in indigenen Stammeskulturen, sondern ebenso in Hochkulturen und modernen Gesellschaften. Thomas Macho nennt deshalb den Menschen in seinem gleichnamigen Buch "Das zeremonielle Tier" und weist im Untertitel "Rituale – Feste – Zeiten zwischen den Zeiten" explizit auf den Jahreswechsel hin. Ein solches Ritual eröffnet auch das altpersische Nouruz-Fest. Eva Orthmann:
    "Im Grunde fängt man zwei Wochen vor Nouruz an. Und zwar sät man da Keime. Meistens nimmt man Weizen, man kann auch Linsen nehmen. Die sät man aus, die keimen dann so, dass sie dann zum Zeitpunkt von Nouruz schon zwei Wochen gewachsen sind. Und man aus der Art, wie sie keimen, wie hoch die Keime nach zwei Wochen stehen, Rückschlüsse gezogen hat, ob das ein gutes Erntejahr wird oder ein schlechtes Jahr. Man muss das sozusagen in dieser Tradition sehen. Man lässt sie dann noch zwei Wochen weiterwachsen, dann werden diese Keime in der Natur im Rahmen einer anderen Festlichkeit entsorgt."
    Das Nouruz-Fest, das auf den Religionsstifter Zarathustra zurückgeht, ist ein circa 3000 Jahre altes Frühlingsfest, wie es sie auch in anderen altorientalischen Hochkulturen gegeben hat. So weiß man zum Beispiel von einem babylonischen Neujahrsfest. Hier spielen Nahrungsgüter eine herausragende Rolle. Das spiegelt sich auch im Ritual des Gabentisches und der häuslichen Vorbereitungen wider.
    "An Nouruz selbst gehört es dazu, dass man das Haus reinigt, auch dass man sich nach Möglichkeit frische und saubere Kleidung anzieht. Und man bereitet dann das sogenannte Sofre vor. Sofre ist eigentlich ein großes Tuch, das man auf den Boden legt oder auf einen Tisch. Dort werden bestimmte Speisen und Schüsseln aufgestellt. Man spricht hier vom sogenannten Haft Sin, das bedeutet, die sieben Dinge, die mit dem Buchstaben Sin anfragen. Dazu gehört beispielsweise Knoblauch, aber auch Münzen. Man hat außerdem diese Weizenkeime. Man stellt Äpfel drauf, Essig und dann auch ein Gefäß mit einer bestimmten Süßspeise, im Grunde aus Getreide hergestellt, das gekocht wird mit Öl und Wasser, mit Mandeln gesüßt wird, Walnüsse darin. Solche Dinge kommen auf dieses Tuch und dann - je nach religiöser Zugehörigkeit - stellt man einen Koran mit darauf oder auch eine Bibel. Und manche nehmen eben auch die Verse von Hafis."
    Jede dieser sieben Gaben, die beim Haft Sin beisammen sind, weist in ihrer Bedeutung über sich hinaus. So verheißt zum Beispiel die Süßspeise Wohlstand und Segen, der Essig symbolisiert Fröhlichkeit und die Äpfel stehen für Gesundheit. So fremd sind die Bedeutungen nicht, denkt man daran, dass Knoblauch auch in Europa als probates Mittel galt, Geister und Vampire zu vertreiben. Und bei Äpfeln assoziiert man das englische Sprichwort: An apple a day keeps the doctor away. Jeden Tag einen Apfel, das erspart den Arzt.
    "Im Iran wird fünf Tage lang feiert. Das ist wirklich ausgiebig. Und 13 Tage nach Nouruz ist dann noch einmal eine Feierlichkeit, die damit in Verbindung steht. Das ist der sogenannte Ins-Freie-Geh-Tag, den man im Freien verbringt mit der beliebtesten iranischen Tätigkeit überhaupt, dem Picknick. Irgendwo im Freien, im Park, an einem Fluss im Garten. Im Grunde ist das richtige Ende also erst 13 Tage nach Nouruz. Aber Feiertage sind es fünf Tage."
    Gemeinsames festliches Essen als zentrales Element
    Bei Nouruz stößt man ebenso wie bei den anderen Neujahrsfesten auf ein zentrales Moment, das überall wiederkehrt: das gemeinsame festliche Essen. Es gibt Fleisch und besondere Speisen, die das Fest aus dem Alltag herausheben. Ebenso wichtig scheint, dass die Familie oder Großfamilie dabei versammelt ist. Thomas Macho:
    "Das gemeinsame Essen ist für alle Feste etwas ganz Entscheidendes. Wir essen fast täglich Fleisch, haben die Supermärkte mit vollgefüllten Regalen und so weiter. Wir können uns schwer vorstellen, wie das in einer Kultur, einer agrarischen Kultur gewesen sein mag, in der man nur zu seltenen Gelegenheiten Fleisch essen durfte. Im Grunde ist es auch in Europa noch nicht so lange her, dass der Fleischverzehr auf den Sonntag beschränkt war. Wenn wir noch weiter zurückgehen, dann sieht man allerdings, dass Fleischessen etwas war, was tatsächlich mit den großen Festen im Zusammenhang stand und damit auch mit den Opferritualen. Das Tier, das man geopfert hatte, wurde ja nachher gegessen. Und dieses gemeinsame Essen des geopferten Tieres, war auch ganz wichtig für den Zusammenhalt der Gemeinschaft und hat das Fest erst zum Fest gemacht."
    Im gemeinsamen Mahl, mit Speisen, die sich vom Alltagsessen abheben, versichert sich die Familie ihres Zusammenhalts. Und setzt ein Zeichen der Verbundenheit und Solidarität für das neue Jahr. Gemeinsam geht man über die Schwelle. Nirgendwo findet sich dieser Ritualcharakter so ausgeprägt, wie beim chinesischen Neujahrsfest mit seinem Familien- und Clantreffen.
    "In China feiert man auch am Abend vor dem Neujahrstag. Und da treffen sich auch alle Familienmitglieder, man ist auch an dem Abend zusammen, es wird viel zu essen und zu trinken angeboten. Heute essen die Familien auch oft im Restaurant statt zu Hause, um einfach Arbeit zu sparen, sodass viele Restaurants auch schon vorher reserviert werden müssen. Viele gucken auch feierliche Programme im Fernsehen. Es gibt ein einheitliches Programm von 8:00 Uhr bis 12:00 Uhr oder 12:30 Uhr an dem Abend. Natürlich wird auch das Feuerwerk gezündet um Mitternacht, um Geister zu vertreiben. Aber auch am Neujahrstag, also am ersten Januar nach dem Mondkalender, wird auch noch einmal Feuerwerk gezündet, eigentlich die ganzen zwei Wochen vom ersten Januar an."
    Auch Glückwünsche zum Neuen Jahr
    Peiling Cui schildert noch einen Brauch, der sich vor allem im ländlichen Raum bis heute erhalten hat. Während Glückwünsche zu Neujahr hierzulande mündlich oder mit der klassischen Neujahrskarte, heute zunehmend via Mail und Internet übermittelt werden, hat China dafür eine andere Form entwickelt.
    "In vielen Städten, in vielen Gebieten gibt es auch eine Tradition, - man nennt das chinesisch. Auf rotem Papier werden Sprüche geschrieben mit Pinseln, natürlich um Neujahrswünsche zu äußern, Erwartungen und Hoffnungen für das neue Jahr. Dann werden die beiden Spruchrollen an die beiden Seiten der Ausgangstür angeklebt. Als ich klein war, hat immer mein Vater uns, also für die Familie, solche Sprüche geschrieben. Chinesischer Spruch - es war der erste Spruch, an den ich mich noch erinnern kann, das bedeutet ungefähr: "Schöne Landschaft mit grünem Berg und klarem Wasser." Das sollte der obere Spruch sein, der an die rechte Seite geklebt werden sollte. Und der untere Spruch chinesisch -das heißt, alle haben ein langes Leben und es sollte im nächsten Jahr eine gute Ernte geben. Und nur positive Erlebnisse und Ereignisse sollte man erleben."
    In manchen Regionen Chinas rät der Volksmund, zu Neujahr Fenster und Türen zu öffnen, damit das Glück hereinströmen kann.
    "In meiner Heimatstadt wurde noch gesagt, dass man am Neujahrstag nicht putzen dürfte, um das Glück zu Hause zu behalten."
    Lebendig hält sich in China auch der Mythos eines gefährlichen Monsters, das zur Neujahrswende aus der Wildnis oder aus dem Meer kommt, und – so Peiling Cui - die Wohnstätten der Menschen heimsucht.
    "Im tiefen Wald wohnte ein böses Tier mit dem Namen Nien. Und jedes Jahr kam das Nien heraus und wollte die Haustiere fressen und die Menschen verletzen. Und die Menschen haben sehr darunter gelitten. Und dann hat man eines Tages festgestellt, dass das Tier Angst vor der Farbe Rot hat. Und deshalb hat man an dem Tag zum Jahreswechsel rote Sprüche an die Türseiten geklebt. Aus Angst ist das Tier weggelaufen und dann haben die Menschen das gefeiert. Deshalb macht man nicht nur rote Spruchrollen, sondern man zündet auch Feuerwerk, das sollte das Tier ängstigen oder wegtreiben. Die beiden Traditionen werden beibehalten, ich glaube in ganz China macht man das."
    "Die Feuerwerksgeschichten, das ist ein apotropäisches Ritual, das heißt, die bösen Geister, die noch da sind, und die man dem alten Jahr zuschlägt, sollen vertrieben werden für alle Zeiten. Das Feuerwerk hat zwei apotropäische, also böse Geister abwehrende Bedeutungen: Feuer und Licht. Denn die bösen Geister sind nachts unterwegs, in der Wendezeit zwischen Tag und Nacht. Also muss man Licht machen, dann wehrt man sie ab durch diese Feuer. Und das zweite ist der Lärm. Lärm ist ein ganz altes Geistervertreibungsmittel. Je lauter Sie schreien oder pfeifen im Wald, desto mehr werden Sie die los."
    Klaus E. Müller meint auch das Silvesterfeuerwerk bei uns. Was dem aufgeklärten Menschen nur noch als Belustigung und ästhetisches Vergnügen erscheint, als Knallerei und Leuchtspektakel zu Silvester, beliebt bei jung und alt, diente ursprünglich zur Vertreibung böser Geister.
    Feuerwerk zum Vertreiben böser Geister
    Allerdings muss man unterscheiden zwischen Feuer und Feuerwerk. Denn das Feuer beherrschen die Menschen seit alters her und setzen es zu vielerlei Zwecken ein, eben auch zur Abwehr von Dämonen. Aber das Feuerwerk ist kulturgeschichtlich ein junges Phänomen, jedenfalls für Europa, wo man das Schwarzpulver nicht kannte. Die ersten Feuerwerke gab es in den italienischen Handelsstädten Venedig und Genua, die mit China Handel trieben. Es waren zunächst Fürsten, Adlige, die mit einem nächtlichen Spektakel aus Licht und Farben ihre Feste veredelten. Erst im 20. Jahrhundert wurden Feuerwerkskörper für alle erschwinglich. Und das Feuerwerk wechselte seinen Charakter und Ort – vom exklusiven Repräsentationsgut des Adels zum Vergnügungsmittel für jedermann, vom höfischen Fest zur bürgerlichen Neujahrsnacht.
    Gewandelt hat sich auch das Neujahrsfest. Denn das westliche Silvester/Neujahr ist aus seinem zeitlichen Rahmen und Zusammenhang herausgelöst worden. In der allgemeinen Wahrnehmung ist es zu einem singulären Event von gerade mal anderthalb Tagen zusammengeschrumpft. So besteht es nur noch aus Silvesterabend und Neujahr. Verglichen mit dem chinesischen Neujahrsfest oder dem persischen Nouruz ist das eine verschwindend geringe Zeitspanne.
    Aber bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass auch das hiesige Neujahr kein isoliertes Tagesereignis darstellt. Es gehört vielmehr als Phase in einen längeren Zeitrahmen hinein. Und nicht zufällig heißt dieser Zeitraum zwischen den Jahren oder wie der Ethnologe Hans-Peter Dürr das einmal genannt hat: eine Zeit zwischen den Zeiten.
    "Für unsere christliche Kultur ist das in besonderer Weise spannend, weil die berühmten Zeiten zwischen den Zeiten eigentlich das klassische Neujahrsfest umspannen. Das war ungefähr vom 24. Dezember bis zum 6. Januar die Quatembernächte. Das waren immer auch ein wenig unheimliche Nächte, in denen die Toten zurückkehren konnten, in denen, wenn man durch den Wald gegangen ist, die wilde Jagd toben konnte, und Ähnliches mehr."
    Alte Bräuche und Vorstellungen
    Tatsächlich halten sich in einigen Regionen Mitteleuropas alte Vorstellungen und auch Bräuche, was sich in dieser Zeit nach der Wintersonnenwende an Unheimlichen zuträgt. Da gibt es den Mythos der wilden Jagd aus der germanisch/nordischen Mythologie, dass Geister am Nachthimmel oder in den Wäldern ihr Unwesen treiben. Im Alpenraum hält sich der mittelalterliche Brauch der Perchtenläufe. Maskiert erscheinen tagsüber die Schönperchten, gute Geister, die den Menschen Glück bringen und Segen, nachts aber streichen böse Geister, die Schiechperchten, um die Häuser. Manche dieser Bräuche sind in Mitteleuropa vom Jahresende weg zur Fastnacht und zum Karneval gewandert.
    Der europäische Volksglaube kennt jedenfalls auch eine längere Übergangsphase von Instabilität und Gefährdung, genau wie die Stammeskulturen. Das ist die These von Klaus E. Müller. In Mitteleuropa sind das die sogenannten Quatember- oder Raunächte, zwischen Weihnachten und Dreikönige, also zwischen dem 24. Dezember und dem 6. Januar.
    "Das ist diese Zwischenzeit, in der sehr viel möglich ist, beispielsweise in der Schweiz, wo sich manches stärker erhalten hat in den tiefen Tälern der hohen Berge. Die sogenannten Rügegerichte, die es auch in Afrika überall gab. Das heißt, die Jugend hat sich verkleidet, ist durch die Gassen gezogen, hat vor den Häusern gehalten, wo Leute lebten, die sich im letzten Jahr in irgendeiner Weise vergangen hatten, was nicht gerichtskundig geworden war, was nicht geahndet wurde. Dann haben sie Spottlieder gesungen und auf Kesseln herumgetrommelt, um die Leute zu verhöhnen und zu bestrafen. Das waren die Rügegerichte."
    Silvester und Neujahr bilden demnach erst den Abschluss einer Übergangsphase, einer Zeit zwischen den Jahren. Um gut im Neuen Jahr anzukommen, gilt es, sich innerlich und äußerlich vorzubereiten: Äußerlich, das heißt, das Haus zu putzen und sich selber zu reinigen, um mit neuen Kleidern ins Neue Jahr zu gehen. Innerlich, das bedeutet, persönliche Bilanz zu ziehen, das alte Jahr noch einmal Revue passieren zu lassen und mit besten Vorsätzen ins neue zu starten.
    "Bilanz ziehen, sich erinnern und eben auch der Toten zu gedenken. Diese Wendefeste, diese Zeiten zwischen den Zeiten waren eben immer auch Zeiten, in denen man sich an die verstorbenen Mitglieder der Gemeinschaft erinnert hat. Dann waren sie in gewisser Hinsicht noch einmal präsent. Das geht wahrscheinlich auf noch ältere Praktiken zurück, die es schon in der griechischen Antike und im archaischen Kulturen gegeben hat, wo die Toten zu einem bestimmten Zeitpunkt im Jahr, das war immer zum Jahresende, noch einmal zurückkehren für einen Tag. Und dann wurden sie auch wieder zurückgetrieben. Und sie sollten sich im Jenseits heimisch machen, weil man sie auch nicht zu nah haben wollte."
    Rosch Haschana sehr religiös geprägt
    Kein anderes Neujahrsfest betont so sehr diesen Aspekt des Innehaltens, der Gewissensprüfung und moralischen Erneuerung wie das jüdische Rosch Haschana. Im Gegensatz zum lauten Silvesterfest im Westen hat das jüdische Neujahr einen ernsten und andächtigen Charakter. Es ist besonders stark religiös geprägt, erläutert Hermann Simon, Historiker und bis zur Pensionierung Direktor der Stiftung Neue Synagoge – Centrum Judaicum in Berlin.
    "Der Sinn des jüdischen Neujahrsfestes ist das Erinnern an den Bund, der zwischen Gott und Israel geschlossen wurde. Und der für die Israeliten eine sittliche Forderung und Verpflichtung darstellt. Der Tag soll also im Grunde dazu dienen, über sich und über die Welt nachzudenken und die Menschen zu veranlassen, in sich zu gehen, sich vom Bösen abzuwenden und gut zu handeln. Es ist der Tag, an dem der Mensch über sein Tun Rechenschaft abgelegt und sich seiner moralischen Pflichten bewusst wird oder werden soll. Das Schofar ist ein Widderhorn mit verschiedenen Töne und Tonfolgen, die es da gibt. Es wird im Morgengottesdienst geblasen und an ganz bestimmten Stellen, das ist also ganz genau festgelegt. Allerdings nicht wenn der Festtag auf einen Schabbat fällt, dann darf es nicht geblasen werden. Das ist vielleicht ein äußeres Mittel, es ist sehr durchdringend, sehr aufrüttelnd. Und es soll den Menschen an seine moralischen Pflichten erinnern. Man kann es vielleicht übersetzen mit Posaune. Also das geht schon irgendwie gut durch Mark und Bein."
    Rosch Haschana wird überall in Israel genau, wie in der Diaspora, zwei Tage lang gefeiert. Das unterstreicht seine Bedeutung, da andere Feste in Israel nur mit einem Feiertag bedacht sind. In der Synagoge, so Hermann Simon, sei alles noch feierlicher als sonst. Und die Thora-Vorhänge und Gewänder hat man ganz in Weiß gehalten. Rosch Haschana ist aber auch ein Fest, das sich daheim in der Familie fortsetzt.
    "Es ist durchaus üblich, dass man zu Hause feiert, wobei es sich vom Freitagabend, vom Schabbat, insofern unterscheidet, dass dem Gebet über Wein und dem Segenspruch über Brot noch ein weiterer Segen über Baumfrüchte hinzugefügt wird. Dazu nimmt man einen Apfel. Und den zerschneidet man dann schön. Und es ist üblich, dass man den Apfel mit Honig bestreicht und dann isst. Ich würde sagen, einmal im Jahr schmeckt es auch gut, sonst hat man da keine besondere Freude daran. Und man möchte einfach damit ausdrücken, dass das vor einem liegende neue Jahr doch nach Möglichkeit süß wird."
    "Dass bald das neue Jahr beginnt,
    spür ich nicht im geringsten.
    Ich merke nur: Die Zeit verrinnt,
    genauso wie zu Pfingsten."
    Joachim Ringelnatz
    "Bricht der erste Morgen des neuen Jahres an, so erscheint der Himmel nicht anders als am Tage zuvor, aber doch ist einem seltsam frisch zumute."
    Yoshida Kenko
    "Jedes Jahr umarmen wir die erste Stunde – ohne zu wissen, wer sie ist."
    Klaus Ender
    "Viel zu riskant, meinte der Pessimist an der Schwelle des Neuen Jahres."
    Erwin Koch
    "Ein neues Buch, ein neues Jahr
    Was werden die Tage bringen?
    Wird's werden, wie's immer war
    Halb scheitern, halb gelingen?"
    Theodor Fontane
    Dichter und Sonntagsdichter, kleine und große Philosophen – und wir alle suchen das Phänomen Jahreswechsel in Sinnsprüchen zu begreifen, die einen ernst, die anderen heiter, mal spöttisch-frech, mal feierlich.
    "Das alte Jahr hat's schlau gemacht,
    fort ist's bei Nebel und bei Nacht.
    Zum großen Glück für fern und nah,
    war auf der Stell ein andres da."
    Johann Peter Hebel
    "Ich kann freilich nicht sagen, ob es besser wird, wenn es anders wird, aber so viel kann ich sagen: Es muss anders werden, wenn es gut werden soll."
    Georg Christoph Lichtenberg
    "Am Neujahrsmorgen
    Luftschlangen, Geschirr, Gläser
    Ein Kater im Kopf."
    Eprom
    "Die Menschen freuen sich verständlicherweise mehr über einen Jahreswechsel als über die Wechseljahre!"
    Willy Meurer
    "Ein neues Jahr erscheint,
    drum muss ich meine Pflicht entrichten,
    die Ehrfurcht heißt mich hier aus reinem Herzen dichten,
    so schlecht es aber ist, so gut ist es gemeint."
    Goethe
    Zwischen den Jahren ist die Zeit der Vor- und Rückschau. Nicht nur im persönlichen Leben, sondern auch im öffentlichen Bewusstsein. Jeder Fernsehkanal, jedes Zeitungsjournal bringt seinen Jahresrückblick. So rekapituliert die Nation, wer gestorben ist im vergangenen Jahr und was die bedeutendsten Ereignisse waren, Katastrophen und Skandale, Wahlsiege und Sporttriumphe.
    Doch noch mehr interessiert der Ausblick in die Zukunft. Die bange, erwartungsvolle Frage, was auf uns zukommt. Deshalb hat die Vorausschau Konjunktur: Sei es im wissenschaftlichen Gewand der statistisch unterfütterten Prognosen und Szenarien, sei es im luftig-spekulativen Kleid der Jahreshoroskope. Und nicht zufällig gehört das Bleigießen hierzulande zu den beliebtesten Silvesterbräuchen.
    "Natürlich ist auch für uns wichtig, ein Gefühl zu haben für das, was kommt. Deshalb sind diese Wahrsagepraktiken und die Versuche, das Jahr glücklich zu gestalten, mit allerlei Symbolen und kleinen Ritualen insbesondere in dieser Nacht ausgeprägt."
    Im Grunde ist das Bleigießen eine spielerisch-moderne Form von Orakel wie es sie seit der Antike gibt, erläutert Klaus E. Müller:
    "Da befragt man die Zukunft direkt an einem Gegenstand, an einem Geschehen, an der Verhärtung des erhitzten Bleis. Es gibt noch eine Reihe anderer Möglichkeiten, die man an Neujahr praktiziert, um herauszufinden, was die Zukunft bringt: Sie können würfeln, Sie können spielen, Sie können sich im Trinken üben. Das Bleigießen ist nur die letzte Form, die wir haben."
    Parallelen zwischen Übergangsriten und lebendigen Ritualen
    Klaus E. Müller sieht Parallelen zwischen den Übergangsriten der Stammesvölker und alten Kulturen einerseits und Bräuchen und Vorstellungen im mittelalterlichen Europa andrerseits, die im Volksglauben bis ins 20. Jahrhundert lebendig blieben. Insbesondere die Vorstellung, dass zwischen den Jahren die gewohnte Ordnung außer Kraft gesetzt sei, sodass die Welt gleichsam aufklafft und in dieser Lücke Außerordentliches geschehen kann, im positiven wie im negativen Sinne. So sei in dieser Zeit auch der Blick in die Zukunft möglich.
    Ein alter Volksglaube besagt: Wenn man in den Raunächten, auch Losnächten genannt, zwischen dem 24. Dezember und dem 6. Januar etwas träumt, so erfüllt sich das im kommenden Jahr. Und zwar der Traum der ersten Raunacht im Januar, der Traum der zweiten Raunacht im Februar und so fort.
    "Leute, die dafür begabt sind, haben vor allen Dingen während der Neujahrsnächte Gesichte, die die Zukunft betreffen. Das ist das eine. Zum anderen gelten Träume, die man während dieser Nächte hat, als wahrheitsverdächtig. Die haben einen höheren Wahrheitsgehalt. Und man achtet in dieser Zeit auf sogenannte Omina, wenn eine Sternschnuppe fällt oder wenn plötzlich ein Vogel ins Haus fliegt. diese Dinge werden dann besonders beachtet, sie bedeuten unbedingt etwas für die Zukunft."
    Noch heute hört man im bayrischen Wald die abergläubische Warnung: Wenn man in den drei Raunächten, Christnacht, Neujahrsnacht und der Dreikönigsnacht Wäsche zum Trocken über die Nacht im oder am Haus hängen hat, zieht man das Unheil auf das Haus und es stirbt jemand in der Familie."
    Wenn man das westliche Neujahrsfest nicht isoliert betrachtet, sondern als integralen Teil einer Zeitspanne von Weihnachten bis zum Dreikönigstag, im Kontext der Raunächte, dann zeigen sich größere Ähnlichkeiten zum Beispiel mit dem chinesischen Neujahrsfest, wo der Mythos vom Kampf gegen böse Geister noch geläufig ist. Aber wie groß ist die Schnittmenge zwischen den verschiedenen Neujahrsfesten wirklich, wie viel Gemeinsamkeit gibt es? Das ist ja keine abstrakt theoretische Frage, sondern von konkretem praktischem Interesse in einer globalisierten Welt, wo Menschen unterschiedlicher Kulturen enger zusammenleben als jemals zuvor.
    Eva Orthmann: "Ich würde als etwas Gemeinsames sehen, dass man überhaupt einen bestimmten Punkt im Jahreslauf als Neujahr bezeichnet. Dass es einem überhaupt wichtig ist, sich zu überlegen, wann fängt ein neues Jahr an und dem eine Bedeutung beizumessen."
    Hermann Simon: "Ich glaube schon, dass man gewisse Zäsuren im Laufe des Jahres braucht. Dass man da einfach einmal einen Schnitt macht, sich besinnt, mal das Vergangene Revue passieren lässt, mal ein bisschen in sich geht. Da sind mindestens die Kulturen, in denen wir zuhause sind, sehr ähnlich."
    Peiling Cui: "Wie ich beobachtet habe, gehören zum Neujahrsfest, zum Jahreswechsel einige Gemeinsamkeiten: zum Beispiel das Zusammentreffen der Familienmitglieder oder Freunde. Nach einem ganzen Jahr Arbeit wollte man sich endlich noch einmal mit den engsten Menschen treffen - das ist ganz wichtig. Und zweitens wollte man mit dem Beginn des neuen Jahres neue Hoffnungen, neue Wünsche für das kommende Jahr äußern."
    Essen als Grundelement
    Offensichtlich ist das Zusammenkommen der Familie bei einem festlichen Essen ein Grundelement, das die Neujahrsfeste der verschiedenen Kulturen eint. In den jeweiligen Kulturen sind die Feste mit bestimmten Brauchspeisen verknüpft: Fisch in China, Süßspeisen bei den Juden. Und in Europa muss unbedingt Sekt als exklusives Getränk dabei sein. Ebenso gehören zu einem kulturübergreifenden Repertoire die Glückwünsche an alle Verwandten und Freunde: Gesundheit, Gelingen und Wohlstand im Neuen Jahr. Und dann findet man eine Reihe von Übergangsritualen, die meist archaischen Ursprungs sind.
    Dann zeigen sich aber auch die Unterschiede, die mit dem religiösen oder weltlichen Ursprung und mit den verschiedenen Kalendersystemen zusammenhängen: Das chinesische und das altpersische Neujahrsfest begrüßen den Frühling, das jüdische hingegen fällt in den Herbst. Und dieses jüdische Neujahr wiederum ist besonders religiös geprägt, fordert Andacht und moralische Selbstreflexion. Damit steht es in genauem Gegensatz zum westlichen Neujahr, das bis in die römischen Ursprünge hinein immer schon sehr weltlich und ausgelassen gefeiert wurde.
    Auffallend, resümiert der vergleichende Kulturwissenschaftler Manuel Trummer von der Universität Regensburg, sei auch die unterschiedliche Dauer der Feste. Das westliche Silvester/Neujahr präsentiert sich heute als singuläres Event, auch wenn seine Vorgeschichte anders ist. Dagegen erstreckt sich das chinesische Neujahrsfest über mehr als zwei Wochen. Und wenn man die An- und Abreisen einberechnet, dann okkupiert es einen ganzen Monat.
    Das interkulturelle Zusammenleben hat schon dazu geführt, dass Menschen mit Migrationshintergrund an mehreren Neujahrsfesten partizipieren, dem ihrer Herkunftskultur ebenso wie an der Tradition, die an ihrem Wohn- und Lebensort dominiert. Hermann Simon bestätigt es in Bezug auf die Jüdische Gemeinde in Berlin.
    "Wir haben aber die Chance, beides zu feiern, was auch, glaube ich, viele tun. Denn viele unserer Mitglieder stammen ja aus der ehemaligen Sowjetunion, aus den GUS-Staaten. Und insbesondere in Russland, in der Ukraine spielte das Neujahrsfest, also das bürgerliche Neujahr, eine ganz große Rolle. Unsere Russen, wie man so salopp formuliert, feiern nicht nur Rosch Haschana, sondern manche vielleicht auch vornehmlich dieses bürgerliche Neujahr, also Silvester vom 31. Dezember zum 1. Januar."
    In Zeiten der Globalisierung erfährt das Neujahrsfest, so kritisiert Manuel Trummer, eine immer stärkere Ökonomisierung. Kommerzielle Veranstalter, aber auch Städte und Organisationen übertreffen einander darin, zum Jahreswechsel aufwendige Events zu veranstalten, die noch exklusiver und raffinierter sind, die immer noch exquisitere Genüsse verheißen. Auf kommerzielle Weise kommen sie jenem Bedürfnis entgegen, dass Feste sich unbedingt vom Alltag abheben sollen, indem sie außergewöhnliche Speisen bieten.
    "Und obwohl wir sehr verwöhnt sind: Zu Silvester, zu Neujahr muss es etwas Besonderes zu essen geben. Auch, wenn es uns inzwischen schwer fällt, noch etwas Besonderes zu finden, ist das die Idee dahinter. Etwas Exquisites, etwas, was ausnahmsweise gegessen wird, also nicht jeden Tag. Und vielleicht Champagner dazu. Also es muss einfach die Ausnahmesituation ein Stück weit manifestiert sein."
    Das gemeinsame Essen ist zentraler Bestandteil aller Neujahrsfeste, unbestrittener Mittelpunkt, ein eigenes Fest im Fest. Es ist das wichtigste Ritual des Übergangs. Und davon haben die verschiedenen Kulturen viele entwickelt. Eines der schönsten Rituale verdanken wir Wien und seiner Musik. Denn wie kann man leichter, eleganter, beschwingter, froher, wenn auch mit einem Hauch Wehmut ins Neue Jahr hinüberschreiten - nein: hinüberschweben - als zu den Klängen des Donauwalzers.