Archiv


Neuland

Die Lehrbücher der Biologie müssen umgeschrieben werden: Kleine RNA-Moleküle spielen plötzlich eine Hauptrolle in der Wissenschaft vom Leben. Die Schnipsel helfen, die Funktion von Erbanlagen zu verstehen. Ihre Entdeckung aber begeistert nicht nur Grundlagenforscher. Auch Mediziner glauben, mit ihnen ein neues Werkzeug in der Hand zu haben, um eines Tages Krankheiten heilen zu können. Erste Tests am Menschen haben bereits begonnen.

Von Michael Lange und Martin Winkelheide | 30.03.2008
    Manchmal muss man einfach nur die Augen offen halten.

    "”In jeder Sekunde geschieht es, Ihr ganzes Leben lang. In jeder Ihrer Zellen. Auch jetzt. Sie könnten sonst nicht überleben. Es steuert die gesamte Entwicklung von uns Menschen - angefangen vom Embryo. Immer wenn sich neue Gewebe bilden, spielt es eine Rolle. Es passiert um uns herum - zu jeder Zeit.""

    Dann sieht man, ..... . Und dann staunt man. Aber vielleicht sollte ich die Geschichte von Anfang an erzählen.
    "Neuland.
    Kleine RNAs verändern das Weltbild der Biologie.
    Von Michael Lange und Martin Winkelheide."

    Wir waren unterwegs auf dem Atlantik. Was heißt unterwegs? Seit drei Wochen Flaute. Kein Lüftchen. Das Frisch-Wasser ging zu Neige. Und die Besatzung war – höflich ausgedrückt: auf Krawall frisiert. Am 20. Tag kam Nebel auf. Jetzt ist es aus, dachte ich. Dann endlich, am Morgen des 21. Tages – eine kleine Brise.
    Ich ließ sofort Segel setzen. Plötzlich vom Ausguck am Hauptmast der Ruf: Land in Sicht. Land, was für ein Land? Hier gibt es kein Land, raunzt mir der Steuermann zu. Auf der Karte – alles blau. Keine Insel, nichts.
    Sollte an den Gerüchten doch was dran sein? Der geheimnisvolle Kontinent – doch kein Seemannsgarn?


    In den 90er Jahren schienen die wichtigsten Fragen der Biologie beantwortet zu sein. Die Forscher wussten, wie die Erbinformation bei Pflanzen, Tieren und Menschen gespeichert ist: auf dem Erbmolekül, der DNA. Und man konnte die Erbinformation lesen. In großen Forschungsprojekten wurde das Erbgut von Bakterien, Pflanzen, Tieren und sogar des Menschen Buchstabe für Buchstabe entziffert. Andere Wissenschaftler übertrugen Erbinformation von einer Art auf eine andere: Von Tieren auf Pflanzen, von Menschen auf Tiere. Die Möglichkeiten dieser Gentechnik schienen unbegrenzt.

    "Wir begannen in den frühen 90er Jahren mit unseren Pflanzenexperimenten. Wie es oft so ist, kam der Fortschritt durch ein völlig unerwartetes Ergebnis."

    David Baulcombe, Pflanzengenetiker aus Großbritannien. Damals arbeitete er an der Universität Norwich, heute in Cambridge.

    "”Wir wollten Pflanzen gentechnisch so verändern, dass sie unempfindlich sind für bestimmte Viruskrankheiten. Deshalb schleusten wir Gene in die Pflanzen ein. Mit ihnen wollten wir verhindern, dass Viren sich in den Pflanzenzellen vermehren können. Das war jedenfalls unser Konzept. Wir machten das Experiment, und alles verlief nach Plan. Die Pflanzen wurden resistent gegen das Virus. So weit - so gut. Bis wir auf die Idee kamen, nachzugucken, ob das Gen auch korrekt arbeitete. Tatsächlich: das Gen war da – aber es war stumm.""

    Das eingeschleuste Erbmolekül war zwar in der Zelle zu finden, aber die Information wurde nicht abgelesen. David Baulcombe und seine Kollegen kamen ins Grübeln.

    "Das ergab doch keinen Sinn. Das Gen zeigte Wirkung, obwohl es doch ausgeschaltet war. Bis wir herausfanden: Irgendetwas hatte das Gen ausgeschaltet und gleichzeitig das Virus unschädlich gemacht. Durch diesen merkwürdigen Mechanismus war die Pflanze resistent geworden."

    "Land in Sicht". Seit diesem Ruf war die Mannschaft nicht zu bändigen.
    An Backbord wurde – kaum war der Anker geworfen – das Beiboot zu Wasser gelassen. Wer mochte dort leben? Würden die Einheimischen uns freundlich empfangen? Oder waren es vielleicht Kannibalen? Aber wie so oft: die Neugier war stärker als die Furcht. Und wir ruderten auf die unbekannte Küste zu. Nicht ahnend, was uns dort erwarten würde.


    Gemeinsam mit seinem Kollegen Andrew Hamilton machte sich David Baulcombe auf die Suche nach der Ursache: Warum war das Gen verstummt? Wieso waren trotzdem keine Pflanzenviren mehr nachweisbar? Was war die biologische Ursache für diesen Effekt?

    "”Mein Kollege Andrew Hamilton fand schließlich ein kleines RNA-Molekül. Es ist inzwischen berühmt. Es war der erste Vertreter einer neuen Klasse von Molekülen, die Gene stumm schalten können: Mikro-RNAs. Der Mechanismus heißt heute RNA-Interferenz.”"

    David Baulcombe und Andrew Hamilton hatten biologisches Neuland betreten. Sie hatten einen Mechanismus entdeckt, der die Aktivität von Genen viel präziser erklärt als die Modelle, mit denen sich die Wissenschaft bis dahin beholfen hatte. Gene sind Erbinformation. Gespeichert auf dem Erbmolekül DNA. Wenn ein Gen aktiv ist, bedeutet das: Eine Abschrift wird erstellt. Diese so genannte Boten-RNA trägt für gewöhnlich die Information für die Herstellung eines Proteins. Die Mikro-RNAs können einzelne Boten-RNAs erkennen und sich mit ihnen verbinden. Die Folge: Die Boten-RNA endet in einer Art Schredder. Dort wird sie zerstört bevor sie ihre Information weiter geben kann. Es entsteht kein Protein – oder nur wenig. Genau betrachtet wirkt die Mikro-RNA wie eine Art "Dimmer”. Baulcombe:

    "”Wenn Sie etwas exakt einstellen wollen, dann brauchen Sie mehr als einen einfachen Schalter für "An" und "Aus". Sie müssen dosieren können: ein bisschen mehr, ein bisschen weniger. So ist das auch in der Biologie. Und seit wir die RNA-Interferenz kennen, verstehen wir, wie diese Feinabstimmung funktioniert. Wir können besser erklären, wie die Aktivität von Genen reguliert wird. Dieses Forschungsfeld entwickelt sich rasant. Sie können sicher sein: Die Biologie-Lehrbücher müssen umgeschrieben werden.""

    David Baulcombe und Andrew Hamilton würden in den Lehrbüchern als Entdecker der RNA-Interferenz erwähnt - wenn sie nicht so vorsichtig gewesen wären......

    "”Aber Andrew war sehr vorsichtig – wie wir Wissenschaftler so sind. Er wollte sicher sein, dass seine Entdeckung kein Messfehler war. Und wir mussten prüfen, ob diese Experimente tatsächlich wiederholbar sind. So dauerte es eine Weile, bis wir die Ergebnisse veröffentlichten.""

    Andere Kollegen waren schneller. In den USA hatten Craig Mello und Andrew Fire genau denselben Mechanismus entdeckt an Fadenwürmern der Art c. elegans. Und sie hatten schneller veröffentlicht. Damit waren sie die Entdecker der RNA-Interferenz.

    "”Es handelte sich um einen sehr starken Effekt. Die Gene waren für eine lange Zeit ausgeschaltet. Damit hatten wir nicht gerechnet. Und denselben Mechanismus fand man später auch bei vielen anderen Organismen.""

    Craig Mello und Andrew Fire haben für ihre Entdeckung im Jahr 2006 den Nobelpreis für Medizin und Physiologie erhalten. Der neue Wissenschaftszweig, die RNA-Interferenz, lässt viele Erkenntnisse der Genetik in einem neuen Licht erscheinen. Heute weiß man: Es ist wichtig, die genetische Information auf dem Erbmolekül zu kennen. Genau so wichtig aber ist die Steuerung, die Regulation der Gene. Und dabei spielen die kleinen RNA-Moleküle eine Schlüsselrolle. Baulcombe:

    "Die Biologie und ganz besonders die Molekularbiologie hat sich gewandelt. Denn wir erforschen heute das Erbgut als Gesamtheit. Wir sehen uns in einem einzigen Experiment alle 25.000 bis 30.000 Gene zugleich an, und außerdem die Proteine und Stoffwechselprodukte. Das heißt: Wir betrachten heute das System, den Organismus als Ganzes. Und jetzt können wir dank der RNA als regulatorisches Molekül dieses System besser durchschauen. Das ist sehr spannend, denn wir wissen nicht, wohin uns das führen wird. Wir denken heute anders über lebende Systeme - auf eine Art, wie es uns vorher überhaupt nicht möglich war."

    In einer einsamen Bucht gingen wir an Land. Nach Wochen endlich wieder festen Boden unter den Füßen. Weißer Sand, so weit das Auge reichte. Palmen, Bäume mit allerlei exotischen Früchten und unweit der Küste: ein See mit kristallklarem Wasser. Wir konnten unser Glück kaum fassen. Fast hätten wir unsere Pflicht vergessen: Mit Tränen in den Augen hissten wir die Flagge und tauften das Land nach unserer Königin.

    Nur wenige Jahre nach ihrer Entdeckung sind kleine RNA-Moleküle zu einem wichtigen Instrument der Wissenschaft und der Biotechnologie geworden. Sie lassen sich leicht im Labor konstruieren und können zielgenau eingesetzt werden.
    Eine kleine RNA schaltet ein ganz bestimmtes Gen stumm oder dimmt es. "Silencing" nennen das die Wissenschaftler. siRNAs sind ideale Werkzeuge für den Laborbetrieb. "si" steht für small interfering – frei übersetzt: klein und eingreifend. Das Biotechnologie-Unternehmen Qiagen in Hilden bei Düsseldorf hat früh die Bedeutung der kleinen RNA-Moleküle erkannt.

    "Die Technologie für Anwendungen im Humanbereich ist ja 2001 zum ersten Mal publiziert worden. Und Qiagen hat dann Ende 2001 auch den Einstieg in die RNAi-Technologie gestartet."

    Die Biologin Bettina Hädrich ist Produktmanagerin bei Qiagen.

    "Ich kann mich an keine andere Technologie erinnern, die so schnell den Weg von der ersten Publikation zu nahezu jedem Labor weltweit wirklich geschafft hat. Und RNAi ist eine Technologie, die man relativ einfach anwenden kann, und eine Antwort auf sehr viele Fragestellungen liefern kann, und das ist wirklich die Bedeutung."

    Qiagen ist Marktführer in Europa und weltweit einer der größten Verkäufer von kleiner RNA. Die Kunden sind vor allem Wissenschaftler an Universitäten, Forschungsinstituten und in der Pharmaindustrie. Bettina Hädrich:

    "Wir haben hier eine Datenbank mit siRNAs für verschiedene Genome, zum Beispiel für das menschliche Genom. Und insgesamt haben wir hier über 300.000 verschiedene siRNAs abgelegt."

    Die passende RNA zum richtigen Gen finden die Kunden im Katalog. Bestellt wird per Internet. Hädrich:

    "Und ich kann jetzt hier einfach nach einem Gen suchen, kann jetzt einfach einen Code eingeben für ein Gen. Zum Beispiel 385 und nach diesem Gen suchen. Das ist das Gen Kaspase. Kaspase 2, das zum Beispiel in der so genannten Apoptose oder im Zelltod eine Rolle spielt. Und dann kann ich mir hier alle siRNAs ansehen, die wir nun hier vorliegen haben, mit denen wir genau dieses eine Gen ausschalten oder "silencen" können."

    Meist gibt es gleich mehrere kleine RNAs, die dasselbe Gen ausschalten. Der Wissenschaftler hat dann die Wahl. Hädrich:

    "Ja, wir können uns jetzt hier aussuchen, welche siRNA wir nehmen. Eine von den hier eingezeichneten können wir auswählen. Hier sind zum Beispiel auch siRNAs dabei, die wir schon einmal getestet haben. Und von denen wir wissen: Wie gut funktioniert sie? Und wie gut kann sie ein Gen ausschalten? Wenn wir jetzt diese siRNA gerne bestellen möchten, müssen wir sie in den Warenkorb stecken. Für 82 Euro bekommen Sie ein Nano-Mol. Das ist die Mengeneinheit für siRNAs, und mit dieser Menge kann man Hunderte von Versuchen durchführen."

    Die Lieferung kommt per Post – direkt ins Labor. Hädrich:

    "Der Forscher bekommt die siRNA in einem kleinen Röhrchen. Und da ist die siRNA getrocknet als Pulver, in dem Röhrchen verpackt. Im Labor würde man dann einen bestimmten Puffer, eine bestimmte Salzlösung auf dieses Pulver geben, um das wieder aufzulösen und dann die siRNA damit wieder in die Form zurückzubringen, mit der wir den Versuch durchführen können."

    Die RNA muss nicht sofort verbraucht werden. Getrocknet sind die kleinen Moleküle stabil und können jahrelang aufbewahrt werden. Ein ideales Werkzeug für die Genforschung.

    Die Sonne erhob sich strahlend über dem Atlantik. Und die Wellen schlugen sanft an den Strand. Da gab ich das Signal zum Aufbruch. Ich wollte das Land erkunden, das wir für die Krone in Besitz genommen hatten. Kaum hatten wir den See umquert, da spürte ich: Wir sind nicht allein. Genau, sagte mein Steuermann: "Wir werden beobachtet." Und da standen sie schon vor uns. Ein Dutzend Männer in prächtigen Gewändern. Einige schwer bewaffnet. Sie stießen kehlige Laute aus.
    War das unser Ende?


    Aus der Forschung ist die RNA-Interferenz nicht mehr wegzudenken. Der nächste Schritt wäre der Einstieg in die Medizin. Denn mit der RNA-Interferenz ist es möglich, krank machende Gene unschädlich zu machen. Einfach, indem man sie ausschaltet oder dimmt.
    "Es ist ein neues therapeutisches Konzept, das möglich wurde durch die ganzen Entdeckungen in der Mikro-RNA-Biologie in den letzten Jahren."

    Jürgen Soutschek war von Anfang an beteiligt bei der Erforschung der RNA-Interferenz. Zuerst bei dem Biotechnologie-Unternehmen "Ribopharma" im fränkischen Kulmbach. Dann bei "Alnylum" in Boston. Jetzt arbeitet Jürgen Soutschek in Kalifornien bei der Firma "Regulus" in Carlsbad. In den letzten Jahren beobachtet er, dass auch die großen Pharma-Unternehmen aufmerksam werden.

    "Es ist ganz klar: Der Druck ist riesig auf so Firmen wie Alnylum oder auch Regulus, schnell Erfolge zu zeigen. Das Konzept wurde bewiesen. Und die Pharma-Industrie, die größeren Betriebe, haben im ersten Kontakt gesagt: Zeigt uns, dass es funktionieren kann. Das haben wir gemacht, und dann ist auch das Interesse immens gestiegen."

    Die Erprobung in klinischen Studien am Menschen hat bereits begonnen. So unterschiedliche Krankheiten wie Fettstoffwechsel-Störungen, Hepatitis C, Leberzellkrebs und Morbus Huntington sollen mit Hilfe kleiner RNA-Moleküle geheilt werden. Soutschek:

    "Also, es geschieht sehr viel in dem Feld, und es ist einiges zu erwarten. Den Beweis, dass es im Menschen funktioniert, der wurde noch nicht erbracht, aber der wird hoffentlich im nächsten Jahr von einigen Seiten her zumindest zum Teil oder komplett, dass es möglich ist."

    Ein Hauptproblem, das die Forscher lösen müssen: Wie kommen die RNA-Schnipsel dorthin, wo sie wirken sollen - in die kranken Zellen hinein? Jürgen Soutschek:

    "So ein Molekül in die Zelle zu kriegen, ist eine große Herausforderung.
    Da müssen viele Sachen stimmen: Es muss stabil sein. Im Blut gibt es sehr viele aggressive Bestandteile, die es kaputt machen können. Und es muss zur Zelle kommen, und dann muss es auch in die Zelle hinein gehen."

    Besonders gut scheinen sich die kleinen RNA-Moleküle zur Bekämpfung einer Viruskrankheit zu eignen: der Infektion mit RS-Viren zum Beispiel. Diese Viren befallen die Atmwege und sind eine Ursache von Pseudokrupp bei Kindern. Der Virologe Bryan Cullen von der Duke University in Durham im US-Bundesstaat North Carolina:

    "”Von der Krankheit sind besonders häufig kleine Kinder betroffen. Es kommt zu einer heftigen Entzündung der Luftröhre und der Bronchien. Manchmal schwillt die Luftröhre so zu, das die Kinder zu ersticken drohen. In der Regel ist die Krankheit nicht tödlich, aber sie ist sehr, sehr unangenehm für die Babys.""

    Die Behandlung mit RNA-Schnipseln ist in diesem Fall besonders einfach. Denn das RS-Virus befällt nur die Schleimhaut der oberen Atemwege. Wenn Patienten den experimentellen Wirkstoff einatmen, gelangt die RNA in die Schleimhautzellen hinein und blockiert die Virus-Gene. Die Folge: das Virus kann sich nicht vermehren. Eine erste klinische Studie mit dem neuartigen Wirkstoff befindet sich bereits in Phase zwei. Das heißt: die Behandlung ist verträglich. Jetzt geht es darum, die Wirksamkeit der Therapie zu beweisen. Cullen:

    "”Nach diesem Prinzip müssten sich auch Wirkstoffe gegen Grippe-Viren entwickeln lassen. Auch die Influenza-Viren befallen zunächst die Atemwege. Patienten könnten die RNA-Schnipsel gegen Influenza-Viren so ähnlich einnehmen, wie Menschen mit Asthma das auch machen – als Spray.""

    Künstliche RNAs eignen sich nach Ansicht von Bryan Cullen von der Duke University vor allem zur Behandlung von akuten Infektionen der Atemwege. Viren, die etwa das Herz oder das Gehirn befallen, werden sich so auf absehbare Zeit nicht bekämpfen lassen. Noch fehlt es an geeigneten Transportmitteln, um kleine RNAs gezielt in infizierte Herz- oder Gehirn-Zellen hinein zu bringen.

    Die Fremden führten uns in ein palastähnliches Haus. Mit einem großen Innenhof. Acht Jünglinge trugen eine Sänfte in den Hof. Darin ein älterer Mann in einem purpur-roten Gewand. Alle Umstehenden verbeugten sich tief. "Bestimmt der Chef hier", sagte der Steuermann. "Oder ein Priester", entgegnete ich. "Vielleicht auch der Medizinmann." Der würdige Alte überreichte jedem von uns ein glänzendes, kleines Kästchen. "Sieht aus wie Gold", raunzte der Steuermann. Ich widersprach ihm nicht.

    Der Einsatz der RNA in der medizinischen Praxis steht ganz am Anfang. Zunächst müssen noch wichtige Fragen beantwortet werden: In welche Organe lassen sich die kleinen RNA-Moleküle ohne großen Aufwand transportieren? Wo ist das Risiko für unerwünschte Nebenwirkungen am geringsten? Schließlich könnte es passieren, dass falsche Gene ausgeschaltet werden. Am einfachsten müsste eine Behandlung mit RNA im Auge sein, dachten sich die Forscher der Biotechnologie-Firma Sirna – der Name steht für siRNA – in Boulder Colorado. Im Herbst 2004 begann die erste klinische Studie zur Behandlung der altersabhängigen Makula-Degeneration. Diese Augenerkrankung ist ein Spezialgebiet von Frank G. Holz. Er leitet die Universitäts-Augen-Klinik auf dem Bonner Venusberg.
    "Die Symptome für den Patienten sind bei der Spätform, bei der feuchten Spätform insbesondere, dass plötzlich gerade Linien krumm erscheinen, dass Verzerrungen auftreten, dass kleine Buchstaben beim Lesen nicht mehr erkannt werden oder Gesichter auch verzerrt erscheinen. Mit weiterem Fortschreiten der Erkrankung entsteht ein kompletter Ausfall dieser Sehmitte, dieser Stelle des schärfsten Sehens und dann entstehen regelrecht auch Löcher im Gesichtsfeld."

    Ursache für den fortschreitenden Sehverlust sind Entzündungen in der Netzhaut der Patienten. Blutgefäße bilden sich neu und verdrängen die Sehzellen. Angestoßen wird dieser krankmachende Prozess von einem Botenstoff: Sein Name VEGF. Holz:

    "Es gab jetzt erst vor kurzem einen Durchbruch in der Therapie dieser feuchten Spätform. Es ist eine Hemmung eines Botenstoffes durch Medikamente, die in das Auge gespritzt werden. Dieser Botenstoff trägt die Abkürzung VEGF. Das Medikament bindet hoch selektiv an diesen Botenstoff, der all diese schwierigen Folgen nach sich zieht. Und dadurch wird er quasi neutralisiert, lahm gelegt und diese Schwellung geht zurück und die Gefäße gehen zurück."

    Die Therapie funktioniert. Das Fortschreiten der Krankheit wird aufgehalten; die Patienten können wieder besser sehen. Vielleicht könnten kleine RNA-Moleküle ähnlich erfolgreich sein. Oder sogar besser. Denn sie könnten dafür sorgen, dass der schädliche Botenstoff, der Wachstumsfaktor VEGF, gar nicht erst gebildet wird. Die RNA-Schnipsel müssten ebenso wie das Medikament direkt ins Auge gespritzt werden. Holz:
    "Das Auge bietet sich nun phantastisch dafür an, Medikamente direkt an den Wirk-Ort zu bringen, eben durch diese Spritzen ins Auge. Das klingt unangenehm, wird aber sehr, sehr gut toleriert von den Patienten, auch wenn sie mehrfach verabreicht werden müssen. Aber, man hat dadurch in der Regel praktisch nicht mit Nebenwirkungen im sonstigen Organismus zu rechnen, sondern man braucht nur ganz geringe Dosierung, um am Zielort, eben dieser Macula, der Netzhaut den Effekt zu erzielen. Diese RNA-Interferenz wäre sehr aussichtsreich, um wiederum diesen Botenstoff VEGF nicht zu hemmen oder zu neutralisieren, sondern seine Bildung zu unterdrücken schon in den Zellen, die für die Bildung verantwortlich sind. Und das wäre ein sehr elegantes Therapie-Prinzip. Es wäre dann zu beweisen, ob es in seiner Wirksamkeit dem jetzigen Prinzip – nämlich der Neutralisierung – wenn das Protein schon gebildet ist - überlegen wäre."

    Zu den Chancen der RNA-Interferenz als Therapie der Macula Degeneration äußert sich Frank G. Holz vorerst nicht. Er wartet auf die Ergebnisse der klinischen Studien. Holz:

    "Ob das Ganze nun am menschlichen Auge funktioniert, wird untersucht, aber es stehen Ergebnisse noch aus und es ist noch zu früh zu sagen, ob sich dieses Therapieprinzip dann auch tatsächlich in den Erwartungen so bewahrheitet und erfüllt, wie man sich das wünscht."

    Weit mehr Potential sieht der Augenspezialist bei Augenkrankheiten, für die ein einzelnes defektes Gen verantwortlich ist. Zum Beispiel bei der Retinitis pigmentosa, bei der das Sehfeld immer kleiner wird – bis zur völligen Erblindung. Holz:

    "Ich denke, die RNA-Interferenz als Therapieprinzip besitzt viele Möglichkeiten gerade bei Augenerkrankungen, bei zu Erblindung führenden Augenerkrankungen, aber es ist noch in einem ganz frühen Entwicklungs-Stadium und braucht sicherlich noch etliche Jahre, bis es bei den Patienten ankommt."

    Drei Jahre erst sind vergangen seit Beginn der ersten klinischen Studien mit kleinen RNA-Schnipseln. Wie erfolgreich die RNA-Interferenz in der Medizin sein wird, lässt sich heute nicht absehen. Dafür ist es viel zu früh.

    Reich beschenkt erreichten wir die Heimat. Dann ging es an den Hof.
    Eben noch ein einfacher Seefahrer, und jetzt.... . Na ja, nach dem Ritterschlag jedenfalls nahm mich der königliche Schatzmeister beiseite. Er zwinkerte mir zu: Ein Schatzkästlein kommt selten allein. Auf, auf! Fahrt erneut! Im Namen der Krone.


    Aus der Grundlagenforschung sind die kleinen Moleküle nicht mehr weg zu denken. Sie haben die Wissenschaft stärker verändert als Stammzellen, Gentherapie oder Klontechnik. Fast jeder Wissenschaftler nutzt heute die RNA-Interferenz. Und dennoch sind längst nicht alle Fragen beantwortet. So machte der Molekularbiologe Francois Cuzin an der Universität Nizza eine merkwürdige Entdeckung.

    "”Unsere Entdeckung war möglich, weil wir ein sehr einfaches Tiermodell haben. Es geht um die Fellfarbe von Mäusen. Und die sieht man; Sie müssen nur nach Mäusen mit einem weißen Schwanz suchen. Ganz einfach.”"

    In Nizza züchtete ein Forscherteam Mäuse. Genetisch einheitliche Mäuse. Alle Tiere müssten gleich aussehen: braunes Fell, dunkler Schwanz. Aber immer wieder gab es ein paar Tiere, die anders aussahen. Sie hatten weiße Pfoten und weiße Schwanzspitzen. Francois Cuzin schaute sich die Gene der Mäuse genauer an. Er wollte wissen, wie die Fellfarbe vererbt wird.

    "Der Effekt sieht aus wie bei einer genetischen Veränderung, einer Mutation. Aber wir haben gezeigt, es ist nicht das Erbmolekül, das verändert ist, die DNA. Stattdessen haben wir kleine RNA-Moleküle gefunden und zwar in den Spermien der Mäusemännchen. Das war eine Überraschung. Denn diese RNA-Moleküle waren tatsächlich verantwortlich dafür, dass die Mäuse weiße statt dunkle Schwanzspitzen hatten."

    Die Forscher vermuten, dass es sich nicht um eine Kuriosität handelt oder eine Besonderheit allein bei Mäusen, sondern um ein biologisches Prinzip. Eine Vererbung, die über kleine RNA-Moleküle erfolgt. Vererbt werden so keine Gene - sondern Genaktivitäten. Diese Form der Vererbung ohne Gene könnte bei allen Säugetieren vorkommen - auch beim Menschen. Davon ist Francois Cuzin überzeugt.

    "”Auch in den Spermien von Männern stecken viele kleine RNA-Moleküle. Die Forscher, die das entdeckten, konnten nicht viel anfangen mit ihrem Fund. Wir können ihnen jetzt eine mögliche Erklärung bieten: Die RNA kann im Embryo Gene an- und ausschalten – sie steuert also die Genaktivität.""

    Auf welche Gene die RNA Einfluss nimmt, die in den Spermien mitreist, das ist unbekannt. Wie bedeutsam diese Form der Vererbung ist, können die Forscher nicht sagen. Die Wissenschaft steht – auch hier - noch ganz am Anfang.

    Wir nahmen ein noch größeres Schiff. Wir brauchten Laderaum.
    Ich heuerte eine frische Mannschaft an. Wir mussten uns beeilen. Wir würden nicht die einzigen sein auf dem Weg zu dem neuen Kontinent.