Es war ein vergilbtes Foto von 1927, das Sylvia Lange Anfang der 1990er-Jahre nach Eisenach führte: ein verträumtes, mit Holz verkleidetes Haus, idyllisch am Waldrand – hoch über der thüringischen Stadt gelegen. Was die Politologin vorfand, erstaunte sie. Das "Neulandhaus", über Jahrzehnte Ort kirchlicher Jugendarbeit, präsentierte sich noch ganz so wie auf dem alten Bild. Samt ursprünglichem Namenszug. Sylvia Lange sagt:
"Das konnte ich erst kaum glauben. Und ich habe dann eine ganze Zeit lang bei meinen Recherchen auf dem Dachboden gewohnt, wo ich dann auch noch eine ganze Menge von diesen Neulandblättern gefunden habe. Das war eine interessante Erfahrung, mit der ich so nicht gerechnet hätte. Meine Erwartung wäre gewesen, dass es einen deutlichen Bruch gegeben hätte."
Jugendbewegung im Geiste der damaligen Zeit
Sylvia Lange war zu Forschungszwecken nach Eisenach gekommen – für ihre Doktorarbeit. Was sie auf dem Dachboden dieses kirchlichen Jugendheims fand, war die Zeitschrift des von Guida Diehl begründeten "Neulandbundes". Vor 100 Jahren, im Kriegsjahr 1916, hatte die Lehrerin ihr Projekt gegründet, um höhere Töchter aus bildungsbürgerlichem Hause zu fördern. Progressiv und patriotisch, es ging um die Berufstätigkeit von Frauen oder um Sittlichkeit - eine Jugendbewegung ganz im Geiste der damaligen Zeit. Doch bald schon vertrat Diehls Neulandbund immer radikalere Positionen. Er wandelte sich zu einer protestantisch-völkischen Bewegung und wurde schließlich zu einem wichtigen Wegbereiter des Nationalsozialismus, vor allem im Raum der evangelischen Kirche Thüringens, erklärt Sylvia Lange:
"Inhaltlich zentral war die Verquickung von 'wahrem Deutschtum' und erneuertem Christsein, also die Verquickung von religiös moralischen Zielsetzungen und politischen Zielsetzungen. Und Guida Diehl ist eigentlich auch eine Vorkämpferin der Deutschen Christen."
Schon vor dem Ersten Weltkrieg war Guida Diehl aktiv in der evangelischen Frauenarbeit tätig. Diehl gründete in kirchlichem Auftrag im gesamten Deutschen Reich Studien- und Neulandkreise und versuchte, die weibliche Jugend für die Evangelische Kirche zu gewinnen. Schon früh kam sie im Hause ihres Vaters mit Adolf Stoecker in Kontakt, dem für seine antisemitischen Ausfälle bekannten Hofprediger. Daraus wurde eine bleibende Freundschaft. 1917 scherte sie aus dem Dienst der Kirche aus und konzentrierte sich nun ganz auf die Arbeit ihrer Neulandbewegung, die sie ein Jahr zuvor gegründet hatte. Doch dann kam die Kriegsniederlage, der als Schmach empfundene Versailler Vertrag. Diehl verabscheute die junge Demokratie, sagt Sylvia Lange:
"Ende der 20er-Jahre wurden diese Rassentheorien rezipiert und das führte zur Idee eines arteigenen, volksspezifischen Christentums. Und das ist im Prinzip ja auch die Grundidee der Deutschen Christen. Wobei man das noch mal sehen muss vor dem Hintergrund dieser volksmissionarischen Bestrebungen Guida Diehls. Also in der Tradition Adolf Stoeckers wurde die Säkularisierung Deutschlands als Bedrohung empfunden. Und mit dieser Idee eines arteigenen Christentums hat man noch mal die Möglichkeit gesehen, einer Re-Christianisierung des Deutschen Volkes."
Kämpferin für den Nationalsozialismus
Auf den jährlichen Neulandtagen in Eisenach vernetzten sich führende Köpfe der völkischen Bewegung mit Nationalsozialisten und Kirchenvertretern. Guida Diehl knüpfte Kontakte zu Nazigrößen wie dem thüringischen Innenminister Frick. Charismatisch und äußerst aktiv, publizierte sie viel, gründete noch weitere Organisationen, wie etwa den "Deutschen Frauen-Kampfbund gegen die Entartung des deutschen Volkslebens". Obwohl sie sich auf dem Boden eines streng christlich-konservativen Weltbildes bewegte, wurde Diehls frauenpolitisches Engagement von manchen mit Argwohn betrachtet.
Doch konnte das nicht darüber hinwegtäuschen, dass Diehl die Ziele des Nationalsozialismus teilte. Ebenso wenig wie die Tatsache, dass ihre Neulandbewegung schließlich im gleichgeschalteten Nationalsozialismus aufging, weil dieser keine eigenständigen Organisationen neben sich duldete. Als Kulturreferentin der Reichsfrauenschaft schaffte sie es kurzzeitig bis in die Machtzentrale der NSDAP und widmete ihr "Hauptwerk" schließlich dem "Führer": "Die Frau im Nationalsozialismus". "Christsein heißt Kämpfer sein" betitelte sie später ihre Autobiografie. Sylvia Lange:
"Dieses Kampf-Motiv ist auch ganz zentral für ihr eigenes Selbstverständnis. Sie hat sich ihr ganzes Leben als Kämpferin verstanden. Und dieser Kampf das ist natürlich auch ideologischer Bestandteil der völkischen Ideologie. Kampf in alle Richtungen. Also der Kampf bezog sich ja auf die innere Erneuerung, aber auch die nationalen Ziele."
Fehlende Aufarbeitung
In diesem Frühjahr wurde das Eisenacher "Neulandhaus" umfangreich saniert. Und dabei, 100 Jahre nach Gründung der Neulandbewegung, in Jugendbegegnungsstätte "Junker Jörg" umbenannt. Zu DDR-Zeiten galt das Haus als ein Refugium der Freiheit. Hier fanden Pfarrer Erholung, es gab Seminare und Jugendrüstzeiten, ein geschätztes kirchliches Heim. Was aber über Jahrzehnte hinweg verdrängt wurde: die Geschichte, die sich mit dem Namen des Hauses verband, auch die aktive Rolle von Guida Diehl bei der Etablierung des Nationalsozialismus. Michael Haspel, Leiter der Evangelischen Akademie Thüringens:
"Nach 1945 muss das der Kirche bewusst gewesen sein, weil der dann amtierende Bischof Mitzenheim in den 20er und 30er-Jahren auch als Dozent am Neulandhaus tätig war. Wann es quasi vergessen wurde, ist im Moment nicht nachzuvollziehen. Heute ist es so, dass viele sagen, wir wussten gar nichts von dieser Geschichte. Einige sagen, wir wussten was, aber es ist schwierig, eine solche Tradition eines solchen Namens zu ändern, wo ganz viele Leute ganz positive Erinnerungen daran haben."
Moritz Mitzenheim, Thüringens umstrittener Bischof zu Ulbricht-Zeiten, schlug 1947 sogar vor, eine Stiftung zu Ehren Guida Diehls zu gründen. Diehl, die das Haus für ihre alten Zwecke nach 1945 weiternutzen wollte, übertrug es aus Angst vor Enteignung der Kirche. Dabei blieb es. So lebte das Neulandhaus weiter – getragen von der Thüringischen Landeskirche. Michael Haspel:
"Ich denke, dass Eisenach sowohl politisch als auch kirchlich die Aufarbeitung des Nationalsozialismus und die Folgen in der DDR noch vor sich und nicht hinter sich hat. Offensichtlich wurden hier diese Traditionen in den Familien beschwiegen. Ich denke, dass das nicht nur eine Frage ist der Aufarbeitung oder Bewältigung von Vergangenheit. Sondern dass wir nur frei sind, die Gegenwart zu gestalten, wenn wir dem Fortwirken dieser Tradition uns stellen."