Geschichte
Warum der 9. November als "Schicksalstag" der Deutschen gilt

Ausrufung der Republik, Hitler-Putsch, Pogrome gegen Juden, Fall der Berliner Mauer - der 9. November ist für Deutschland ein Tag mit vielen historischen Ereignissen. Viele stehen in Beziehung. Doch sollte man von einem "Schicksalstag" sprechen?

    Das Foto zeigt die zerstörten Fenster der Kieler Synagoge nach den judenfeindlichen Pogromen in Nazi-Deutschland im November 1938.
    Das Foto zeigt die zerstörten Fenster der Kieler Synagoge nach den judenfeindlichen Pogromen in Nazi-Deutschland im November 1938. (picture-alliance / dpa / Stadtarchiv Kiel)
    Am und um den 9. November gibt es eine Häufung historischer Ereignisse. Wohl in keinem anderen Tag steckt so viel deutsche Geschichte. Die einzelne Jahrestage stehen zum Teil in Beziehung, einiges ist aber auch schlicht Zufall. Ein Überblick über wichtige Geschehnisse am 9. November - und welche Bedeutung diese für die deutsche Erinnerungskultur haben.

    Inhaltsverzeichnis

    Welche historischen Ereignisse in Deutschland fallen auf den 9. November?

    Am 9. November 1918 rief der SPD-Politiker Philipp Scheidemann vom Balkon des Berliner Reichstags die Republik aus. Damit endeten nach der Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg Jahrhunderte der Hohenzollern -Herrschaft.
    Nationalsozialisten und andere rechtsradikale Gegner der Republik beschimpften die Republikgründer als "Novemberverbrecher". Sie lehnten die Demokratie ab und brachten die "Dolchstoß"-Legende in Umlauf. Am 8. und 9. November 1923 versuchte Adolf Hitler gemeinsam mit dem Weltkriegsgeneral Erich Ludendorff, die Macht in Bayern an sich zu reißen und die Regierung der Weimarer Republik zu stürzen. Der Putsch scheiterte, Hitlers Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) wurde vorläufig verboten und Hitler zu fünf Jahren Haft verurteilt.
    In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 organisierte die NSDAP mittels ihrer paramilitärischen Organisationen SA und SS gewalttätige Übergriffe auf die jüdische Bevölkerung. Insgesamt dauerten die judenfeindlichen Pogrome in Nazi-Deutschland 1938 eine ganze Woche. Raub, Brandschatzen und Mord ereigneten sich nachts und am Tage. Die Nazi-Schergen ermordeten etwa 400 Menschen oder trieben sie in den Suizid. 1.400 Synagogen wurden zerstört, 7.500 Geschäfte und Wohnungen verwüstet – wie auch jüdische Friedhöfe und jüdische Gemeindehäuser.
    Am 8. November 1939 versuchte der Schreiner Johann Georg Elser, Adolf Hitler zu töten. Weil Hitler regelmäßig zum Jahrestag des Putschversuches von 1923 im Münchener Bürgerbräukeller sprach, verschaffte sich Elser Zugang zum Veranstaltungsort und platzierte dort unbemerkt eine Bombe. Doch Hitler verließ den Ort am 8. November 1939 früher als sonst und entkam so Elsers Attentat. Der Widerstandskämpfer wurde im April 1945 von den Nazis im Konzentrationslager Dachau ermordet.
    Am 9. November 1989 fiel die Berliner Mauer. Ein Ereignis, das bis heute als Symbol für das Ende der Blockkonfrontation zwischen West und Ost, zwischen den USA und der Sowjetunion steht. Es folgte der Untergang von SED-Regime und DDR und die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten im Oktober 1990.
    Weitere 9.-November-Ereignisse: 1848 wurde der demokratische Revolutionär Robert Blum hingerichtet. 1918 wurde nicht nur die Republik durch Scheidemann ausgerufen, sondern auch die "freie sozialistische Republik Deutschland" durch Karl Liebknecht. 1974 starb der hungerstreikende RAF-Terrorist Holger Meins am 9. November.

    In welchem Zusammenhang stehen die Ereignisse am 9. November?

    Zwischen vielen dieser Novemberdaten bestehe ein "innerer Zusammenhang", erläutert der Historiker Wolfgang Niess. Der 9. November 1918 sei ein zufälliges Datum gewesen, die Ereignisse von 1923, 1938 und 1939 bezögen sich jedoch auf 1918.
    Der Sieg der Revolution im Jahr 1918 sei von Anfang an sehr umstritten gewesen, so der Historiker. Die Wahlen zur Nationalversammlung Anfang 1919 hätte zwar eine Dreiviertel-Mehrheit für die demokratischen Kräfte gebracht, aber deshalb sei der 9. November längst nicht positiv von allen Teilen der Bevölkerung erinnert worden. Bereits damals sei der Versuch gescheitert, den 9. November reichsweit zum Nationalfeiertag zu machen.
    Die Gegner der Demokratie hätten den 9. November verächtlich gemacht, so der Historiker. Deshalb sei der Zeitpunkt des sogenannten Hitler-Putsches im November 1923 kein Zufall gewesen. Und im Jahr 1938 - mittlerweile war Hitler an der Macht - sei ein ungeheurer Druck innerhalb der NSDAP entstanden, gegen die Juden in Deutschland ganz massiv vorzugehen.
    Niess: "Und weil jedes Jahr aufs Neue große Feierlichkeiten in München stattfanden aus Anlass des gescheiterten Putsches, zu Ehren der sogenannten Märtyrer der Bewegung, war 1938 dieser 9. November ein idealer Tag, vielleicht der einzige im ganzen Jahresverlauf, an dem die nationalsozialistische Führung ihren Unterführern, die versammelt waren, um Hitler zu erleben, signalisieren konnte, sie sollen bitteschön einen Volkszorn in Gang setzen."
    Die Pogrome sollten dabei nicht so erscheinen, als ob die Partei diese befohlen hätte, sondern wie ein spontaner Ausbruch von Zorn und Gewalt gegen die Juden. Dass die Berliner Mauer ausgerechnet an einem 9. November fiel, war laut Niess hingegen wiederum rein zufällig.

    Wie ist der Begriff “Schicksalstag” zu bewerten?

    In öffentlichen Debatten und populären Darstellungen wird regelmäßig der Begriff "deutscher Schicksalstag" für den 9. November verwendet. Er finde den Begriff "gar nicht so treffend", sagt Historiker Niess. Wenn man von "Schicksalstag" rede, könne schnell den Eindruck entstehen, "es kommen überirdische Mächte ins Spiel, das Schicksal eben".
    Der Historiker Ulrich Herbert hatte den Begriff "Schicksalstag" bereits vor einigen Jahren als "etwas kitschig und auch fehlleitend" bezeichnet. "Fürs Schicksal sind wir nicht zuständig", ordnete der Historiker seine Arbeit ein.

    Was spricht für einen nationalen Gedenktag?

    In den vergangenen Jahren kam es immer wieder zu Diskussionen darüber, ob der 9. November ein besserer Nationalfeiertag gewesen wäre - an Stelle des 3. Oktobers, an dem an die deutsche Wiedervereinigung gedacht wird. Es hätte viele Gründe dafür gegeben, sagt Historiker Niess: "Aber im Grunde halte ich die Diskussion darüber für erledigt". Staaten wechselten ihre nationalen Feiertage nicht so einfach. Niess plädiert jedoch dafür, den 9. November zu einem nationalen Gedenktag zu machen - einem Tag, an dem über die deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert nachgedacht werden sollte.
    Es habe sehr lange gedauert, bis das Gedenken an die nationalsozialistischen, antisemitischen Novemberpogrome in der Bundesrepublik tatsächlich Fuß fassen konnte, betont Niess. Nach dem Zweiten Weltkrieg und der Ermordung von sechs Millionen europäischen Juden durch Nazi-Deutschland seien es vor allem jüdische Gemeinden in der Bundesrepublik gewesen, die am 9. November an dieses Ereignis erinnert hätten. Es habe bis 1978 gedauert, bis zum ersten Mal ein Bundeskanzler bei einer offiziellen Gedenkveranstaltung sprach, nämlich Helmut Schmidt (SPD) in der Kölner Synagoge.
    Danach habe sich das Gedenken in der Bundesrepublik am 9. November zunehmend auf die Novemberpogrome konzentriert - was sich auch seit dem 9. November 1989 nicht geändert habe. International ist beim Gedenken an die Pogrome von 1938 bis heute noch immer der Begriff "Kristallnacht" weit verbreitet. Aus den deutschen Debatten über die Nazizeit ist der Begriff hingegen weitgehend verschwunden.

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