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"Neurosoziologie"
Das Gehirn mal aus neuer Perspektive erforschen

Von Matthias Eckoldt |
    "Es ist ja nicht so, als könne man Neuropublizisten, die aus fragwürdigen Forschungsergebnissen noch fragwürdigere Konsequenzen für den Reformbedarf von Schulen, Gerichten, Sendeanstalten und Internetdiensten ableiten, ungestraft aus den Augen lassen."
    So benennt Dirk Baecker den Schreibimpuls für sein Buch "Neurosoziologie". Die ungewohnt polemische Schärfe des ansonsten kühl beobachtenden Soziologen lässt auf die Tiefe des Problems schließen, das sich folgendermaßen stellt: In auflagenstarken Büchern werden in letzter Zeit vermehrt kulturkritische Thesen publiziert, die sich auf vermeintlich neurowissenschaftlich erwiesene Fakten stützen.
    "Ich will das gar nicht personalisieren. Die einschlägigen Kandidaten kennt man ja. Ich sage nur: Die Gefahren der Produktion von Demenz durch ein Gehirn, das sich zu viel Internetkonsum zumutet. Ich weiß gar nicht, wie das gehen soll, Internet zu konsumieren, aber so wird da gesprochen. Das sei mit Sicherheit mit verblödenden Effekten verbunden. Sobald man diese dramatisierenden Schlussfolgerungen von ‚Ende der Menschheit', ‚Untergang der Kultur', ‚Untergang des Abendlandes', ‚Verlust jeder Freiheit', ‚Verblödung des einst so gebildeten Menschen' anschließt, kann ich nur sagen: Das hat mit Wissenschaft nichts mehr zu tun. Da werden feuilletonistische Effekte gezogen, die aus der wissenschaftlichen Warte auf Abstand gehalten werden müssen."
    Baecker findet nach ebenso brillanter wie wohltuend kurzer Polemik zu eigener wissenschaftlicher Strenge zurück, indem er die Neuropublizisten rasch links liegen lässt und sich stattdessen selbst der Mühe unterzieht, sich in die Hardscience der Hirnforschung einzuarbeiten. Über die Schwierigkeiten dieses Projekts legt Baecker Rechenschaft ab und macht deutlich, dass er sich dabei, wie er schreibt, "hart an der Grenze zur Kompetenzüberschreitung bewegt". Allerdings liest Baecker die Erkenntnisse der Hirnforscher nicht als Neurowissenschaftler, sondern als Soziologe. Und dem fallen als erstes die erkenntnistheoretischen Probleme der Perspektiveinstellung auf: Die Hirnforscher interessieren sich nur für die Funktionsweise der Neurone und ihrer Netzwerke. Aus dieser Perspektive können sie jedoch weder Gedanken noch Empfindungen wahrnehmen. Baecker folgert:
    "Das Gehirn verschwindet aus der Selbstwahrnehmung zugunsten einerseits eines Bewusstseins, dank dessen wir uns mit der Welt, mit unserem Körper, mit unserem Ich und unserem Selbst beschäftigen können, ohne je unseres Gehirns gewahr zu werden, und zugunsten andererseits einer wissenschaftlichen, medizinischen oder anderweitigen Beschäftigung mit dem Gehirn von außen, die zwar neuronale Aktivitäten und Umweltereignisse einander zuordnen kann, aber nie der Qualität einer Vorstellung gewahr wird."
    Diese Erkenntnis bringt Baecker in seinem vor überraschenden Einsichten geradezu sprühenden Buch mit dem merkwürdigen Umstand in Verbindung, dass wir keinerlei Empfindung für unser Gehirn haben. Es ist nicht auf unserer inneren Körperkarte verzeichnet und fällt uns höchstens durch Kopfschmerzen auf. Die Unvermittelbarkeit der ersten und dritten Personen-Perspektive in Bezug auf das Hirn ist ein Grund für die anhaltende Ratlosigkeit der Hirnforschung in Bezug auf nur von Innen erlebbare Phänomene wie die des Bewusstseins. Dirk Baecker nimmt sie zum Ausgangspunkt für seine Idee einer Neurosoziologie. Legt man das Augenmerk nämlich auf die sozialen Beziehungen, fällt auf, dass in den Zugangsweisen zum Hirn eine entscheidende Perspektive unterbelichtet ist: Die Du-Perspektive. Also die den Soziologen interessierende Rolle, die das Gegenüber spielt.
    "Wir hätten unsere Gehirnrinde nicht mit ihrer besonderen Struktur, wenn wir nicht gezwungen wären, sozial zu leben. Man kann die rein biologische Beschreibung des Gehirns inklusive der Beschreibung nicht verstehen, wenn man nicht gleichzeitig davon ausgeht, dass der Mensch ein Säugetier ist, das in einem viel, viel höheren Ausmaß als alle anderen Säugetiere durch die soziale Verankerung seines Lebens organisch mitgeprägt ist. Um es ganz ehrlich und ganz deutlich zu sagen, glaube ich, dass die Neurowissenschaften damit erheblich weiter kämen, solche Gedanken zu verfolgen. Wenn ich diesen Eindruck nicht hätte, hätte ich das Buch nicht geschrieben."
    Baecker skizziert in seinem Buch "Neurosoziologie", das er mit Bedacht im Untertitel "Ein Versuch" nennt, das Forschungsprogramm dieser neu zu entwickelnden Wissenschaftsrichtung bis hin zu mathematischen Formeln. Zwar gibt sich der Professor für Kulturtheorie an der Zeppelin-Universität Friedrichshafen alle Mühe, seine auf dem Formenkalkül des britischen Mathematikers George Spencer Brown entwickelten Gleichungen zu erläutern, allerdings ist an dieser Stelle die Grenze des für den viel zitierten interessierten Laien Verständlichen erreicht – wahrscheinlich sogar überschritten. So ist das Buch des prominentesten Luhmann-Schülers wahrlich keine leichte Kost. Zum Glück ist Baecker jedoch pädagogisch geschult genug, um ebenso beharrlich wie variantenreich immer wieder den Kern seines Vorhabens zu thematisieren:
    "Die Neurosoziologie beteiligt sich nicht an der anatomischen, physiologischen, histologischen, neuronalen und biochemischen Beschreibung des Gehirns. Dazu fehlen ihr das Wissen, die Kompetenz und gegenwärtig auch jene Übung in der Einschätzung fachfremder Leitannahmen. Unbescheiden wird die Neurosoziologie nur dort, wo es um die Formulierung einer Theorie des Gehirns geht. Denn hier geht sie davon aus, dass spezifisch soziale Faktoren der Konditionierung der Reizabfuhr auf der Oberfläche des Organismus nur soziologisch zu verstehen sind."
    Fraglos trifft Baeckers "Neurosoziologie" wie nur wenige andere Bücher dieser Reihe die Intention der "edition unseld", die angetreten ist, der naturwissenschaftlichen Deutungshoheit über das Wesen des Menschen und der Welt mit geisteswissenschaftlichen Mitteln entgegenzutreten. Der Mehrwert für den Leser ohne wissenschaftlichen Hintergrund in theoretischer Soziologie, Hirnforschung und Mathematik besteht in jedem Fall in der Einsicht, dass weniger das reibungslose Funktionieren von Kommunikation als vielmehr deren permanente Störung durch das Gegenüber Entwicklungsanlässe für soziale Beziehungen bieten. Würden beispielsweise all unsere Worte auf nickende Zustimmung und nicht immer wieder auf Widerspruch stoßen, könnten sich keine Gespräche entwickeln. Vor diesem Hintergrund spricht Baecker eine dringliche Einladung an die Neurowissenschaftler aus, die soziologisch unstrittige Einsicht in ihre Forschungsagenda aufzunehmen, dass in den Störungen des Hirns durch die Aktivitäten anderer Gehirne der entscheidende Schlüssel zum Verständnis komplexer neuronaler Prozesse liegen könnte.
    "Ich komme, und auch deswegen heißt das Buch eben ‚Versuch', ich komme mit meinen eigenen Überlegungen am Schreibtisch beim Lesen von Texten der Neurowissenschaften genau so weit, wie ich in diesem Buch gekommen bin. Und es wäre jetzt dringend der Schritt zu machen, mit Informatikern und Neurowissenschaftlern und Medizinern ein Team von sechs bis zwölf Leuten zu bilden, die einzelne dieser Fragestellungen sowohl theoretisch auszuformulieren versuchen, als auch empirisch im Medium von Experimenten aller Art zu belegen versuchen um eine Forschung dieser Art weitertreiben zu können."
    Angesichts der gegenwärtigen erkenntnistheoretischen und methodologischen Krise der Hirnforschung stünde es dieser wohl gut zu Gesicht, Baeckers Einladung anzunehmen.