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Neurowissenschaft scheibchenweise

Hirnforschung. - Das menschliche Gehirn besteht aus etwa 100 Milliarden Nervenzellen. Sie alle sind auf komplizierteste Weise miteinander verschaltet. Bisher hatten die Forscher bestenfalls einen groben Überblick, was sich da alles im menschlichen Schädel verbirgt. Denn bei einer Auflösung von etwa einem Millimeter endet die Leistungsfähigkeit der besten Kernspintomographen. Nun präsentiert ein deutsch-kanadisches Forscherteam erstmals ein dreidimensionales Modell des Gehirns auf mikroskopischer Ebene. Genannt wird es "Big Brain", das große Gehirn.

Von Michael Lange |
    Das Big Brain, das große Gehirn, stammt von einer Frau, die im Alter von 65 Jahren verstarb. Sie spendete ihr Gehirn der Wissenschaft, und nun existiert es als extrem genaues 3D-Modell, für Wissenschaftler via Internet weltweit zugänglich. Zunächst aber musste das Gehirn in Scheiben geschnitten werden, erklärt der Neurologe Alan Evans von der McGill-University im kanadischen Montreal.

    "Die Daten stammen letztlich aus einem toten Gehirn, das in über 7000 hauchdünne Scheiben geschnitten wurde. Die Gewebeschnitte sehen aus wie extrem feine Frischhaltefolien. Sie sind dünner als ein menschliches Haar. Und mein Labor hatte die Aufgabe, diese Aufnahmen im Computer zu einem dreidimensionalen Modell zu vereinigen. Die Auflösung beträgt 20 Mal 20 Mal 20 Mikrometer."

    Um das zu schaffen, musste das Team um Alan Evans 100.000 Mal mehr Daten verarbeiten als bei einer 3D-Aufnahme aus dem Kernspintomographen. So entstand ein dreidimensionales Modell, das alle früheren Abbildungen in der Genauigkeit um den Faktor 50 übertrifft, erklärt Katrin Amunts. Die Medizinprofessorin ist die leitende Wissenschaftlerin des Projektes. Sie forscht und lehrt am Forschungszentrum Jülich und an der Universität Düsseldorf.

    "Leider sehe ich im Kernspintomograph nicht die Mikrostruktur. Denn der Kernspintomograph kann nur auflösen bis zu einem oder zwei Millimeter. Und das reicht nicht, um zelluläre Unterschiede in einer Hirnregion zu unterscheiden von einer anderen Hirnregion, der mir die hohe Auflösung, die ich unter dem Mikroskop habe, zusammenbringt, mit dem, was ich im Kernspintomographen sehe. Das ist das, was wir hier in Jülich seit vielen Jahren machen."

    Big Brain dient der Forschung, aber es soll auch in der Medizin hilfreich sein: Zum Beispiel bei der Tiefenhirnstimulation, wenn feine Elektroden Nervenzellen im Gehirn von Parkinsonpatienten reizen. Mit Hilfe des neuen 3D-Modells könnten die Elektroden genauer als bisher platziert werden. So ließe sich die Wirkung der Stimulation verbessern, bei gleichzeitig weniger Nebenwirkungen. Big Brain liefert den Forschern außerdem neue Einblicke ins Gehirn. Das Modell zeigt sogar einzelne, größere Nervenzellen. Was es nicht zeigt, sind die Synapsen, die Verbindungsstellen zwischen den Nervenzellen - und die Aktivität der Nervenzellen im Gehirn. Wie sind sie verschaltet? Wie kommunizieren sie miteinander? Hier gibt es viele offene Fragen. Am Forschungszentrum Jülich arbeiten die Forscher deshalb bereits am nächsten Schritt. Dabei werden Daten aus dem 3D-Modell und der Kernspintomographie zusammen gebracht. Am Ende soll eine Gehirn-Simulation stehen. Ein Supercomputer soll die Aktivitäten eines Gehirns im 3D-Modell nachspielen. Diese Simulation ist das große Ziel des europäischen Human Brain Projects, das zehn Jahre laufen soll und in diesem Jahr beginnt. Das Supercomputerzentrum am Forschungszentrum Jülich und auch Katrin Amunts und ihre Mitarbeiter sind daran beteiligt.

    "Ich stelle mir das so vor, dass wir nach zehn Jahren ein Verständnis dafür haben können, warum bestimmte Hirnregionen in einer Art und Weise aufgebaut sind, die es ihnen eben ermöglicht Verhalten oder kognitive Funktionen zu machen. Warum ist ein Areal, das Motorik, also Bewegung, steuert, so aufgebaut und nicht anderes? Was unterscheidet das von einem Seh-Areal? Was sind wirklich die biologischen Mechanismen? Was ist der biologische Code, der dahintersteht, eine kognitive oder emotionale Reaktion im Gehirn zu realisieren?"

    Auch in den USA wollen Forscher in den nächsten Jahren durch ein Großprojekt die Funktionsweise des Gehirns besser verstehen. Auch sie planen, Bilder der Gehirnstruktur mit Daten zur Gehirnaktivität zusammen zu bringen. Ihr Projekt, das mit Barack Obama einen wichtigen Fürsprecher gewonnen hat, heißt: "Brain Activity Map", Gehirnaktivitätskarte oder auch kurz "Obama-Brain".