Uli Blumenthal: Wer auf der Neumayer-Station III des Alfred-Wegener-Instituts, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung in der Antarktis arbeitet, muss mit Temperaturen bis zu minus 50 Grad und nahezu vollständiger Dunkelheit im Winter rechnen. Das Leben auf der Station bietet wenig Privatsphäre und Rückzugsmöglichkeiten. Kontakte zur Außenwelt sind auf ein Minimum reduziert. Neurologen nun haben untersucht, wie ein 14-monatiger Aufenthalt in der Antarktis die Struktur und die Funktion des menschlichen Gehirns verändert.
Das Ergebnis der Studie ist jetzt im New England Journal of Medicine veröffentlicht worden. Eine der Autorinnen ist Professor Dr. Simone Kühn, Leiterin der Lise-Meitner-Gruppe Umweltneurowissenschaften am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung. Und ich habe sie telefonisch gefragt, wie sich der Aufenthalt am Ende der Welt auf das Gehirn der Polarforscher ausgewirkt hat.
Simone Kühn: Wir konnten hier erstmalig eigentlich sehen, dass es eine Reduktion von bestimmten Hirnregionen gibt über die Zeit hinweg. Das ist für Forscher wie uns sehr interessant, weil wir typischerweise eigentlich immer Studien anschauen, in denen wir Leuten irgendwas besser machen, in denen wir die trainieren oder in denen wir sie irgendwas Positivem aussetzen und dann Wachstum im Hirn feststellen. Deswegen war das für uns eine ganz interessante Studie, mal zu schauen, wo begeben sich Leute quasi freiwillig in Umgebungen, die dann einen negativen Effekt haben können. Wir haben sozusagen gefunden, dass eine bestimmte Region im Hippocampus geschrumpft, also kleiner geworden ist über die Zeit hinweg.
Verschlechterung der Orientierungsfähigkeit
Blumenthal: Und welche Auswirkungen hat diese Schrumpfung eines Teils des Hippocampus auf diese Polarforscher?
Kühn: Der Hippocampus ist eine ganz wichtige Region, die mit Gedächtnisfunktionen assoziiert ist und auch mit der räumlichen Navigation – also um zu wissen, wo man sich im Raum befindet, braucht man den Hippocampus. Und wir haben auch gefunden, dass diese Abnahme in dieser Region eben assoziiert ist mit der räumlichen Fähigkeit, also der räumlichen Denkfähigkeit. Das heißt, je kleiner der geworden ist, desto schlechter sind relativ die Probanden in einer räumlichen Aufgabe geworden.
Blumenthal: Und haben die Polarforscher das eigentlich selbst irgendwie bemerkt, ist das signifikant geworden?
Kühn: Also uns hat jetzt keiner berichtet, ja, hab ich genau gemerkt, da sind ja auch wirklich ganz andere Bedingungen. Die befinden sich da quasi im Eis und im alleine Weißen, das heißt, wenn die rausgehen und keinen Kompass mithaben oder nicht Fahnen aufgestellt haben, können die eh nicht navigieren. Das war auch einer der Gründe, warum uns das so hoch interessiert hat das Thema, weil normalerweise hat man immer Landmarken. Wo immer wir sind, kann man sich Dinge angucken und weiß, ah, an der Kirche muss ich immer rechts abbiegen oder da muss ich immer links rum, und das gibt es halt da oben nicht, da ist einfach nur weiß. Und wenn die jetzt raus müssen, auch beruflich, was viele von den Wissenschaftlern da täglich machen müssen, dann müssen die sich sozusagen anders orientieren. Insofern ist es schwer zu sagen, dass sie das selber gemerkt haben.
Außerdem muss man sagen, das Hirn verändert sich in ganz vielen Situationen, das ist nicht ein ganz spezieller Moment, dass nur die Antarktis sozusagen Einfluss aufs Hirn hat, auch wenn ich jetzt hier zu Hause Dinge ganz anders mache. Also wenn ich jetzt auf einmal kein GPS mehr benutze, auch dann werden sich Hirnveränderungen zeigen, weil ich plötzlich eine Fähigkeit wieder neu erlernen muss oder mich mehr bemühen muss. Das Hirn, wissen wir mittlerweile, ist viel plastischer, als wir vorher immer dachten, das ist also nicht so ganz gefährliches Szenario, Hilfe, da schrumpft was im Gehirn.
Die genaue Ursache bleibt unklar
Blumenthal: Sie haben es schon gesagt, dass sich sozusagen das Gehirn plastisch immer wieder neuen und veränderten Situationen anpasst. Was kann man sagen über die Ursachen für die Veränderung im Gehirn der Probanden, die Sie in der Antarktis untersucht haben?
Kühn: Das Schwierige ist, dass da ja einiges anders ist. Das ist jetzt nicht ein Studiendesign, wo man sagen kann, das ist nur die eine Sache, die sich verändert hat. Einerseits sind die natürlich sozial depriviert auf eine Art, die haben ihre Familien zurückgelassen und sind da alleine, allerdings auch nicht ganz alleine, sondern eben mit neun anderen, also acht anderen jeweils. Das ist natürlich auch eine ganz spezielle Situation, dass man mit so einer kleinen Gruppe, die man eigentlich nicht kennt, so eng aufeinanderhängt für 14 Monate.
Andererseits gibt es eben diese Monotonie der Umgebung, wie ich eben sagte, dass da vor allen Dingen Eis und Schnee draußen ist und dass man nicht viel sieht. Das kann man jetzt leider nicht auseinanderrechnen. Das heißt, wir wissen nicht, ob diese Schrumpfung, die wir da im Hippocampus sehen, jetzt durch die sozialen Bedingungen stattgefunden hat oder eben durch diese Umweltfaktoren.
Das ist aber ein Problem, das man immer wieder hat bei so natürlichen Designs. Das ist ja quasi ein Design, was wir einfach nur gewählt haben, weil es das so gibt und weil man aus ethischen Gründen Menschen dem jetzt nicht einfach aussetzen kann. Man kann nicht jemanden einfach die Umgebung wegnehmen oder das soziale Umfeld wegnehmen, weil es einem gerade Spaß macht. Deswegen brauchen wir irgendwann weitere Studien, die hoffentlich so ein Design uns bieten, was die Trennung erlaubt.
Blumenthal: Ich möchte aber noch mal zurückkommen zu den Auslösern für diese Veränderung. Können Sie dazu etwas sagen nach dieser Studie, die Sie durchgeführt haben?
Kühn: Wir haben sozusagen bei den Probanden auch jeweils im Blut den sogenannten Brain-derived neurotrophic factor gemessen. Das hört sich kompliziert an, ist aber eigentlich ein Blutparameter oder eine Substanz, die eigentlich immer damit in Verbindung gebracht worden ist, dass das Hirn wächst – also je mehr man davon hat, desto eher ist es wahrscheinlich, dass das Hirn wächst. Und wir haben auch gefunden, dass dieser Faktor sozusagen reduziert ist über die Zeit und auch stetig abfällt über die Zeit hinweg. Das ist assoziiert mit der Schrumpfung im Hippocampus, die wir sehen.
Das heißt, das könnte kausal in Richtung einer Erklärung sein, dass es dort schrumpft, und wir finden auch gegen Ende, also wenn die zurück sind, auch wieder eine Tendenz zur Erholung dieses Faktors. Deswegen glauben wir, dass auch die Schrumpfung im Hippocampus langfristig sich wieder normalisieren wird. Wir glauben nicht, dass das jetzt was ist, was sie für ihr Leben lang mit sich rumtragen werden.
Gehirntraining mit Super Mario 64
Blumenthal: Was lernen wir aus Ihrer Studie, gibt es Empfehlungen für solche Situationen, Möglichkeiten, diese Effekte, diese Veränderungen im Gehirn, denen vorzubeugen?
Kühn: Wir machen ja sonst eigentlich eher Studien, wo wir Leute trainieren mit was, und das hilft ganz gut. Wir wissen zum Beispiel, dass das Spielen von Super Mario 64 – das ist eine eher räumliche Variante von dem klassischen Super Mario, was man so kennt – zu Aufwuchs im Hippocampus führt, weil man sich da sozusagen wie in einer 3-D-Welt frei bewegen muss und sich richtig gut merken muss, wie ist meine Umgebung beschaffen. Ich denke, dass zum Beispiel alle möglichen Videospiele, die so eine 3-D-Repräsentation erfordern, so was kann gut helfen. Zumindest wissen wir von diesen besagten Spielen, dass es Aufwuchs im Hippocampus macht.
Und auch körperliche Fitness: Es ist bekannt, dass wenn man viel Sport macht, auch der Hippocampus wächst – und das haben wir übrigens auf der Neumayer-Station kontrolliert, weil da waren ein paar Probanden bei, die unheimlich viel Sport gemacht haben. Aber wir haben jetzt sozusagen auch erste Studien in der Antarktis geplant, wo wir den Probanden ein Fahrrad mitgeben, also so ein Ergometer, und sie dann darauf ein Videospiel spielen können, während sie Fahrrad fahren. Das wäre sozusagen die Hoffnung, dass wenn man jetzt auch noch Sport kombiniert mit dem Videospielen, was einen starken räumlichen Anteil hat, dass es dann perfekt hilft für den Hippocampus.
Blumenthal: Gibt es vergleichbare Ergebnisse zu Ihrer Studie und zu Ihren Untersuchungen, beispielsweise aus Langzeitmissionen auf der ISS oder auch auf dieser sowjetischen Raumstation Mir? Das sind ja noch extremere Bedingungen, denen da die Kosmonauten oder Astronauten ausgesetzt sind.
Kühn: Genau. Also meines Wissens gibt es noch nicht so viele MRT-Studien, aber wir machen gerade auch eine mit den ISS-Raumfahrern, die wir sozusagen auch vor und nach der Mission mit einem MRT vermessen. Eben mit dem genauen Fokus auf den Hippocampus, weil das sozusagen eine Struktur ist, in der Neurogenese möglich ist, also wo neue Neuronen wirklich wachsen können. Das ist in anderen Regionen unseres Wissens nicht möglich.
Und solche Studien, die vor allen Dingen auf den Hippocampus fokussieren, die gibt es noch nicht, aber wir werden bald da auch Daten haben und dann was dazu sagen können. Das ist ja gerade auch im Weltraum natürlich total relevant, weil wenn jetzt ein Astronaut sozusagen aus der Raumstation raus muss, um was zu reparieren oder so, und der sich nicht gut orientieren kann, dann wäre es gut, wenn man das vorher wüsste, und wenn man eben solche Fähigkeiten dann genau trainiert auch dort, wenn das reduziert wird, die Hirnregionen.
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