Den ersten Anstoß dieser WM wird nicht Luiz Gustavo oder Luka Modric machen, sondern ein Querschnittgelähmter. Erst vor achtzehn Monate bekam ein internationales Team von Wissenschaftlern das OK, einen Roboteranzug zu bauen, mit dessen Hilfe dem Gelähmten gehen und schießen gelingen soll. Miguel Nicolelis, Professor an der Duke University in den USA, gebürtiger Brasilianer und Initiator des Vorhabens, ist zuversichtlich, das Rennen gegen die Zeit gewonnen zu haben:
"Alle unsere Patienten sind im Labor schon mit dem Gerät gelaufen. Sie alle haben uns gesagt, dass sie das Gefühl haben, sie würden wieder laufen. Nicht so, als ob eine Maschine sie tragen würde."
Von der Fußsohle bis zur Hüfte schienen Stangen, Drähte und Gelenke aus Metall die Beine der Gelähmten. Aus einer Art Rucksack versorgt eine Batterie die Maschine mit Strom.
Steuerung per Gedanken
Gesteuert wird dieses Exoskelett durch die Gedanken des Gelähmten, der es an hat. Eine mit Elektroden besetzte Kappe registriert die Aktivität seines Hirns. Stellt sich der Querschnittgelähmte vor seine Beine zu bewegen, ändert sich das Muster seiner Hirnaktivität, erklärt Nicolelis:
"Wir haben einen Computeralgorithmus entwickelt, der die Hirnaktivität liest und die Absicht der Patienten erkennt sich zu bewegen, einen Ball zu schießen oder anzuhalten. Wir nehmen diese Signale so wie der Patient sie von sich aus produziert und benutzen sie als Signal, um den Roboter in Bewegung zu setzen."
Die Bewegung selber wird durch Motoren erzeugt. Sensoren registrieren die Bewegung des Exoskeletts und leiten sie an kleine Vibrationselemente weiter. Die Elemente sind in einem speziellen T-Shirt eingearbeitet, das der Gelähmte trägt. Durch sanftes Vibrieren auf den Armen bekommt er Rückmeldung darüber, was seine Beine tun. Nicolelis:
"Im Laufe des Trainings haben wir festgestellt, dass das Gehirn tatsächlich lernt das Feedback-Signal auf dem Arm so zu interpretieren, als käme es von den Beinen des Patienten. Und so kommt diese Illusion zustande, die den Patienten das Gefühl gibt, das sie wirklich laufen und mit ihren eigenen Füßen den Boden berühren."
Neurowissenschaftliche Mondlandung
Die Idee, Gelähmte mithilfe von Roboterbeinen laufen zu lassen, ist nicht neu. Bisher gelang es aber nicht, Bewegungen so nachzuahmen, wie sie unser Gehirn hervorruft und wahrnimmt. Die Bewegung mit dem Exoskelett vermittelte das Gefühl, gegangen zu werden, statt selber zu gehen.
Mit dem Anstoß zur WM erhofft Nicolelis, den wissenschaftlichen Fortschritt für jedermann sichtbar zu machen:
"Ich möchte mit diesem Beispiel der ganzen Welt zeigen, dass die Wissenschaft viele großartige Sachen für die Menschheit tun kann. Es soll Kinder überall auf der Welt für Wissenschaft begeistern, genau wie es bei meiner Generation war, als der Mensch auf dem Mond landete."
Am kommenden Donnerstag Zeitzeuge einer neurowissenschaftlichen Mondlandung zu werden, erwartet Rüdiger Rupp von der Uni-Klinik in Heidelberg nicht. Der Wissenschaftler befürchtet im Gegenteil, dass die groß inszenierte Vorstellung dazu verleitet zu überschätzen, was tatsächlich möglich ist:
"Es wird suggeriert, dass man jetzt eine technische Überbrückung einer Querschnittlähmung erreicht hat. Das ist aber nicht so. Sondern, das Exoskelett läuft von sich aus. Es braucht einen Befehl zum Starten und zum Stoppen. Und dieser eine Befehl wird vom Gehirn quasi abgeleitet."
Die auf der Schädeloberfläche gemessene Hirnaktivität übernimmt also die Funktion eines Schalters: Gehen an, Gehen aus. Zum auslesen detaillierter Information, etwa ein Knie anzuwinkeln oder einen Fuß zu drehen, ist das Signal zu ungenau. Deshalb sind im Exoskelett komplette Bewegungsabläufe einprogrammiert. Sie flexibel anzupassen, etwa die Füße höher zu heben um eine Treppe zu steigen, ist für den Querschnittsgelähmten nicht möglich.
Der Traum vom Leben ohne Rollstuhl
Wirkliche Bewegungsfreiheit kann bisher kein Exoskelett wiederherstellen. Erste Studien zeigen, dass ihr tatsächlicher Nutzen derzeit noch anderswo liegt, wie auch Rüdiger Rupp bei Patientenbefragungen festgestellt hat:
"Und es war ganz spannend zu hören, dass alle diese Patienten das System toll fanden. Und zwar in dem Sinne, dass sie in die Aufrechte kamen. Sie sagten: Ich komme aus dem Rollstuhl raus, ich kann Leuten in die Augen schauen. Aber kein einziger dieser fünf Patienten, die wir da hatten, sagte, das ist etwas für mich zu Hause."
Dass es vom Exoskelett zum natürlichen Gang noch ein weiter Weg ist, weiß auch Miguel Nicolelis. Er ist aber überzeugt in die richtige Richtung zu gehen:
"Das ist ein erster Prototyp. Wir können die Patienten gehen lassen, wir können sie einen Ball schießen lassen, wir können sie anhalten. Wir arbeiten daran, die Laufgeschwindigkeit zu erhöhen, und bald werden wir Drehungen implementieren. Es ist doch so, wenn man einmal das Alphabet beherrscht, lernt man bald, zu sprechen."