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Neustart in Rostock
Ein starkes Bekenntnis zum Volkstheater

Von Hartmut Krug |
    Das Volkstheater Rostock hat seit 1991 mit zehn Intendanten wohl mehr Teamleiter verschlissen als der Hamburger SV Trainer. Zugleich ist es konsequent kleingespart worden, von zu DDR-Zeiten 750 Mitarbeitern sind noch um die 340 übrig. Und die Strukturänderungspläne von Kulturminister und Oberbürgermeister bedrohen das Theater immer wieder in seiner Mehrspartenexistenz.
    Der neue Intendant Sewan Latchinian sucht sein Theater mit einem wahren Paukenschlag wieder in den Fokus der Öffentlichkeit zu rücken: Das Spektakel "1. Stapellauf Neubeginn" umfasst gleich drei Inszenierungen, alle in der Regie des neuen Intendanten, bei denen alle Sparten des Theaters beteiligt sind. Es dauert von 16 Uhr bis eine halbe Stunde nach Mitternacht und beginnt schon vor dem Theater. Das Publikum steht zwischen einem Leuchtturm und Eisbär-Attrappen vor dem zur "Titanic" umbenannten Theater, während der Intendant vom Dach herab mit einer Schiffsglocke die neue Spielzeit einläutet:
    "Im Namen aller Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter begrüße ich Sie als neuer Intendant zur neuen, 120. Spielzeit des Volkstheaters Rostock. Schön, dass Sie da sind."
    Alle tragen Totenmasken
    Und dann schmettert das Orchester los: Wilhelm Dieter Sieberts Mitspieloper beginnt gleich vor dem Theater. Reiche Passagiere steigen aus Oldtimern, während die armen mit einem Abschiedslied auf den Lippen in Gruppenformation mit ihren Koffern zwischen den Zuschauern hindurch zur "Titanic", also dem Theater, strömen:
    "Der Staat ist ein Ungeheuer, der frisst uns auf mit seiner Steuer.
    Die Mieten hoch, die Zimmer klein, in Texas soll es besser sein.
    Hupf Dilli Dulli Hupssassa, wir fahren nach Amerika."
    Alle, Schauspieler wie Musiker, tragen Totenmasken. Wilhelm Dieter Sieberts Mitspieloper geht auf der Bühne weiter - mit Orchester, Tänzern, Sängern und Schauspielern - bis das Schiff sinkt und die Zuschauer, mit Schwimmwesten versorgt und an kleinen Panik-Spielszenen vorbei, auf Treppen oder Rutschen ins Freie zum schlimmen Finale mit Rettungsboot und Schiffsuntergang gelangen. Das Ganze: Eine muntere, aber etwas langwierige Aufführung, die mit ihren äußerlichen Effekten beim Publikum stark punktete, aber das doch recht bieder und verstaubt wirkende Opernwerk nicht wirklich spannend und betreffend zu machen verstand.
    Nach langer Pause und dem Kampf an den vielen Büfetts gab es die Uraufführung von "Ingrid Babendererde", dem Romanerstling von Uwe Johnson in der Bühnenfassung von Holger Teschke. Auf einer Guckkastenbühne, an der "Edel sei der Mensch, hilfreich und gut" als bürgerliches Bildungszitat steht, das mit Bannern kämpft, auf denen die Arbeit der Oberschulen von Mecklenburg Vorpommern als "bedeutender Beitrag im Kampf für Frieden und Einheit für Deutschland" beschworen wird. So ist das Thema benannt. Wenn hier Oberschüler bei ihrem Unterricht über Politik diskutieren um Sinnsuche zwischen FDJ-Schein-Gewissheiten und den Fragen und Antworten der Jungen Gemeinde:
    "Glaubst Du eigentlich an den Quatsch von den Agenten der jungen Gemeinde?"
    - "Das ist ein dummer Fehler. Aber warum soll ausgerechnet der Sozialismus ohne Fehler sein."
    "Weil er unfehlbar ist, wie Lenin sagt."
    - "Jetzt hört auf zu streiten."
    "Prüfungsfrage Geschichte: Wer war der größte Feldherr aller Zeiten?"
    - "Na, das wissen wir ja zur Genüge."
    "Falsch. Der größte Feldherr war Ulbricht. Er hat drei Millionen in die Flucht geschlagen, ohne einen einzigen Schuss abzugeben."
    Eindeutige Figuren, aber keine Klischees
    Latchinian erschafft ein Stationendrama mit genau umrissenen Figuren. Poetisch, pointiert, witzig und ernsthaft und begleitet von der Live-Musik der dreiköpfigen Gruppe Wallahalla. Zu Beginn stehen die Schauspieler still nebeneinander: ein Bild, ähnlich Barlachs "Fries der Lauschenden". Oft werden Johnsons Beschreibungen von Stadt und Landschaft zitiert. In den Diskussionen der Abiturienten geht es heftig zur politischen Sache. Zwischen drei Jungen bewegt sich Ingrid Babendererde, der Inga Wolff eine wunderbar schwirrende suchende Bestimmtheit gibt. Eine Figur, zugleich realistisch wie poetisch.
    Alle Schauspieler des überzeugenden Ensembles geben eindeutige Figuren, aber keine Klischees. Sondern suchende Menschen. Denen die Dogmatiker der Partei keine Chance lassen. Drangsaliert, verlassen drei der Schüler schließlich die DDR. Das Publikum belohnte die Aufführung mit hellem Jubel.
    Kay Pollaks "Wie im Himmel", die Geschichte vom berühmten Dirigenten, der nach einem Herzanfall aussteigt und in seinem Geburtsort den Kirchenchor zu neuer musikalischer Kraft und Lebensehrlichkeit führt, hat als Bühnenbild das Konzertzimmer der Norddeutschen Philharmonie Rostock. Was dem oft allzu gemütlich poetisch wirkenden Stück zu einem spielerischen Realismus verhilft. Beeindruckend, wie sich die Darsteller aus "Ingrid Babendererde" hier in von Typ und Aussage her fast konträren Rollen bewiesen.
    Weit nach Mitternacht wurde der nicht enden wollende Beifall zu einem starken Bekenntnis für ein Volkstheater Rostock, das durch die Sparpolitik der Politiker von Stadt und Land gefährdet ist.