Während die russische Armee in der Ukraine weiterhin Städte bombardiert, laufen auf diplomatischer Ebene Verhandlungen über eine Beendigung des Krieges. Zuletzt trafen sich Unterhändler Russlands und der Ukraine am 29. März in Istanbul.
Die Ukraine verlangte für den Fall eines Abkommens über ihre Neutralität ein Paket von Sicherheitsgarantien. Als Bedingungen wurden außerdem ein Referendum über das Abkommen mit Russland sowie ein Waffenstillstand und Rückzug aller russischer Militäreinheiten auf die Positionen vor dem 24. Februar genannt - dem Tag des russischen Angriffs auf die Ukraine. Man habe auch vorgeschlagen, für 15 Jahre zu garantieren, nicht militärisch gegen die russischen Truppen auf der von Russland annektierten Krim vorzugehen, hieß es. In diesem Zeitraum sollten Beratungen mit Russland über den Status der Halbinsel stattfinden. Über die von Russland als selbstständige Staaten anerkannten sogenannten Volksrepubliken im Donezbecken, die de facto eine russische Besetzung dieser Gebiete bedeuten, solle separat gesprochen werden.
Die Ukraine hatte in den vergangenen Wochen bereits deutlich gemacht, dass sie zum Verzicht auf einen NATO-Beitritt und möglicherweise auch zur Neutralität bereit wäre, wenn sie im Gegenzug umfassende Sicherheitsgarantien erhält. Russland hatte als zentrale Ziele seines Angriffskriegs in der Ukraine die Neutralität, die „Demilitarisierung“ und "Entnazifizierung" des Nachbarlandes ausgegeben. Moskau hatte vor den Gesprächen zudem auf einen Verzicht der Ukraine auf eine NATO-Mitgliedschaft sowie eine Anerkennung der ostukrainischen Separatistengebiete als eigenständige Staaten gepocht. Außerdem soll Kiew die 2014 annektierte Halbinsel Krim als Teil Russlands akzeptieren.
Der Verhandlungsleiter der russischen Delegation in Istanbul Wladimir Medinskij kommentierte die ukrainischen Vorschläge mit den Worten, die Ukraine sei „im Kern mit den prinzipiellen Forderungen Russlands einverstanden“. Inzwischen habe er die Vorschläge dem russischen Präsidenten Wladimir Putin vorgelegt.
Infolge der Gespräche hat Russland zudem angekündigt, seine „militärischen Aktivitäten“ in der Ukraine bei Kiew und Tschernihiw deutlich reduzieren zu wollen. Es war die erste russische Ankündigung zu einem Rückzug dieser Art seit Beginn der Kampfhandlungen. In der Ukraine und im Westen wurde sie mit Skepsis aufgenommen.
Was bedeutet Neutralität?
Neutralität bedeutet, dass ein Land sich aus Konflikten zwischen Staaten heraushält und keinem militärischen Bündnis angehört. Meist wird dies in einem völkerrechtlichen Vertrag oder in einem Verfassungsartikel festgeschrieben.
„Neutrale Staaten sind keine Staaten ohne Militär“, betont der Politikwissenschaftler und Neutralitätsforscher Pascal Lottaz, „sondern normalerweise Staaten mit einer relativ großen Armee im Vergleich zur Einwohnerzahl“. Das bisher neutrale Finnland etwa, dessen Situation nach Ansicht von Experten am ehesten mit der der Ukraine vergleichbar ist, unterhält eine für die Einwohnerzahl außerordentlich schlagkräftige Armee. Das Land gibt an, im Kriegsfall sofort 280.000 Soldaten einsetzen zu können. Es verfügt über US-Kampfflugzeuge und will im kommenden Jahr den umfangreichen Auftrag für ein Luftabwehrsystem - voraussichtlich eines israelischen Herstellers - erteilen.
Auch für die Ukraine könnte nach Ansicht von Neutralitätsforscher Lottaz ein rechtlich abgesicherter, von allen Konfliktparteien unterzeichneter neutraler Status bedeuten, dass die Ukraine nicht der NATO beitreten, aber trotzdem ein eigenes Militär haben und sich selbst verteidigen darf. Lottaz hält Neutralität für das Konzept mit dem größten Potenzial, um den Krieg zu beenden.
Das älteste neutrale Land und so etwas wie der Inbegriff von Neutralität ist die Schweiz. Es gibt aber auch einige Mitgliedsländer der Europäischen Union, die Neutralitätsartikel in ihrer Verfassung verankert haben und nicht Mitglied der NATO sind: Österreich, Malta, Irland, Schweden und Finnland. Finnland und Schweden erwägen inzwischen allerdings schon länger einen Beitritt zur NATO – die geografische Nähe zu und die Kommunikation aus Russland wird zunehmend als bedrohlich empfunden.
Was würde eine Demilitarisierung der Ukraine bedeuten?
Der Kreml strebt nicht nur die Neutralität, sondern auch eine Demilitarisierung der Ukraine an. Was die russische Regierung damit meint, ist nicht ganz klar – das lässt Verhandlungsspielraum. Eine komplett entmilitarisierte Ukraine werde kein Punkt sein, den der ukrainische Präsident Wolodymy Selenskyj akzeptieren könne, sagt Politikwissenschaftler Lottaz - das verstehe auch Russlands Präsident Putin. Statt eines vollständigen Verzichts auf eine eigene Armee könnten auch eine Deckelung und der Verzicht auf bestimmte Waffensysteme Varianten sein.
Der 2+4-Vertrag von 1990/1991 zur deutschen Wiedervereinigung gab beispielsweise eine Höchstgrenze von Soldaten für das wiedervereinigte Deutschland vor. Putin könnte nach Einschätzung Lottaz‘ etwas Ähnliches für die Ukraine im Sinn haben. Offen ist, ob eine solche Deckelung für die ukrainische Regierung akzeptabel wäre. „Eine der größten Stärken der Ukraine ist die schiere Größe des Landes, die jetzt auch die Russen davon abhält, sich effizient zu versorgen“, erklärte Lottaz. Dies könne auch eine verkleinerte ukrainische Armee noch ausnutzen, glaubt der Politikwissenschaftler.
Die Art der Bewaffnung könnte ebenfalls eine Rolle spielen. „Putin wird auf jeden Fall versuchen zu verhindern, dass Offensivwaffen in der Ukraine stationiert werden, vor allem Raketensysteme, die auf Russland zielen könnten“, so Lottaz. Ein ukrainisches Militär, das keinen Angriffskrieg führen, aber sich selbst verteidigen könne, könnte Putin seiner Ansicht nach in Russland als Sieg verkaufen. Die vermeintliche Bedrohung Russlands durch das ukrainische Militär war in der Argumentation des Kremls einer der Vorwände für den Angriff des Nachbarlandes.
Die Erfahrungen der vergangenen Wochen – der russische Angriffskrieg – lassen es allerdings als unwahrscheinlich erscheinen, dass die ukrainische Führung wie auch die Bevölkerung einer Reduzierung ihres Militärs zustimmen könnten. Die Ukraine dürfte vielmehr danach streben, sich militärisch noch stärker aufzustellen, um einen befürchteten erneuten Angriff Russlands abwehren zu können, sagen ukrainische Experten. Präsident Selenskyj erklärte am 27. März in einem Interview mit russischen Journalisten, über den Punkt „Demilitarisierung“ spreche die ukrainische Delegation bei den Verhandlungen mit Russland prinzipiell nicht.
Was ist mit Sicherheitsgarantien bedeuten?
Die Ukraine verlangt für den Fall einer Neutralität ein Paket von Sicherheitsgarantien. Diese sollen von den ständigen Mitgliedern des UNO-Sicherheitsrats kommen. Als weitere Sicherheitsgaranten kämen auch die Türkei, Deutschland, Kanada, Italien, Polen, Israel und andere Länder in Betracht. Die Garantien sollten ähnlich wie der Artikel fünf des NATO-Vertrages formuliert sein, wonach die Mitglieder des Militärbündnisses zum militärischen Beistand im Falle eines Angriffs verpflichtet sind. Man sei in diesem Rahmen auch bereit, dass es keine ausländischen Militärstützpunkte auf ukrainischem Gebiet geben werde, hieß es nach den Friedensgesprächen in Istanbul.
Fraglich ist, ob sich die von der Ukraine genannten Staaten bereit erklären, einem Land, das nicht Mitglied der NATO ist, derart weitreichende Sicherheitsgarantien zu geben. So deuteten schon mehrere führende Politiker in Großbritannien, darunter Premierminister Boris Johnson und sein Stellvertreter Dominic Raab, an, dass sie einen unmittelbaren Einsatz britischer Kampfverbände in der Ukraine auch in Zukunft ausschließen. Aus den USA gab es keine unmittelbare Stellungnahme. Deutschland ließ Bereitschaft für eine Beteiligung an Sicherheitsgarantien erkennen, Voraussetzung sei ein Friedensabkommen.
Neutralitätsforscher Lottaz sieht in den geforderten Sicherheitsgarantien keinen Unterschied zu einer NATO-Mitgliedschaft. Eine Möglichkeit, die im Raum stehen könnte, sei aber ein neutraler Status der Ukraine, der gleichzeitig die Tür zur EU-Mitgliedschaft offenlasse. „Die EU hat eine militärische Komponente, eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, die aber viel schwächer ist als alles, was die NATO bietet“, so Lottaz. Eine potentielle EU-Mitgliedschaft der Ukraine könnte seiner Ansicht nach ein Kompromiss sein, den beide Seiten akzeptieren könnten.
Welche Optionen gibt es für die Regionen Luhansk, Donezk und die Krim?
Der ukrainische Vorschlag, den Status der Halbinsel Krim in den kommenden 15 Jahren zu klären, wurde von russischer Seite umgehend zurückgewiesen. Die Krim sei „ein Teil Russlands“, erklärte Kreml-Sprecher Dmitrij Peskow. Die russische Verfassung verbiete es, „wie auch immer geartete Verhandlungen über ihren Status“ zu führen. Moskau beruft sich auf eine inszenierte Volksabstimmung auf der Halbinsel im März 2014, die international jedoch aus vielen Gründen nicht anerkannt wird – unter anderem deshalb, weil die Krim zu dem Zeitpunkt bereits von russischen Truppen besetzt war und die vorgeblichen Ergebnisse der Abstimmung nicht unabhängig überprüft wurden.
Auf ukrainischer Seite gibt es zumindest Andeutungen, dass man unter Umständen zu Zugeständnissen bereit sein könnte. Mögliche Kompromisse, auch in Bezug auf den Status der Krim, seien jedoch nur nach einer Volksabstimmung möglich, erklärte Präsident Selenskyj am 21.März in einem Interview mit dem ukrainischen Fernsehsender „Suspilne“. Dass es diese Überlegungen gibt, zeigt auch die Aussage von US-Präsident Joe Biden, die Ukraine müsse selbst entscheiden, ob sie territoriale Zugeständnisse machen wolle.
Ähnlich sieht im Fall der sogenannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk aus. Russland erklärt, dass es von deren Anerkennung als Staaten nicht abrücken wolle. Kurz vor dem Angriff auf die Ukraine hatte Russland die Gebiete in der Ostukraine als unabhängig anerkannt. Auch hier signalisierte der ukrainische Präsident Bereitschaft zu Verhandlungen. Ein zusätzliches Problem besteht allerdings darin, dass die von Russland angeleiteten und unterstützten Separatisten vor dem russischen Angriffskrieg nur einen territorial kleinen Teil des Donezbecken kontrollierten, jedoch Anspruch auf die gesamte Region erheben, also auf die gesamten ukrainischen Regierungsbezirke Donezk und Luhansk. Zuletzt erklärte der russische Verteidigungsminister Sergej Schojgu, die russische Armee werde sich nun auf die Eroberung dieses Gebiets konzentrieren.
Völkerrechtlich gehören sowohl die Krim als auch das Donezbecken weiterhin zur Ukraine.
Quellen: Nina Voigt, Florian Kellermann