Österreich, Finnland und Schweden traten 1995 gemeinsam in die EU ein, an ihrer militärisch Neutralität hielten alle drei Länder jedoch fest. Das ändert sich nun angesichts des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine: Finnland und Schweden haben die Aufnahme in die NATO beantragt - Österreich will an seinem Status erst einmal nichts ändern.
Man wolle weiter neutral bleiben, sagte Außenminister Alexander Schallenberg im Dlf. Das hindere sein Land aber nicht daran, sich solidarisch zu verhalten und etwa die Sanktionen der EU gegen Russland mitzutragen. Im Interview mit dem Deutschlandfunk erklärte der Politiker der konservativen ÖVP, was die Neutralität Österreichs bedeutet und welche Vorstellungen er für die Beschleunigung und Erneuerung künftiger EU-Beitrittverfahren hat - auch mit Blick auf die Aufnahme der Ukraine.
Das Interview im Wortlaut:
Sarah Zerback: Österreichs Bundeskanzler Karl Nehammer hat kürzlich festgestellt, Österreich bleibt neutral. Wie lange können, wie lange wollen Sie sich diese militärische Neutralität noch leisten?
Alexander Schallenberg: Ich glaube, jeder Staat hat seine eigene Geschichte, seine eigene geographische Position, und ich nehme zur Kenntnis, dass Finnland und Schweden jetzt im Eiltempo eine massive Änderung ihrer Sicherheitspolitik vorgenommen haben. Bei uns sieht die Situation etwas anders aus. Wir werden ebenso wie Irland und Malta – es gibt drei Staaten insgesamt innerhalb der Union – weiterhin neutral bleiben. Aber das heißt nicht, dass wir isoliert sind. Das heißt nicht, dass wir nicht solidarisch sind. Wir sind – und das haben wir 1994 vor unserem Beitritt schon klargestellt – bei allen Maßnahmen der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik voll solidarisch, und das beweisen wir gerade auch jeden Tag in dieser Ukraine-Krise.
"Grenze der Ukraine näher an Wien als Vorarlberg"
Zerback: Bevor wir auf die Solidarität zu sprechen kommen – Sie argumentieren geopolitisch. Sie wissen aber schon, dass Russland atomwaffenfähige Interkontinentalraketen testet, die mal mindestens 6000 Kilometer weit fliegen. Da könnte Wien ja auch erreicht werden. Haben Sie keine Sorge, im Falle einer Eskalation dann alleine dazustehen?
Schallenberg: Für uns ist das natürlich Nachbarschaft. Das ist ganz klar. Von Wien aus gesehen ist die Grenze der Ukraine sogar näher als das westlichste Bundesland, nämlich Vorarlberg. Das ist für uns unmittelbare Nachbarschaft. Wir sind wie eigentlich in allen Krisen Europas sehr stark betroffen. Aber wir haben uns 1955 für die Neutralität entschieden und es ist weiterhin so, dass eine ganz, ganz überwiegende Mehrheit der Bevölkerung das als positiv sieht, und es hat uns auch nicht geschadet. Es hat uns auch nicht daran gehindert, voll solidarisch bei allem mitzutun und die gemeinsame Linie der Europäischen Union auch zum Beispiel jetzt im Hinblick auf das sechste Sanktionspaket voll mitzutragen.
"Wir erwarten nicht, dass andere uns helfen"
Zerback: Gleichzeitig haben Sie sich ja eine EU-Beitritts-Sonderklausel damals herausverhandelt, dass Österreich anderen militärisch nicht beistehen muss, wenn sie angegriffen werden. Sie selbst aber erwarten, dass Ihnen geholfen wird. Finden Sie das zeitgemäß und finden Sie das fair?
Schallenberg: Das ist nicht eine ganz richtige Darstellung. Wir erwarten nicht, dass andere uns helfen. Die Neutralität in Österreich ist eine militärische Neutralität. Das heißt, im Grunde genommen bedeutet sie, wir wollen keine fremden Soldaten und Stützpunkte auf österreichischem Staatsgebiet. Wir wollen uns selber auch keiner Verteidigungs- und militärischen Allianz anschließen. Aber es ist keine politische Neutralität, war es nie, nie seit 1955. Wir haben immer genau gewusst, wo wir stehen, und auch in diesem Fall, im Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine gibt es keine Äquidistanz, sondern es ist ganz klar, dass wir auf der Seite des ukrainischen Volkes stehen und jegliche Maßnahme auch zum Beispiel im Rahmen der europäischen Friedensfaszilität mittragen.
"Wir helfen massiv im humanitären Bereich"
Zerback: Aber bleiben wir bei der militärischen Neutralität. Österreich darf ja zum Beispiel nur nicht tödliche Waffen liefern. Aber mit Schutzausrüstung und medizinischen Hilfsgütern ist der Krieg doch nicht zu gewinnen.
Schallenberg: Ich kenne die Diskussion in Deutschland. Ich habe das sehr ausgiebig auch mit meinem ukrainischen Kollegen Dimitri Kuleba besprochen und er ist sich bewusst und kennt unsere Position. Wir helfen massiv im humanitären Bereich. Wir helfen massiv mit, wie Sie sagen, nichtletalem Material. Aber das ist nun einmal unsere Rechtslage. Das ist unsere Verfassung. Aber deswegen uns nachzusagen, wir seien weniger solidarisch, ist einfach nicht zutreffend. Wir helfen in großem Umfang, aber nicht mit Kriegsmaterial, und ich glaube, die Hilfe an die Ukraine kann sich nicht nur auf Kriegsmaterial beschränken.
Debatte nicht auf Neutralität beschränken
Zerback: Gleichzeitig gibt es ebenso wie bei uns in Deutschland auch bei Ihnen in Österreich schon eine jahrelange Diskussion darüber, wieviel man nun für Verteidigungsausgaben investieren möchte, und da wurde jetzt gesagt, wir wollen das auf 1,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts anheben. Das haben aber auch schon viele Regierungen in Wien versprochen. Kommt das jetzt tatsächlich – Stichwort Solidarität?
Schallenberg: Ja, Sie haben vollkommen recht. Das ist ja in Wirklichkeit eine der, man muss ja geradezu sagen, absurden Konsequenzen der Vorgangsweise des russischen Präsidenten Wladimir Putin, dass er alle Nachbarstaaten von sich wegstößt und dass er dazu geführt hat, dass die NATO relevanter denn je ist. Dass wir so eine Diskussion haben und dass Staaten wie auch Österreich und Deutschland ihre Verteidigungsausgaben massiv erhöhen werden. Die Diskussionen laufen gerade im Parlament, wo sie auch hingehören, und laufen sehr gut. Und ich glaube, dass es notwendig ist. Wir müssen alle zur Kenntnis nehmen, die Welt, in der wir uns befinden, ist eine konfrontativere. Und die nächsten Jahre und Jahrzehnte werden massiv beeinflusst werden von diesem Angriffskrieg der Russen auf die Ukraine. Das ist wirklich ein Zivilisationsbruch, den wir gerade erleben, und wir alle, egal ob neutral oder in der NATO, müssen darauf reagieren und die entsprechenden Konsequenzen ziehen.
Zerback: Nun sagen Sie ja zurecht, Sie haben da die Bevölkerung bei Ihrer Einschätzung hinter sich. Das bestätigen Umfragen ganz klar. Dennoch nimmt ja auch bei Ihnen in Österreich die Debatte Fahrt auf. In dieser Woche haben 50 prominente Österreicher, Sicherheitsexperten, ehemalige Politiker, Wissenschaftler, in einem offenen Brief an den Bundespräsidenten gefordert, dass es jetzt eine „offene Debatte ohne Scheuklappen“ geben muss. Sind Sie dazu bereit?
Schallenberg: Ich glaube, es ist notwendig zu diskutieren. Ich würde aber sagen, dass es nicht richtig wäre, die Debatte nur auf die Neutralität zu beschränken - das wäre wieder zu kurz gegriffen. Sondern dass wir uns in Österreich überlegen sollten, was ist eigentlich der Beitrag, den Österreich zur europäischen Sicherheit leisten kann. Das ist die Debatte, die wir hier führen sollten und die wir auch führen werden. Aber ich befürchte, dass eine Debatte, die sich nur darum dreht, Neutralität ja oder nein, sehr schnell ein Ende finden würde in Österreich.
"Es stand nie zur Diskussion, ob Österreich solidarisch ist"
Zerback: Was können Sie denn über das Maß hinaus, was Sie im Moment beitragen, noch beisteuern, um die Ukraine zu unterstützen?
Schallenberg: Ganz offen – und das zeigen wir eigentlich seit unserem Beitritt 1995: Es stand nie zur Diskussion, ob Österreich ein solidarisches Land ist, ob Österreich ganz klar bei der Werte- und Außenpolitik der Europäischen Union teilnimmt. Und das ist jetzt genauso. Zum Beispiel, wenn wir denken an die europäische Friedensfaszilität: Ja, wir nehmen nicht teil – da haben wir uns konstruktiv enthalten – beim Bereich, der militärische Unterstützung betrifft, aber leisten dafür umso mehr beim humanitären. Am Schluss wird der Budget-Schlüssel ausgeglichen sein zwischen uns und den anderen Mitgliedsstaaten. Das heißt, wir kompensieren das mit umso größeren Maßnahmen im humanitären Unterstützungsbereich.
Schnellere EU-Beitrittsverfahren
Zerback: Jetzt gibt es ja ein Anliegen, das der Ukraine ganz wichtig ist. Nur wenige Tage nach Kriegsbeginn hat das Land beantragt, in die EU aufgenommen zu werden. Sollte dieses Verfahren jetzt zügig, vielleicht sogar beschleunigt angegangen werden?
Schallenberg: Ich glaube, dass wir ganz grundsätzlich unsere gesamte Nachbarschaftspolitik überdenken müssen. Wir Österreicher sagen, dass die Europäische Union eine Verantwortung hat nicht nur gegenüber der Ukraine, auch gegenüber Moldau, auch gegenüber dem Südkaukasus, aber insbesondere auch gegenüber dem Westbalkan. Das sind Staaten, denen wir vor 19 Jahren, 2003 in Thessaloniki, die Beitrittsoption versprochen haben. Sie sind heute noch in diesem Verfahren und wir haben zwei Staaten, Nordmazedonien und Albanien, wo wir seit Jahren herumtun, dass wir endlich die Beitrittsverhandlungen eröffnen. Ich glaube, jetzt im Juni wäre der gute Zeitpunkt, noch unter französischem Vorsitz, endlich Nägel mit Köpfen zu machen und von den Lippenbekenntnissen wegzugehen zur Aktion und die Beitrittsverhandlungen mit diesen beiden Staaten, Nordmazedonien und Albanien, zu eröffnen, aber auch zum Beispiel die Visaliberalisierung mit Kosovo endlich auf den Weg zu bringen.
Neue Modelle zwischen Beitrittskandidat und EU-Vollmitgliedschaft
Zerback: Jetzt habe ich noch keine Antwort auf die Frage gehört, ob die Ukraine jetzt beschleunigt in die EU aufgenommen werden sollte.
Schallenberg: Es gibt kein beschleunigtes Verfahren. Ich verstehe vollkommen emotional, dass die Ukraine diesen Wunsch hat. Ich glaube, wir haben alle Interesse, nicht nur die Ukraine, sie ganz klar in der europäischen Familie zu verankern, im europäischen Werte- und Lebensmodell einzugliedern und dort zu verankern. Aber wir alle wissen, dass ein Beitrittsverfahren Jahre, wenn nicht Jahrzehnte dauert. Die Türkei feiert gerade den 59. Jahrestag des Beitrittskandidaten-Status, wenn man das so formulieren darf, und wir müssen uns überlegen, wie können wir so ein Verfahren, so eine Beziehung wirklich ausgestalten, damit für jeden Drittstaat, insbesondere Russland klar ist, dieser Staat gehört zu unserer Wertefamilie. Da habe ich genauso wie der Präsident Macron uns Gedanken gemacht und es gibt die verschiedensten Möglichkeiten. Ich glaube, dass wir Fantasie entwickeln müssen, dass diese alten Schablonen, Assoziierungsvertrag oder Vollmitgliedschaft oder europäischer Wirtschaftsraum, einfach nicht mehr passen, sondern dass wir uns neue Modelle überlegen müssen, dass wir diese Staaten zum Beispiel in gewissen Bereichen des Binnenmarktes, Stichwort Verkehr, Stichwort Energie, Stichwort Forschungspolitik, tatsächlich schon reinholen und dann aber auch soweit wie möglich wie Vollmitglieder behandeln in diesen Bereichen.
Zerback: Ich verstehe Sie richtig, Sie schließen sich da Emmanuel Macron an, der ja kürzlich noch mal einen Vorstoß gewagt hat und sagt, es ist Zeit für einen Kompromiss, nicht entweder drinnen oder draußen, sondern es soll eine politisch engere Anbindung geben, aber ein abgestuftes Verfahren?
Schallenberg: Ich glaube, das ist eine grundsätzliche Frage, die wir uns stellen müssen. Wir haben das gleiche Problem ja auch beim Westbalkan. Und noch einmal: Für mich ist sehr wesentlich, das ist eine Region, die umgeben ist von EU-Staaten, wo wir wirklich ein Versprechen haben, dass wir diesen Prozess mit Leben erfüllen und nicht warten, dass man in vielen Jahren, Jahrzehnten endlich beitritt und dazwischen eigentlich für die Bürger dieser Staaten gar nichts spürbar ist. Die gleiche Problematik haben wir da auch und ich bin der Meinung, dass wir Fantasie entwickeln müssen. Das haben wir in der Vergangenheit auch im Rahmen der Europäischen Union und ich bin zuversichtlich, dass es diesmal auch gelingen wird: Wie können wir klarmachen, dass diese Staaten zu uns gehören? Es gibt in der Politik kein Vakuum. Es ist entweder unser Lebensmodell, das sich durchsetzt, oder das einer dritten Partei, und das kann nicht in unserem Sinne sein. Es muss unseres sein, unser Lebens- und Wertemodell. Und geht das ausschließlich über die Vollmitgliedschaft in vielen Jahren und Jahrzehnten? Diese Frage beantworte ich mit nein und sage, es gibt Möglichkeiten dazwischen, das auch mit Leben zu erfüllen.
Zerback: Wie kurzfristig können diese Möglichkeiten denn sein, weil die Ukraine würde hier natürlich sagen, wir sind ganz schnell auf Anbindung, auf Schutz durch das Bündnis auch angewiesen?
Schallenberg: Ich glaube, das geht sehr schnell. Wir haben mit der Ukraine ja schon einen sehr umfassenden Assoziierungsvertrag, wo man sich sagt, wir suchen uns gewisse Bereiche raus, wo die Ukraine entsprechend dann ihren Rechtsbestand, ihre Gesetze anpasst, und in diesen Bereichen werden sie quasi so behandelt, als wären sie Vollmitglieder. Das kann auch zum Beispiel im Bereich der Sicherheits- und Außenpolitik sein. Das hielte ich für sehr sinnvoll und das könnte, wenn der politische Wille da ist, eigentlich recht rasch geschehen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.