Lennart Pyritz: Es geht um Forschung zu Neutrinos. Fangen war ganz vorne an. Was sind das überhaupt für Partikel?
Ralf Krauter: Neutrinos sind kosmische Geisterteilchen. Sie sind überall, Myriaden davon schwirren beinah mit Lichtgeschwindigkeit durch den Weltraum. In diesem Moment durchdringen Milliarden davon unsere Körper. Nur weil die diese ‚Geisterteilchen' kaum mit Materie wechselwirken, merken wir nix davon.
Pyritz: Aber man ist sich schon sicher, dass es die auch tatsächlich gibt?
Krauter: Heute schon. Aber am Anfang sah's ganz anders aus. Zuerst mal betraten Neutrinos sozusagen als Papiertiger die Bühne des Weltgeschehens. Der berühmte Physiker Wolfgang Pauli postulierte 1930 einfach, dass es die geben muss, weil sich der radioaktive Betazerfall anders nicht zufriedenstellen erklären ließ. Und Pauli war damals schon klar: Das ist eigentlich ein Unding, ein Teilchen einzuführen, das so unbehelligt seine Bahnen durch den Kosmos zieht, weil es keine elektrische Ladung hat und keine Masse, dass man es wohl nie wird nachweisen können. Klingt nach Taschenspielertrick. War aber einer der sich auszahlte. Denn 1956 dann gelang es den zwei US-Amerikanern Cowans und Reines in einem berühmten Experiment, das sich in jedem Physiklehrbuch findet, Neutrinos erstmals nachzuweisen. Eine bahnbrechende Leistung für die es 1995 den Physiknobelpreis gab. Heute wissen wir: Neutrinos sind die zweithäufigste Art von Teilchen im Universum. Nur Lichtteilchen gibt's noch häufiger. Wenn man so will wurden die also innerhalb von 85 Jahren vom Papiertiger zum Hauptdarsteller in allen Theorien zur Beschreibung des Universums.
"Neutrinos sind kosmische Formwandler"
Pyritz:Die Experimente der heute ausgezeichneten Forscher Takaaki Kajita und Arthur McDonald fanden Mitte der 1990er-Jahre/Anfang der 2000-Jahre statt. Was genau haben die neues über Neutrinos rausgefunden?
Krauter: Die beiden konnten Antworten auf eine Frage liefern, die Physikern jahrelang Kopfzerbrechen bereitet hat. Die lautete: Wo bleiben all die Neutrinos von der Sonne? Neutrinos entstehen unter anderem in sehr großer Zahl bei der Kernfusion, also bei der Verschmelzung von Atomkernen, die unsere Sonne leuchten lässt. Und man hatte seit den 1960er Jahren eine ziemlich gute Vorstellung davon, wie viele Neutrinos von der Sonne auf der Erde landen sollten. Das Blöde war nur: Die riesigen Detektoren, die man auf der Erde aufgebaut hatte, um diese solaren Neutrinos zu messen, die schlugen viel zu selten an. Die registrierten nur etwa ein Drittel des erwarteten Neutrinostroms. Und das warf natürlich die Frage auf: Wo zum Teufel ist da der Wurm drin? In unseren Berechnungen? In den Detektormessungen? Oder liegt's vielleicht daran, dass sich Neutrinos ganz anders verhalten, als wir denken? Die heute ausgezeichneten Experimente lieferten nach Jahren des Im-Nebel-Stocherns die Antwort auf diese Frage. Und die lautet: Neutrinos sind kosmische Formwandler - Verwandlungskünstler, die mal so und mal so in Erscheinung treten können.
Pyritz: Neutrinos können sich verwandeln, also müssen Sie eine Masse haben. Diese Ergebnisse veröffentlichten die japanischen Forscher um Takaaki Kajita 1998. Das sorgte damals für Wirbel in der scientific community, oder Ralf Krauter?
Krauter: Genau. Und zwar weil bis dahin alle gedacht hatten. Neutrinos haben gar keine Masse. Man wusste zwar, dass es drei Arten davon gibt - Fachleuten sprechen von Elektron-Neutrinos, Myon-Neutrinos und Tau-Neutrinos - das sagt das Standardmodell der Teilchenphysik vorher. Aber man dachte eben: Einmal Elektron-Neutrino, immer Elektron-Neutrino, usw. Und jetzt sah es plötzlich so aus, als stimmt das gar nicht: Die können sich doch verwandeln und müssen deshalb eine von Null verschiedene Masse haben.
"Die Chamäleons des Weltraums"
Pyritz: Die ersten Beweise kamen also aus Japan. Was genau haben die kanadischen Neutrinojäger dann noch beigesteuert?
Krauter: Die Japaner hatten atmosphärische Neutrinos gemessen, die entstehen, wenn geladene Partikel aus dem All auf die Erdatmosphäre treffen. Die Kanadier ihrerseits nahmen sich mit ihrem Detektor, dem Sudbury Neutrino Observatory, kurz SNO, das ganz ähnlich aufgebaut ist, direkt die Neutrinos von der Sonne ins Visier, die so lange für Rätselraten gesorgt hatten. Das kanadische Experiment war in der Lage, sowohl nur Elektronneutrinos zu messen, also auch die Partikel aller drei Neutrino-Familien zusammen. Die Gesamtzahl aller gemessenen Neutrinos entsprach den Erwartungen der Theoretiker, die Zahl der Elektron-Neutrinos von der Sonne betrug nur ein Drittel des erwarteten Wertes. Damit war klar: Zwei Drittel der Elektron-Neutrinos, die die Sonne aussendet, kommen als Myon- oder Tau-Neutrino auf der Erde an. Deshalb die Titelzeile auf der heutigen Nobelpreispressemeldung: Die Chamäleons des Weltraums. Neutrinos sind wirklich Verwandlungskünstler, die auf der Reise ihre Identität wechseln. Das war damit hieb- und stichfest bewiesen. Und damit das Rätsel um den Verbleib der solaren Neutrinos gelüftet.
Pyritz: Sehen das denn auch andere Forscher so, die nicht direkt an einem der heute ausgezeichneten Experimente zu den Verwandlungskünsten von Neutrinos beteiligt waren?
Krauter: Definitiv. Diese Entdeckung hat einen Paradigmenwechsel eingeläutet. Die Lehrbücher mussten neu geschrieben werden. Ich habe vorhin zum Beispiel mit Prof. Arnulf Quadt von der Uni Göttingen telefoniert. Der konnte sich noch genau dran erinnern, wie das damals war, als diese spektakulären Neuigkeiten von den Neutrino-Oszillationen und der Neutrinomasse die Runde machten. Physik jenseits des Standardmodells - die Experimente von TAKAAKI KAJITA und ARTHUR McDONALD haben die Tür dazu einen Spalt breit aufgestoßen. Und wurden seitdem in verfeinerter Form wiederholt und bestätigt. Es gibt inzwischen sogar Experimente, bei denen man den Neutrinos sozusagen auf dem Weg von A nach B dabei zuschauen kann, wie sie sich von einer Art in die andere verwandeln. Also der Befund ist eindeutig. Und dass das Nobelkomitee vor zwei Jahren noch die Leute ausgezeichnet hat, die mit dem Higgs-Teilchen den letzten noch fehlenden Baustein des Standardmodells vorhergesagt haben, und heute bekommen den Preis jene, die den ersten Sargnagel in diese Theorie eingeschlagen haben, das hat doch auch was. Für Laien mag das schizophren klingen. Eben ist das Gedankengebäude fertig, dann reißt man's schon wieder ein. Aber es ist eben die reine Neugier, die die Physiker antreibt - und der Wunsch, immer mehr über das Universum rauszufinden. Und diese Neugier hat eben unter anderem auch dazu geführt, dass Neutrino-Detektoren immer weiter verfeinert wurden, und heute so zuverlässig funktionieren, dass man Neutrinos heute sogar als Sonden einsetzen kann und Einblicke in Prozesse in den Tiefen des Alls zu gewinnen und tief im Erdinneren. Geoneutrinos zum Beispiel, die Kilometer unter der Erdoberfläche bei radioaktiven Zerfallsprozessen entstehen, verraten, welche Art von Gestein es da unter unseren Füßen gibt. Und Registrierung dieser Botschafter aus der Tiefe, die hat Fachleuten unter anderem schon verraten, dass es bis zu 1000 Kilometer tief im Erdinneren große Mengen an Uran und Thorium zu geben scheint, die dort durch radioaktiven Zerfall für Hitze sorgen. Die Geoneutrinos verraten auch, dass die Konzentration dieser Elemente jener in Meteoriten entspricht. Was darauf hindeutet, dass die Erde vor 4,5 Milliarden Jahren zeitgleich mit denen entstanden ist.
Mit Neutrinos Nuklearschmuggel vorbeugen?
Pyritz: Welche Anwendungen von Neutrinos als Sonden wären denn künftig noch denkbar?
Krauter: Also es gibt zum Beispiel Reaktortechniker, die sagen: Man könnte mit Neutrinodetektoren den Stoffumschlag in Atomanlagen überwachen, ohne die betreten zu müssen - um zum Beispiel Nuklearschmuggel vorzubeugen. Im Prinzip könnte das gehen, aber der Weg ist noch weit. Was schon sehr real ist: Das Auffangen kosmischer Neutrinos aus den Tiefen des Alls, um mehr über die Geschichte des Universums zu erfahren. Für den ersten Nachweis kosmischer Neutrinos gab's ja 2002 den Physiknobelpreis. Und mittlerweile gibt's riesige Detektoren, unter anderem Icecube am Südpol, mit denen Astronomen auf der Lauer liegen. Und die Hoffnung ist eben: Dass diese kosmischen Langstreckenläufer, die so wandlungsfähig sind, neue Einblicke in Struktur und Entwicklung des Kosmos liefern. Nettes Detail zum Schluss noch: Man weiß heute, dass die Masse der einzelnen Neutrinos verschwindend klein sein muss. Also fast null. Aber in der Summe bringen alle Neutrinos im Kosmos dann doch soviel Gewicht auf die Waage, wie alle sichtbaren Sterne im Universum zusammen. Also das macht schon klar: Das sind Partikel, mit denen man rechnen muss, wenn man den Kosmos wirklich verstehen will.