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Neuübersetzung
Literaturgenie Dostojewski in Ketten

Am Anfang von Dostojewskis Schreibkarriere stand das Zuchthaus. Weil er sich als junger Mann für demokratische Ideen begeisterte, wurde er 1849 zu zehn Jahren Zwangsarbeit in Sibirien verurteilt. Was er hier erlebte, hielt er in den „Aufzeichnungen aus einem toten Haus“ fest, die nun neu übersetzt wurden.

Von Brigitte van Kann |
Der Schriftsteller Fjodor Michailowitsch Dostojewski und sein Buch „Aufzeichnungen aus einem toten Haus“
Neben Tolstoi der berühmteste Schriftsteller Russlands des 19. Jahrhunderts: Fjodor M. Dostojewski (Foto: imago / Buchcover: Carl Hanser Verlag)
"Zehn Minuten nach dem Aufbruch der Häftlinge verließen auch wir das Gefängnis, um nie mehr dorthin zurückzukehren, ich und mein Kamerad, mit dem ich gekommen war. Wir mussten (...) in die Schmiede gehen, damit unsere Ketten abgeschmiedet wurden. (...) Uns schmiedeten unsere Häftlinge ab (...). Die Schmiede drehten mich mit dem Rücken zu sich, hoben von hinten meinen Fuß hoch, legten ihn auf den Amboss (...) Sie waren geschäftig, wollten es möglichst geschickt, möglichst gut machen.
'Die Niete, zuallererst dreh die Niete um!', kommandierte der Vorarbeiter, 'halt sie jetzt, so, gut!' (...) Jetzt schlag mit dem Hammer.'
Die Ketten fielen. Ich hob sie auf (...) Ich wollte sie in der Hand halten, sie zum letzten Mal anschauen. (...)
'Nun, mit Gott! Mit Gott!' sagten die Häftlinge abrupt, mit ihren groben, doch irgendwie zufriedenen Stimmen.
Ja, mit Gott! Freiheit, ein neues Leben, die Auferstehung von den Toten (...), was für ein wunderbarer Moment!"
So eindrucksvoll enden Fjodor Dostojewskis "Aufzeichnungen aus einem toten Haus", in denen er festhielt, was er selbst als Kettensträfling in Sibirien erlebt und erfahren hatte. In diese außerordentliche Lage war der junge Schriftsteller 1849 wegen seiner Teilnahme an einer politischen Diskussionsrunde geraten – wofür er zunächst die Todesstrafe erhielt. Er stand schon auf dem Richtplatz, als ein Bote des Zaren in letzter Minute die Umwandlung der Strafe in zehn Jahre Sibirien verkündete, auch das eine Art "Auferstehung von Toten"! Vier Jahre davon verbüßte Fjodor Dostojewski als Zwangsarbeiter in Ketten, den Rest leistete er als gemeiner Soldat ab. Schon während der Zwangsarbeit – der Katorga, wie sie auf Russisch heißt – beschließt er, das Erlebte aufzuschreiben.
Notizen aus einer völlig abgeschotteten Lager-Welt
Allerdings gilt auch während seines sechsjährigen Soldatenlebens striktes Schreibverbot. Dennoch gelingen dem Schriftsteller umfangreiche Notizen über seine Sträflingszeit: Er hält einprägsame Persönlichkeiten unter den Mithäftlingen fest, brisante, aber auch komische Situationen, derbe Aussprüche und vieles andere mehr. Über fünfhundert Einträge versammelt Dostojewski in diesem sogenannten "Sibirischen Heft". Wie die Übersetzerin Barbara Conrad in ihrem kenntnisreichen Nachwort darlegt, sind Notate aus diesem "Heft" sowohl in die "Aufzeichnungen" als auch in die später weltberühmten Romane des Autors eingeflossen.
Dostojewskis Bericht aus dem Inneren der Sträflingswelt markiert nicht nur den Übergang von den Erzählungen aus den Jahren vor der Haft zu den großen epischen Werken (seine Romane sind ohne die vierjährige Erfahrung als Kettensträfling nicht zu denken.) Die Katorga war darüber hinaus auch Dostojewskis Schule des Lebens. Seine Strafgefangenzeit habe Dostojewski als "Laboratorium zur Erforschung der menschlichen Psyche" gedient, lesen wir in Barbara Conrads Nachwort, als Versuchsanordnung "zur Analyse von Verbrechen und dem, was die Menschen dazu antreibt, sie zu begehen, zur Problematik der Gerechtigkeit und dessen, was als Recht gilt." Genau darum geht es in Dostojewskis Romanen. Man kann die "Aufzeichnungen aus einem toten Haus" also mit Fug und Recht als Vorstudie zu seinem gewaltigen Prosawerk bezeichnen.
Laboratorium zur Erforschung der menschlichen Psyche
Mit dem Schwung der wiedererlangten Freiheit hatte sich der Schriftsteller gleich nach seiner Entlassung 1859 an die Fertigstellung der "Aufzeichnungen aus einem toten Haus" gemacht. Publiziert zwischen 1860 und 1862, bescherten sie dem Schriftsteller, dessen vielversprechende Karriere 1849 so abrupt unterbrochen worden war, ein glanzvolles Comeback in der literarischen Welt. Sie erschienen zugleich mit der weitreichendsten Reform im alten Russland: Der Abschaffung der Leibeigenschaft durch Zar Alexander II. 1861, gefolgt von weiteren Reformen der Justiz und des Strafvollzugs. Zu letzteren gehörte auch das Verbot der barbarischen Körperstrafen. Man denke nur an die im Schwitzbad aufblühenden Narben auf den Rücken der Mitgefangenen, ein Anblick, den Dostojewski mit Entsetzen schildert.

Bewusst verzichtete der Autor in seinen "Aufzeichnungen aus einem toten Haus" darauf, sein persönliches Leid in den Vordergrund zu stellen. Stattdessen greift er hier zum distanzierenden Mittel der Herausgeberfiktion: Er gibt vor, die "Aufzeichnungen" unter den Papieren eines verstorbenen Bekannten entdeckt zu haben.

Tatsächlich sind Dostojewskis "Aufzeichungen aus einem toten Haus" die erste literarisch-dokumentarische Darstellung eines sibirischen Zuchthauses, in dem Kettensträflinge Zwangsarbeit leisten. Von der Existenz solcher Orte wusste man natürlich im Russland des 19. Jahrhunderts, aber dennoch waren sie eine terra incognita.
"Hier hatte man seine eigene Welt, die mit nichts anderem mehr gleich war, hier hatte man seine eigenen Gesetze, seine Kostüme, seine Sitten und Bräuche, hatte bei lebendigem Leib ein totes Haus, ein Leben wie nirgendwo und Menschen von eigener Art."
Der Text folgt einer geradezu eleganten Gliederung von den ersten Eindrücken des Gefangenen, über den ersten Monat und die neuen Bekanntschaften bis hin zu einer Theateraufführung im Zuchthaus, deren traurige Komik den Leser zwischen Lachen und Weinen hin und her reißt.
Grundlagentext für spätere Gulag- und Gefängnisbücher
Bewusst hat die Übersetzerin den Text nicht geglättet, um ihn im Deutschen gefälliger zu machen. Eine Versuchung, der ihre Vorgänger häufig erlegen sind. Genauigkeit und Texttreue zeichnen Barbara Conrads Übersetzung aus. Das fängt schon beim Titel an, der in der Vergangenheit mit "Aufzeichnungen aus einem Totenhaus" übersetzt wurde; nun heißt es wie im Russischen attributiv: " ... aus einem toten Haus"! Der immensen Schwierigkeit, das ebenso farbige wie verknappte Russisch der einfachen Leute ins Deutsche zu bringen, ist die Übersetzerin beherzt begegnet – indem sie zum Beispiel aus einem reichen Fundus an deutschen Redensarten schöpft und so das nötige volkstümliche Kolorit erzeugt. Wo russische Realien keine Entsprechung im Deutschen haben, erspart die Übersetzerin sich und dem Leser sprachliche Verrenkungen – und belässt den jeweiligen Begriff im Russischen: Der Leser findet die Erklärung im Glossar.
Manchmal bleibt's beim russischen Wort
Doch warum, so mag sich mancher Leser fragen, soll ich heute überhaupt noch einen so alten, von der Geschichte mehrfach überholten Bericht über ein russisches Zuchthaus lesen? Nun, weil Dostojewskis "Aufzeichnungen aus einem toten Haus" ein dokumentarischer Grundlagentext sind, unabdingbar für das Verständnis russischer Verhältnisse und russischer Literatur des 19. Jahrhunderts. Sie geben einen tiefen Einblick in die russische Gesellschaft von damals; und das obwohl – oder gerade weil – sie wie ein dunkler Spiegel deren dem Licht abgewandte Seite in den Blick nehmen. So lässt Dostojewski sein Alter ego, den fiktiven Autor der "Aufzeichnungen", folgende Überlegung über seine Mithäftlinge anstellen:
"'Wer weiß? Diese Menschen sind vielleicht überhaupt nicht in dem Maße schlechter als jene Übrigen, die dort, jenseits der Gefängnismauern, geblieben sind.’ Ich musste selbst den Kopf schütteln über diesen Gedanken, dabei – mein Gott! hätte ich damals nur gewusst, wie wahr er ist!"
Warlam Schalamow, der sechzehn Jahre im sowjetischen GULAG verbrachte, hat seine Erfahrungen nicht nur in den literarisch hochkomprimierten "Erzählungen aus Kolyma" weitergegeben, sondern auch in Berichten, deren persönlich beglaubigte Authentizität an Dostojewskis "Aufzeichnungen" erinnert. Aber um wie viel menschenverachtender als das zaristische Zuchthaus war im Vergleich die sowjetische Maschinerie zur Ausbeutung des Menschen! Womit nicht gesagt sein soll, dass der zaristische Strafvollzug milde gewesen sei. Um russische Kontinuitäten, aber auch um die entsetzliche Verschärfung, ja, den Missbrauch des Strafvollzugs unter dem Sowjetregime zu erkennen: Auch dafür öffnen Dostojewskis "Aufzeichnungen aus einem toten Haus" den Blick.
Fjodor M. Dostojewski: "Aufzeichnungen aus einem toten Haus"
herausgegeben und aus dem Russischen übersetzt von Barbara Conrad
Carl Hanser Verlag, München. 540 Seiten, 36 Euro.