Freitagsgebet in einer Moschee in Istanbul. Drinnen betet Abdullah Gül, früherer Ministerpräsident, Außenminister und Staatspräsident der Türkei und Mitbegründer der Regierungspartei AKP. Gül hat sich aus der Politik zurückgezogen, seit er das Präsidentenamt vor vier Jahren an Erdoğan abgab. Nur selten äußert er sich noch zur Tagespolitik, über Twitter oder nach dem Freitagsgebet vor der Moschee. Und wenn er es tut, so wie hier in Istanbul im Januar, dann horcht die Türkei auf.
Der Ausnahmezustand müsse bald beendet werden, sagt Abdullah Gül. Es sei nun höchste Zeit, zur Demokratie zurückzukehren und alle Funktionen des Rechtsstaates wieder in Kraft zu setzen. Präsident Erdoğan pfeift auf die Meinung seines langjährigen Weggefährten und lässt ihn das auch öffentlich wissen. Dafür genießt Gül heute bei der Opposition große Hochachtung. Selbst der Vorsitzende der größten Oppositionspartei könnte sich Abdullah Gül noch einmal als Präsidenten vorstellen.
Kein anderer kann Erdoğan so gefährlich werden
Gegen Abdullah Gül sei nichts einzuwenden, sagt Kemal Kılıçdaroğlu, der Vorsitzende der kemalistischen Partei CHP, im türkischen Fernsehen. Die CHP wünsche sich einen überparteilichen Staatspräsidenten, der alle 80 Millionen Türken vertreten könne. Gül habe diese überparteiliche Unabhängigkeit als Staatspräsident bewiesen und seither auch gewahrt.
Kein anderer Politiker kann Erdoğan deshalb so gefährlich werden wie Gül. Meral Akşener, die Chefin der neuen rechtspopulistischen Partei Iyi Parti, wildert zwar mit einigem Erfolg in der konservativen Stammwählerschaft der AKP. Als knallharte Nationalistin und ehemalige Innenministerin wird sie aber von den Kurden abgelehnt, die mehr als zehn Prozent der türkischen Wähler stellen. Der charismatische Chef der Kurdenpartei HDP, Selahattin Demirtaş, sitzt im Gefängnis. Und Kılıçdaroğlu, als Chef der CHP nominell der Oppositionsführer, ist farblos und ungeschickt. Eine gemeinsame Mobilisierung der Erdoğan -kritischen Wähler ist mit keinem dieser Kandidaten möglich. Das hat die kleine Saadet-Partei erkannt, deren Vorsitzender Temel Karamollaoglu deshalb Gül die Kandidatur angeboten hat.
Gebraucht werde ein Kandidat, der nicht nur die Anhänger der CHP und der HDP anspreche, sondern auch enttäuschte Wähler der AKP und der nationalistischen MHP, sagt Karamollaoglu. Abdullah Gül passe auf diese Beschreibung.
Chance oder Verrat?
Die große Frage ist nun, ob Gül es wagen wird, Erdoğan direkt herauszufordern und sich noch einmal um das Amt des Staatspräsidenten zu bewerben? Seit letzte Woche das Datum für die Neuwahl bekannt gegeben wurde, laufen auf allen türkischen Fernsehkanälen die Reporter durch die Einkaufsstraßen der Türkei und befragen das Volk. Die Ansichten sind so polarisiert wie die Umfragewerte.
Gül solle kandidieren, findet dieser junge Mann, denn er sei der einzige Mensch, der die Opposition hinter sich vereinigen könne. Eine Kandidatur für Abdullah Gül wäre ein Gewinn für die Demokratie in der Türkei, sagt auch dieser Mann.
Andere Passanten lehnen eine Kandidatur von Gül strikt ab. Wo gebe es das denn, empört sich dieser Mann, dass man einem alten Freund und Weggefährten in den Rücken falle. Eine Schande wäre es, wenn Abdullah Gül gegen Erdoğan antreten sollte, findet auch dieser alte Herr: ein Vorgeschmack auf die erbitterten Verratsvorwürfe, die Gül bei einer Kandidatur aus der AKP zu erwarten hätte. Abdullah Gül hat sich - vielleicht auch deshalb –selbst noch nicht geäußert. Saadet-Parteichef Karamollaoglu will sich heute mit ihm treffen.