Christoph Heinemann: Wem wird diese Wahl nutzen?
Seb Dance: Gute Frage, wahrscheinlich den Postboten, die wegen der Briefwahl viele zusätzliche Lieferungen bekommen werden. Wer weiß, was bei diesen Wahlen herauskommen wird. Schwer vorherzusagen. Ja, die Tories stehen gut da in den Umfragen. Und gewöhnlich deutet das darauf hin, dass sie diese Wahl leicht gewinnen würden. Vielleicht kommt es dazu. Aber sehr viele Wählerinnen und Wähler schwanken. Hinzu kommt, dass diese Wahlen mitten im Winter stattfinden werden, wenn es sehr dunkel, sehr kalt und sehr nass ist. Also hier kommen Probleme zusammen, die sonst bei Wahlen keine Rolle spielen. Es ist vollkommen unklar.
Heinemann: In den Umfragen führen die Konservativen mit mehr als zehn Prozentpunkten. War eine Zustimmung zu Wahlen in einer solchen Lage nicht selbstmörderisch?
"Ein Tory-Erdrutsch wurde vorhergesagt"
Dance: Als Theresa May 2017 Neuwahlen angesetzt hat, verfügte sie über einen Vorsprung von etwa 21 Prozentpunkten. Ein Tory-Erdrutsch wurde vorhergesagt, und dass Labour ausradiert werden würde. Dazu kam es nicht. Diesmal ist es eine ganz andere Wahl: Boris Johnson ist ein wesentlich besserer Wahlkämpfer als es Theresa May jemals war. Allerdings sind in den traditionellen Tory-Wahlbezirken viele Menschen über die Brexit-Politik der konservativen Partei sehr verärgert. Andererseits sieht es für Labour auch nicht gut aus. Diese Wahl war unausweichlich. Ich hätte es zwar lieber gesehen, wenn vor der Wahl ein Referendum stattgefunden hätte. Aber das ist nun einmal die Ausgangslage, und wir werden sehen, was herauskommen wird.
Heinemann: Ist Herr Johnson auch ein besserer Wahlkämpfer als Herr Corbyn?
Dance: Gute Frage und ehrlich gesagt, ich kenne die Antwort nicht. Corbyn ist ein ausgezeichneter Straßen-Wahlkämpfer, ein Kämpfer im Einsatz mit Bodentruppen. Boris Johnson ist ein Populist. Er ist in der Lage, solche Teile der Wählerschaft zu gewinnen, die Theresa May eher nicht gewinnen konnte. Ich vermute, dass diese Wahl spannender wird als viele vorherige.
"Wir müssen Boris Johnson besiegen"
Heinemann: Herr Corbyn verhielt sich ausgesprochen mehrdeutig beim Brexit, beim Abkommen oder bei der Neuwahl. Verstehen Sie sein Hin und Her?
Dance: Ich habe niemals verstanden, wieso wir uns nicht von Beginn an gegen den Brexit positioniert haben. Zum Teil erklärt sich die schwierige Lage, in der wir uns befinden, damit, dass wir keine klare Anti-Brexit-Botschaft gesendet haben. Mit unserer gegenwärtigen Haltung bin ich sehr zufrieden. Ich kann alle nur auffordern, bei dieser Wahl für Labour zu stimmen. Denn wenn wir eine Labour-Regierung bekommen, wird ein Referendum stattfinden. Und damit bekommen wir die Möglichkeit, den Brexit zu stoppen und den Kurs des Landes zu ändern. Unsere Position wäre allerdings so viel leichter, hätten wir von Beginn an diese Politik verfolgt. Ich habe dafür während der letzten drei Jahre gekämpft und bin nun froh, dass wir so weit sind. Wir müssen Boris Johnson besiegen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Brexit unter einer Labour-Regierung zustande kommt. Ich kann mir das überhaupt nicht vorstellen.
Heinemann: Das Datum für den Brexit ist auf den 31. Januar verschoben. Wenn die Umfragen Recht behalten und die Konservativen gewinnen würden, wäre das dann der letzte Aufschub gewesen?
Dance: Wahrscheinlich ja. Meines Wissens findet zwischen dem Wahltag am 12. Dezember und den Weihnachtsferien keine Sitzung des Parlaments statt. Kann sein, dass, wenn Johnson gewinnen würde, er das Austritts-Gesetz in dieser Woche ins Parlament bringen wird. Aber ich sehe nicht, dass der notwendige Fortschritt im Dezember erreicht werden kann. Ich vermute, dass er auf den 31. Januar zielt. Sollten ein paar weitere Tage benötigt werden, dann handelte es sich um Tage, nicht um Wochen. Wenn Boris Johnson diese Wahl gewinnt, wird das Vereinigte Königreich die Europäische Union am oder um den 31. Januar verlassen.
"Das Durcheinander hat die Reputation meines Landes zerstört"
Heinemann: Wenn Sie auf die vergangenen Jahre seit der Abstimmung im Juni 2016 zurückblicken, nach diesem ganzen Brexit-Durcheinander, welche Lektionen sollten gelernt werden?
Dance: Alle politisch Verantwortlichen in der Europäischen Union sollte deutlich sagen, was die Europäische Union ist, und was sie tut. Und, was ich in den Mitgliedsstaaten überall in Europa beobachte, niemand sollte für Entscheidungen, die auf europäischer Ebene getroffen werden, Anerkennung beanspruchen und so tun, als wäre dies eine Leistung der lokalen Ebene. Und für alles, was schlecht läuft, Europa verantwortlich machen. Fehler passieren auf allen Regierungsebenen. Alles, was schief läuft, nach Brüssel umzuleiten und gleichzeitig alles, was sich in die richtige Richtung bewegt, für sich zu beanspruchen, ist ein Rezept für ein Desaster. Kein anderes Land der 28 EU-Staaten verfügt über eine so europaskeptische und -feindliche Presse wie Großbritannien. Allerdings gibt es diese Distanz Europa gegenüber in jedem Land.
Und ich möchte alle dringend bitten: Schauen Sie sich an, was mit Großbritannien passiert. Ein Land, das mit Stolz auf seine Stabilität und Rechtsstaatlichkeit verweist. Dieses ganze Durcheinander hat die Reputation meines Landes zerstört. Das bricht mir das Herz. Denn was auch immer jetzt kommen mag - ich möchte leidenschaftlich gern in der Europäischen Union bleiben, und hoffe, dass wir dazu mit der Neuwahl die Möglichkeit bekommen werden - es wird Jahrzehnte dauern, bis sich der Ruf meines Landes davon erholt haben wird. Deshalb mein Plädoyer: Schauen Sie sich an, was mit Großbritannien passiert und folgen Sie diesem Weg nicht. Es ist ein Pfad Richtung Elend und Zerstörung tragfähiger Politik.
Heinemann: Wenn Großbritannien die EU verlassen wird, was wird dann mit Ihnen geschehen?
Dance: Wer weiß. Ich bin in einer glücklichen Lage, weil ich über eine weitere EU-Staatsangehörigkeit verfüge. Meine Zugehörigkeit zur EU zu verlieren, wäre für mich das Schwierigste an der ganzen Sache. Diese hat für mich eine tiefe persönliche Bedeutung und ich schätze sie sehr hoch. Und das sollten alle tun. Wenn der Staat unsinnig handelt, dann kann Ihnen ohne Ihr Einverständnis etwas weggenommen werden, das für Sie sehr wertvoll ist. Und das quält viele Schicksalsgefährten, die gern in der EU bleiben möchten.
Heinemann: Welche ist Ihre zweite Staatsangehörigkeit?
Dance: Die Irische. Und ein bisschen bin ich auch deutsch. Aber nicht deutsch genug, dass es für einen Pass reichen würde, obwohl ich zu gleichen Anteilen irisch und deutsch bin.