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Neuwahlen sind "zutiefst demokratisch"

Bundestagspräsident Wolfgang Thierse unterstützt die Pläne der SPD-Spitze für vorgezogene Bundestagswahlen. Es sei zutiefst demokratisch, wenn eine Regierung nach einer schweren Wahlniederlage und angesichts einer schwierigen politischen Konstellation wieder den Wähler einbeziehen wolle, sagte Thierse.

Moderation: Karl-Heinz Gehm | 29.05.2005
    Karl-Heinz Gehm: Herr Thierse, seit einer Woche gibt es in diesem Lande ein alles dominierendes Thema. Das Thema heißt "Neuwahlen". Wie waren denn die ersten Gedanken des Bundestagspräsidenten und stellvertretenden SPD-Vorsitzenden, als er davon erfahren hat, dass das Parlament aufgelöst werden soll?

    Wolfgang Thierse: Ich war durchaus überrascht und auch ein wenig erschrocken, denn es ist ja ein wirklich mutiger, ja ein wagemutiger Schritt. Und ich hätte mir schon gewünscht, man hätte noch einen Moment innehalten können und darüber nachdenken können. Aber eine solche Entscheidung kann man in einer Welt, die dermaßen durch Medien bestimmt ist, halt nicht lange vorher diskutieren. Stellen Sie sich vor, wir hätten vor dem Wahltermin in Nordrhein-Westfalen darüber diskutiert, was passierte nach einer Niederlage. Das ist das Eingeständnis der Niederlage vorher, das heißt, die Niederlage erst herbeiführen. Also kann man solch eine Entscheidung wirklich nur radikal und sehr schnell und sehr kurzfristig fällen.

    Gehm: Was sagt oder was denkt man denn, wenn der Parteivorsitzende anruft und mit dem Thema Neuwahlen so holterdiepolter ins Haus fällt?

    Thierse: Ich habe es am Sonntag - Wahlsonntag - nachmittags erfahren, da hat Franz Müntefering mich angerufen. Und wir haben da kurz und heftig darüber diskutiert, und die Diskussion am Montag im SPD-Präsidium fortgesetzt.

    Gehm: Da gab es ja den bekannten Konsens dann auch. Herr Thierse, warum denn eigentlich diese Neuwahlen? Ist das hehre Motto: Erst das Land? Oder ist es nicht in Wahrheit das Motto: Erst die Partei?

    Thierse: Ach wissen Sie, man sollte einer demokratischen Partei nicht vorwerfen, wenn sie nach einer schweren, wirklich schweren Wahlniederlage und angesichts einer schwierigen politischen Konstellation meint, die Wähler wieder einbeziehen zu sollen, den Wählern die Entscheidung zu geben. Das ist zutiefst demokratisch. Ich finde, man sollte sie nicht dafür kritisieren. Dass bei diesen Überlegungen auch mit einfließt - erstens, wie können wir in dem nächsten Jahr bis zur regulären Bundestagswahl überhaupt noch regieren, wenn CDU/CSU im Bundesrat und vor allem auch im Vermittlungsausschuss nicht nur eine Mehrheit haben, sondern sogar eine Geschäftsordnungsmehrheit haben, also die Bundesregierung vollständig ersticken können, lähmen können, erniedrigen können? Und das ein Jahr lang. Das wäre jedenfalls kein schönes Schauspiel - übrigens für die Demokratie insgesamt. Und die Verärgerung und Enttäuschung und Wut der Bürger würde erheblich zunehmen. Der Streit in der eigenen Partei, der würde übrigens auch zunehmen…

    Gehm: …aber hat nicht Oskar Lafontane - es ist eine Weile her - der Regierung Kohl das Regieren auch ziemlich schwer gemacht?

    Thierse: Ja sicher, aber es gab immer noch Entscheidungen, die gefällt worden sind, und es konnte noch regiert werden. Und die Mehrheit gegen damals Helmut Kohl war nicht so erstickend, so lähmend wie jetzt die Mehrheit, die CDU/CSU im Bundesrat und im Vermittlungsausschuss haben.

    Gehm: Wie angespannt war denn vor dieser Neuwahl-Direktive die SPD in ihrer Binnenstruktur tatsächlich? Die Reformen griffen nicht, sie waren mühsam durchgesetzt worden, aber sie greifen nicht wie gewünscht. Die Basis war demotiviert, die Anhängerschaft natürlich auch - die Linke frustriert, und einige kokettierten mit dem Absprung. Ist das nicht der eigentliche Grund, dass der Kanzler die Notbremse ziehen will?

    Thierse: Ich glaube nicht, selbst wenn solche Motive eine Rolle spielen, dass man natürlich auch an die Zukunft der eigenen Partei denkt, was ja höchst legitim ist für eine demokratische Partei. Schon die Unterstellung, mit der Sie gearbeitet haben, dass so und so viel mit ihrem Austritt spekuliert haben, ist widerlegt, schlicht widerlegt, außer Oskar Lafontane, der…

    Gehm: …danach…

    Thierse: …Moment, ist widerlegt. Ich kenne die Kollegen, um die es geht. Ich bin öfters genug mit ihnen im Gespräch, um Ihnen energisch widersprechen zu können. Oskar Lafontane ist, wie Sie sich erinnern werden, nicht Mitglied des Bundestages, und er vollendet nun seinen Rachefeldzug gegen Gerhard Schröder. Er will seit Jahren nichts anderes mehr, als dieser SPD schaden. Das ist so, es tut weh, aber wir können uns an dieser Stelle nicht dagegen wehren. Das muss man wissen. Zweite Bemerkung: Natürlich wissen wir, dass die Reformen, zumal Hartz IV, erst im Gange sind. Wir sind ein paar Monate dabei - eine sehr schwierige Operation. Wir wissen, dass das erst in einigen Monaten, vielleicht in einem Jahr, wirken kann. Also wir sind mitten in einem solchen offenen Prozess. Dass das umstritten war, das ist doch nicht zu bestreiten unsererseits. Aber wir stehen zu diesen Reformen. Wir werden dann vor die Bürger treten mit dem Hinweis darauf, dass erstens CDU/CSU und zum Teil auch die FDP diese Reform ja unterstützt haben, also jetzt nicht so tun dürfen, als hätten sie mit diesen Reformen nichts zu tun. Und zweitens: Im Grunde wollen CDU und FDP ja noch viel schmerzlichere Einschnitte – radikaleren Abbau des Sozialstaats, im Grunde Zerstörung des Sozialstaats. Das wird eine der wirklichen Fragen sein, mit denen wir in den Wahlkampf ziehen: Was wollt Ihr? Wollt Ihr wirklich eine soziale Marktwirtschaft weiterhin, oder eine radikale, eine kapitalistische Marktwirtschaft pur? Wollt Ihr, dass wir durch Reformen den Sozialstaat zukunftsfähig machen, oder wollt Ihr tatsächlich den Abbau von Tarifautonomie, von Gewerkschaftsrechten, von Mitbestimmungsrechten - wie das die FDP schonungslos ausspricht und die CDU in sehr gedämpfter Form.

    Gehm: Das wird das Feld sein, auf die SPD natürlich zu punkten versucht – Motto: Soziale Politik nur mit uns - indem sie eben deutlich macht, welches die schwarz-gelben Materinstrumente sein werden. Aber Herr Thierse, interessiert das den Wähler überhaupt noch?

    Thierse: Ich habe den Eindruck, dass das den Wähler interessiert. Ich war gerade auf dem Evangelischen Kirchentag, und natürlich ist das keine repräsentative Einsicht, die ich habe, aber viele Menschen sprechen einen an und fragen: Was wird werden nach dem 18. September, falls Ihr verliert, falls Sie verlieren? Was wird mit unserem Sozialstaat, mit den sozialen Sicherungssystemen werden? Was wird mit den vielen Initiativen werden, die auf dem sozialen Felde in Deutschland arbeiten und die zum sozialen Netzwerk gehören, das das Leben in Deutschland erträglich macht? Die Besorgnis ist außerordentlich groß, dass durch einen Regierungswechsel vieles von dem kaputtgehen könnte, was für Menschen wichtig ist. Also, die Frage nach der Zukunft des Sozialstaates interessiert Menschen. Es interessiert Menschen, wer künftig in diesem Lande das Sagen hat, ob demokratisch legitimierte Politik oder eine entfesselte Ökonomie der Politik immer nur hinterher rennen kann. Solche Art Grundfragen – denke ich – kann man und soll man in das Zentrum dieses Wahlkampfes stellen.

    Gehm: Man muss es immer wieder versuchen, aber ist es denn nicht so, dass die Mehrheit der Wählerschaft, die größte Gruppierung der Wähler – die Nichtwähler beispielsweise - argumentieren: Egal wer uns regiert, besser wird's sowieso nicht?

    Thierse: Das mag sein, dass es solche Art Skepsis gibt. Also kommt alles darauf an, ob die SPD auch mit sich wieder neue Hoffnung verbinden kann, dass sie eine Politik betreibt, die tatsächlich Arbeitslosigkeit verringern kann, die die Sozialsysteme zukunftsfähig macht, die für gerechte Beteiligung an den Lasten, aber auch an den Chancen dieser Gesellschaft sorgt, die eine vernünftige und sozial gerechte Antwort hat auf das Demographie-Problem. Wir wollen das mit einer Bürgerversicherung, mit dem Konzept der Bürgerversicherung, wo alle gleichermaßen entsprechend ihrem Leistungsvermögen, ihrem Einkommen, daran beteiligt werden, und nicht so, wie es unsere politischen Konkurrenten tun wollen, die im Grunde diesen Gesichtspunkt der sozialen Gerechtigkeit schlicht vernachlässigen.

    Gehm: Herr Thierse, Sie geben gerade einen Blick für das Wahlkämpferische, was da in einigen Monaten auf uns zukommt. Wir müssen den Blick noch einmal zurücklenken nach dieser Verkündung des Begehrens Neuwahlen. Da war ja so etwas - nennen wir einmal - wie eine Solidaritätsstarre. Es war sozusagen akzeptiert, die Partei war völlig in sich geschlossen, die Grünen waren auch geschlossen. Inzwischen aber setzt das muntere Spielchen ein, das wir mal business as usual bezeichnen möchten – Schuldzuweisungen hin und her, trickreiches Schwarzes-Peter-Spiel, verbale Gefechte. Die Frage - so wie es derzeit aussieht: Hat Rot-Grün sich überlebt - schon vor den Wahlen?

    Thierse: Ich glaube nicht. Man wird vielleicht nicht mehr in einer gewissermaßen pathetischen Weise von einem 'rot-grünen Projekt' sprechen, wie es manche, noch nicht mal die Mehrheit beider Parteien, vor Jahren getan haben. Es ist ganz nüchtern eine Koalition. Wir gehen in einen Wahlkampf, wo natürlich jede Partei ganz selbstverständlich, wie das immer schon so gewesen ist, für sich kämpft. Die SPD will wieder stärkste Partei im Deutschen Bundestag werden. Deswegen kämpft sie für die eigenen Ziele, sie muss dieses eigene Profil deutlich machen. Die Grünen unterscheiden sich in mancherlei Hinsicht von der SPD, wie das in bezug auf andere Parteien auch gilt. Dass das zur Sprache kommt, da ist doch nicht beunruhigend. Das ist doch ein selbstverständlicher Teil von Wahlkampf und von politischem Alltag.

    Gehm: Sie kommen gerade vom Kirchentag, Sie haben es angesprochen. Ich darf dessen Motto leicht verfremden und fragen: Wie sag ich es meinem Kinde, dass es mit Rot-Grün so weit gekommen ist, und wie geht es weiter?

    Thierse: Also ich denke, wir haben in den vergangenen sieben Jahren doch eine Menge vernünftiger Sachen geleistet. Wir haben Reformen in die Wege geleitet, zu denen die CDU/FDP-Regierung in langen Jahren nicht fähig war. 16 Jahre lang hat sie diese Reformen nicht angepackt - Steuerreform, Arbeitsmarktreformen, Reformen der sozialen Systeme. Das waren riesige Kraftanstrengungen, die auch natürlich Streit in den eigenen Reihen erzeugt haben, weil das dramatische Veränderungen unseres Landes waren, aber um der Zukunft willen. Wir haben wichtige außenpolitische Entscheidungen getroffen. Deutschlands Rolle in der Welt hat sich verändert. Wir sind nicht weniger wichtig geworden. Wir haben Widerstand geleistet gegen einen Krieg, den wir für falsch gehalten haben, den Irakkrieg. Das hat das Ansehen Deutschlands in der Welt nicht verringert, ich glaube, deutlich vermehrt. Wir spielen eine vernünftige, verantwortliche Rolle in der Weltpolitik. Friedenspolitik ist mit Rot und Grün verbunden. Diese Gesellschaft hat sich in den vergangenen sieben Jahren, denke ich, verändert. Sie ist offener, ist toleranter geworden. All das sind doch positive Entwicklungen. Dass wir die Weltkonjunktur nicht haben beeinflussen können, dass wir auf die Wirtschaftskrise nicht eine angemessene Antwort gefunden haben in der Weise, dass wir die Arbeitslosigkeit hätten senken können, das bedauern wir sehr. Aber schauen Sie sich um, wie es anderen Ländern geht. Alle Regierenden haben vergleichbare Probleme, die Situation von SPD und Grünen ist nur ein Teil eines allgemeinen Problems.

    Gehm: Die positiven Veränderungen unbestritten, Herr Thierse. Aber an diesem Wochenende wird spekuliert, dass möglicherweise der Kanzler die grünen Minister aus dem Kabinett schmeißen könnte oder dass die Grünen die Koalition aufkündigen wollten. Ist das die sommerliche Vorwahlkampfhitze, oder ist das ein Risiko?

    Thierse: Ich kann mich an diesen Spekulationen nicht beteiligen. Ich weiß davon nichts. Ich verstehe nur so viel von Politik, dass ich sage: In Zeiten vor Wahlen ist die Aufregung nicht nur der Politiker, sondern auch der Öffentlichkeit, auch der Journalisten etwas größer. Also wird jedes leise Geräusch zu einem großen Knall verstärkt.

    Gehm: Rot-Grün, das hat auch Franz Müntefering dieser Tage wieder klar gestellt, ist erste Option, wenn es denn reicht. Die Option zwei heißt, wenn es denn sein muss, eben große Koalition. 'Keine Sünde' sagt der Vorsitzende Müntefering. Aber Herr Thierse, schreckt diese Option zwei, Große Koalition, nicht eigentlich schon SPD-Anhänger ab?

    Thierse: Die Position ist klar: Wir wollen wieder stärkste Fraktion werden im Deutschen Bundestag. Wir kämpfen für einen Erfolg der SPD, wir vertreten im Wahlkampf unsere, die sozialdemokratische Politik. Was an Koalition hinterher möglich oder erzwungen wird, das entscheiden die Wähler. In der gegenwärtigen Konstellation ist das ziemlich einfach. Schwarz und Gelb sind miteinander verbündet und verschworen, sie haben ein Eheversprechen abgegeben. Ob es zur Ehe kommt, das entscheiden andere. Rot und Grün haben sieben Jahre zusammengearbeitet, haben eine ganze Reihe von Erfolgen gehabt - auch Streit, wie das unter Koalitionspartnern in der Welt noch nie anders war. Die wahrscheinlichste Konstellation ist auch nach den Wahlen wieder, wenn wir denn eine Mehrheit haben, dass Rot und Grün eine Koalition eingehen. Große Koalitionen sollte man nie anstreben, und wir streben sie auch nicht an. Sie sind eher ein Schicksal, das die Wähler möglicherweise über Parteien verhängen, weil nichts anderes geht. Aber die Alternative ist klar. Sie ist eine zwischen Schwarz-Gelb, und zwischen Sozialdemokraten und Grünen andererseits.

    Gehm: Irgendwo am linken Rand bei PDS, Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit und Oskar Lafontaine, da dümpelt ein Wählerpotential, das durchaus ansehnlich ist und auch gefährlich werden könnte. Wie gefährlich für die SPD, Herr Thierse?

    Thierse: Das ist schwer abzuschätzen, aber es ist natürlich eine Gefahr. Oskar Lafontaine kämpft gegen die SPD, de facto er will ihr schaden. Das ist sein Rachefeldzug gegen Gerhard Schröder. Die PDS ist ein energischer politischer Konkurrent, und wenn sich da populistische Kräfte zusammentun und auf alles schimpfen, was da passiert ist, ohne zu sagen, wie man dieses Land konstruktiv reformieren kann, dann trifft das schon auf Enttäuschung und Wut, die im Lande vorhanden ist - insofern gefährlich, aber wir müssen diese Herausforderung auch annehmen und unsere Antwort muss sein. Was wir wollen ist konstruktive Politik. Wir können das besser als diejenigen, die da neu sich zusammengetan haben und die Wut und Enttäuschung der Menschen ausbeuten wollen.

    Gehm: Ist nicht eher davon auszugehen, dass wegen der Kürze der Zeit diese Linke, diese Gruppierung gar nicht zustande kommt. Das heißt, dass es kein gemeinsames Bündnis geben wird. Oder sehen Sie den Kandidaten Lafontaine da irgendwo auf Wahlzetteln auftauchen?

    Thierse: Es wäre schon eine bittere Pointe, wenn Oskar Lafontaine, der ja nun lange genug Sozialdemokrat war und sich auch Verdienste für diese sozialdemokratische Partei erworben hat, wenn er plötzlich auf der Liste der PDS kandidieren würde, jener Partei, die nun - das ist doch nicht zu vergessen - Nachfolgepartei der SED ist, die einmal die Sozialdemokratie unterjocht hat, unterdrückt hat, die Sozialdemokraten verfolgt hat. Ich weiß, wovon ich rede. Ich habe volle 40 Jahre hinter mir.

    Gehm: Apropos Wahlen: Wird es überhaupt zu Neuwahlen kommen? Der Kanzler beklagt, die politische Grundlage für die Fortsetzung seiner Politik sei infrage gestellt und Grüne und SPD-Linke überbieten sich dieser Tage in Treuebekundungen für eben diesen Kanzler. Da muss vielleicht in Bälde der zuständige Senat des Bundesverfassungsgerichts still in sich hineinschmunzeln.

    Thierse: Ach wissen Sie, der entsprechende Artikel des Grundgesetzes ist ganz einfach, es ist der Artikel 68. Ich lese ihn vor. Er ist so lapidar, dass man sich gelegentlich wundert. Er heißt: Findet ein Antrag des Bundeskanzlers, ihm das Vertrauen auszusprechen, nicht die Zustimmung der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages, so kann der Bundespräsident auf Vorschlag des Bundeskanzlers binnen 21 Tagen den Bundestag auflösen. So einfach. Ganz unkonditioniert ist hier von einer Vertrauensfrage die Rede. Wenn es denn so ist, wie wir doch hören, dass nicht nur Gerhard Schröder und Franz Müntefering, sondern auch Joschka Fischer und andere der Meinung sind, es ist sinnvoll, diese Vertrauensfrage zu stellen, das Echo aus der Opposition, also von CDU, CSU und FDP, positiv ist, ja das ist ein vernünftiger Schritt, wir sollten vor den Wähler treten, dann wird es doch wohl möglich sein, diesen Schritt auch zu gehen, zumal es doch Erfahrung damit gibt. 1972 Willy Brandt, 1982 Helmut Kohl haben diesen Weg beschritten – übrigens in jeweils unterschiedlichen Koalitionen. Bei Helmut Kohl war es so, dass er noch am Tag vorher sich mit klarer Mehrheit – die FDP hatte die Koalition gewechselt – den Haushalt hat bestätigen lassen und am nächsten Tag sich hat bescheinigen lassen, dass er keine Mehrheit hat. Wir sind diesmal in einer anderen Situation. Die Konstellation ist klar: Ganz knappe Mehrheit für Rot und Grün im Bundestag, riesige Gegenmehrheit im Bundesrat und im Vermittlungsausschuss. Regieren ist unter solchen Umständen nur in einem sehr eingeschränkten Ausmaß möglich. Lähmung droht. Das sollte man dieser Demokratie nicht zumuten. Deshalb ist der Wunsch, vor den Wähler zu treten, denke ich, legitim. Und der Artikel 68, ganz unkonditioniert, gibt einen Weg.

    Gehm: Die Grünen haben gestern nach dem Streit über Unternehmenssteuerreform die Messlatte etwas höher gelegt und haben festgestellt: Verbindet der Kanzler die Vertrauensfrage mit einer Sachfrage, etwa mit der Unternehmenssteuerreform, dann werde er eine Mehrheit haben und keine Neuwahlen. Das heißt also, es spricht wohl einiges dafür, dass die Vertrauensfrage pur gestellt wird, wie das weiland auch Helmut Kohl 1982 gemacht hat, das heißt ohne Verbindung mit einer Sachfrage?

    Thierse: Ich kann dem Bundeskanzler nicht vorgreifen. Das ist ja seine Sache, nicht meine Sache als Bundestagspräsident, hier irgendwelche Vorschriften zu machen. Wie Sie diesem Artikel 68 entnommen haben, ist dort nur vom Bundeskanzler und vom Bundespräsident die Rede, von zwei Verfassungsorganen, die da miteinander etwas zu tun haben. Das muss der Bundeskanzler entscheiden, in welcher Form und zu welchem Zeitpunkt er die Vertrauensfrage stellt. Es hat ja im Übrigen auch Gespräche gegeben mit den Führenden der anderen Parteien, und man war sich eigentlich einig, dass man so etwas anstrebt, dass wir dann im September die Neuwahlen machen können. Warum sollte dieser Weg nicht gelingen?

    Gehm: Herr Thierse, gehen Sie in Sachen Vertrauensfrage, Artikel 68, eigentlich von einer Klage in Karlsruhe aus? Die hat es 82 schließlich gegeben, als Kohl seine fiktive Vertrauensfrage eingebracht hat mit dem Ziel, wie Schröder das eben auch macht, diesmal keine Mehrheit zu kriegen?

    Thierse: Also ich gehe nicht davon aus, aber ich halte es doch nicht für ausgeschlossen. Es wird immer welche geben, die dann vor das Verfassungsgericht treten, manche sogar, um sich für die Neuwahlen, die sie vielleicht nicht verhindern können, aber wenigstens für die Neuwahlen zu profilieren. Auch das ist nicht außerhalb der Welt, ein solches Verhalten.

    Gehm: Inzwischen wird in Sachen Rechtssicherheit spekuliert, das Parlament könnte - Methode 'Sicher ist sicher' - ganz schnell die Verfassung ändern und die Selbstauflösung des Bundestages ins Grundgesetz schreiben. Wäre das nicht eine Art Offenbarungseid in der politischen Kultur?

    Thierse: Also das Problem liegt in dem ganz Schnellen. Über diese Frage, Selbstauflösungsrecht des Bundestages, ist ja schon ausführlich diskutiert worden in der gemeinsamen Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat. In der ersten Hälfte der 90er Jahre war sogar schon Einigung erzielt, dass man ein solches Selbstauflösungsrecht in die Verfassung eintragen sollte – Zwei-Drittel-Mehrheit. Und dann kann der Bundestag seine Auflösung beschließen. Das ist eine hinreichend hohe Barriere vor Missbrauch dieses Instruments. Und der Gedanke, das Argument ist ja durchaus nachvollziehbar. Wir haben nicht mehr Weimarer Verhältnisse. Wir leben in einer stabilen Demokratie. Wir müssen nicht mehr die Angst haben, dass das passiert, was die Weimarer Republik charakterisiert hat, ständige Neuwahlen. So weit, so gut. So kann man auch vernünftig argumentieren. Es spricht nichts dagegen, einen solchen Weg zu beschreiten. Das Missliche ist, dass erstens alle sich darin einig sein müssten, und das Zweite ist, dass man wahrscheinlich in dieser kurzen Frist – wir haben noch drei Sitzungswochen im Parlament, der Bundesrat muss ja mit entscheiden, in beiden Verfassungsorganen muss es eine Zweidrittelmehrheit geben, also das Problem ist, dass man sozusagen holterdipolter so einfach mal ganz schnell das nicht machen kann, sondern es bedarf eigentlich einer längeren Diskussion.

    Gehm: Es spräche also einiges dafür: Wiedervorlage nach der Vertrauensfrage?

    Thierse: Ich will nichts ausschließen. Ich sage, man kann nicht beides kritisieren, einerseits, dass der Bundeskanzler die Vertrauensfrage stellt und ihm dann vorwerfen, das sei Trickserei, und wenn dann darauf geantwortet wird, wir können ja noch einen anderen Weg gehen, dann kann man das nicht zugleich kritisieren. Im Übrigen ist das Ganze nicht Trickserei, weil ja alles öffentlich und nicht im Verborgenen stattfindet. Es wird darüber ausführlich argumentiert, wie können wir aus einer schwierigen politischen Situation, der erwartbaren Lähmung, herauskommen und deswegen sage ich, Verdächtigungen sind falsch. Wahrscheinlich muss man noch ein paar Tage lang darüber diskutieren, welcher Weg sicher und vernünftig und allgemein zustimmungsfähig im Deutschen Bundestag ist.

    Gehm: Gehen wir einmal davon aus, Herr Bundestagspräsident, die Legislaturperiode endet vorzeitig. Einiges ist ja noch in der legislativen Pipeline, und nur weniges wird noch Gesetz werden. Die Offenlegung der Managergehälter wohl nicht mehr?

    Thierse: Es ist nun mal so. Wenn plötzlich ein Wahltermin vorgezogen wird und die Legislatur beendet wird, kann man viele von den Projekten, von den Vorhaben nicht mehr umsetzen, nicht mehr im Parlament diskutieren und dort verabschieden. Ich bedauere es. Es gibt zum Beispiel eine wichtige Enquete-Kommission zum Thema Kultur, die vieles schon geleistet hat, die gar nicht ihren Bericht verfassen kann. Es gibt eine ganze Reihe anderer Dinge, das zum Beispiel, was Sie gemeint haben. Ich fände es schade, wenn uns das nicht mehr gelingen würde. Ich fände es auch schade, wenn wir uns nicht mehr einigen würden. Aber das können wir dann alles in einer neuen Legislaturperiode machen und stärkere, strengere Transparenzregeln für Abgeordnete, das ist mir ein wichtiges Thema, dass wir da auch vorankommen. Wenn es eben nicht mehr bis Sommer gelingt, dann müssen wir ab Herbst daran weiter arbeiten, an diesen Themen.

    Gehm: Herr Thierse, was wird denn eigentlich, wenn es zu Neuwahlen kommt, aus der letzten Sitzungswoche im September, der traditionellen Haushaltsberatung. Wird es die noch geben oder wird der Ältestenrat da wohl demnächst ein Thema streichen?

    Thierse: Also, wenn die Auflösung des Bundestages stattfindet und nehmen wir mal jetzt den bisher vorgesehenen Zeitplan - Vertrauensfrage 1. Juli, weiß nicht, ob es so sein wird - dann folgt in den nächsten drei Wochen die Entscheidung des Bundespräsidenten zur Auflösung des Parlaments. Ja, dann ist das Parlament aufgelöst und dann kann es keine Beschlüsse mehr fassen, es sei denn, wir kämen in eine ich weiß nicht welche Katastrophensituation, dann kann das Parlament in der bisherigen Zusammensetzung als Notparlament stattfinden. Aber eine reguläre Beratung findet nicht statt. Wenn sie stattfände, dann richten sich doch auch die Vorwürfe, dass da ein Bundestag, der gar nicht mehr eigentlich im Amte ist, sondern der demnächst in neuer Zusammensetzung zusammentritt, sich noch Entscheidungen anmaßt, die man lieber dem neu gewählten Bundestag überlassen sollte.

    Gehm: So, wie die Lage nun einmal ist, dürfte die SPD in dieser Sache Haushalt ja wohl nicht protestieren.

    Thierse: Das weiß ich nicht. Ich nehme an, und ich höre das auch, dass Finanzminister Eichel an dem Entwurf des Haushaltsplanes arbeitet, wie es auch seine Pflicht ist.

    Gehm: Es bleibt ein Thema noch, das titeln auch die Zeitungen, in dem vom Herbst der Sozialdemokratie die Rede ist. Wie herbstlich kann es denn werden? Vor allen Dingen, wie kommt die SPD denn aus diesem Herbst heraus?

    Thierse: Also ich bin in keinerlei Hinsicht ein Prophet, auch nicht in negativer Hinsicht. Und ich sage als Mitglied einer Partei, die die älteste deutsche Partei ist, dass wir schon öfters totgesagt wurden und Herbst für uns schon öfters verkündet worden ist, auch das Ende des sozialdemokratischen Zeitalters oder Jahrhunderts ist schon verkündet worden. Anschließend gab es nicht nur in Deutschland, sondern in vielen europäischen Ländern Wahlerfolge der Sozialdemokratie. Also, man soll diese Partei nicht abschreiben. Wir kämpfen um den Wahlerfolg. Es ist ein offenes Rennen. Die Voraussetzungen sind nicht so gut, wie wir uns das wünschen müssten. Ich kann ja schließlich Meinungsumfragen lesen, und die Wahlergebnisse in einer Reihe von Ländern waren niederschmetternd. Aber diese SPD hat in ihrer Geschichte bewiesen, dass sie kampfesfähig ist. Und Bundeskanzler Schröder hat bewiesen, dass er besonders kampfesfähig ist, wenn er mit dem Rücken zur Wand kämpfen muss.