Sigmar Polke hat sich Kategorisierungen sein Leben lang widersetzt. Malerei, Bildhauerei, Film, Fotografie, Performance: Der 2010 verstorbene Künstler ließ in den fünf Jahrzehnten seiner Karriere kein Betätigungsfeld unbeackert, kein Thema unberührt und keinen Stil unversucht.
"Seine Vorstellung davon, Künstler zu sein, bedeutet wirklich, Freiheit zu haben, zu experimentieren, sich nicht festzulegen. Was nicht heißt, keine Meinung zu haben. Aber sich eben nicht festlegen zu lassen und immer Fragen zu stellen, ohne notwendig Antworten zu liefern."
Magnus Schäfer hat die Ausstellung "Alibis: Sigmar Polke 1963-2010" mitkuratiert. Mit über 250 Exponaten ist dies eine der größten Retrospektiven, die das Museum of Modern Art je einem Künstler gewidmet hat und die bisher umfangreichste Polke-Retrospektive überhaupt.
Bisher umfangreichste Polke-Retrospektive
Die chronologisch eingerichtete Schau beginnt mit jenen Bildern von Schokolade, Keksen und Pfannkuchen, die oft als deutsche Version der amerikanischen Pop Art verstanden wurden. Als sogenannten "kapitalistischen Realismus" haben Polke und seine Kollegen Gerhard Richter und Konrad Lueg diese Form sublimierter Alltags- und Konsumkultur inszeniert.
"Polke ist 1941 geboren, hat die Nachwirkungen des Zweiten Weltkrieges mitbekommen, ist im Nachkriegsdeutschland aufgewachsen. Die frühen Arbeiten sind eine Reaktion auf den westdeutschen Kapitalismus, und die Auseinandersetzung mit der Geschichte des Dritten Reiches zieht sich durch die ganze Ausstellung durch bis hin, ja, bis zu den späten Arbeiten."
Der Titel der Ausstellung, "Alibis" ist eine Anspielung auf Polkes Auseinandersetzung mit der Geschichte. Das "Wir haben nichts gesehen" vieler Deutscher nach dem Zweiten Weltkrieg ging Polke gegen den Strich. Oder besser: Er ging mit Strichen gegen dieses Alibi los, und mit Punkten, die bei ihm immer wieder auftauchen:
Deutsches "Wir haben nichts gesehen" ging Polke gegen den Strich
"...als Zeitungsraster, als zufällige Flecken, als bewusst erzeugte Flecken in einer Drippingtechnik."
Polke arbeitete mal gegenständlich, mal abstrakt, mal minimal, mal maximal, mal in Anlehnung an Klassiker, mal indem er mit ihnen brach.
Wie Sigmar Polke durch alle Gassen dampfte, gefiel den Amerikanern von Anfang an. Seinen ersten Soloauftritt in einer New Yorker Galerie hatte Polke 1982. Zur selben Zeit begannen auch andere spätere Exportstars aus Deutschland in den Vereinigten Staaten auszustellen, Georg Baselitz etwa und Anselm Kiefer:
"Ich denke, dass jemand wie Kiefer oder Baselitz viel stärker als deutsche Künstler wahrgenommen werden, wohingegen selbstverständlich klar ist, dass Polke ein deutscher Künstler ist, aber es war immer klar, dass seine Arbeitsweise anders ist - experimenteller, freier."
Retrospektive garantiert Aufnahme ins Pantheon der Kunst
Gewisse Übersetzungsschwierigkeiten dürften dennoch bestehen. Angesichts des vier mal viereinhalb Meter großen Stoffstücks etwa, auf das Polke eine exquisite Auswahl wüster Schmähungen gesprayt hat. "Das große Schimpftuch", so der Titel, ist des Deutschen unkundigen Besuchern genauso unverständlich wie die berühmte weiße Leinwand mit der schwarzen Ecke und der Aufschrift: "Höhere Wesen befahlen: Rechte obere Ecke schwarz malen!"
Derlei Witzigkeiten mögen verloren gehen. Aber mit dieser monumentalen Retrospektive ist Sigmar Polkes Aufnahme ins Pantheon der Kunst garantiert. Und da Polke sich den monotheistischen Segen bereits zu Lebzeiten sicherte, als er in einem seiner letzten Projekte neue Buntglasfenster für die Zürcher Großmünsterkirche entwarf, ist dieser Multimedialist nun in alle Ewigkeit multilateral versorgt.