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New Yorks Untergrundökonomie
Im Big Apple muss man schweben

Der indisch-amerikanische Soziologe Sudhir Venkatesh erforscht die ökonomischen Gesetze der Schattenwirtschaft: Sein neues Buch "Floating City" vergleicht die ökonomischen Strategien im Sex- und Drogenbusiness mit denen von reichen Stiftungserben - mit erstaunlichen Überschneidungen.

Von Martin Zähringer |
    Blick von der Aussichtsplattform "Top of the Rock" auf dem Rockefeller Center in New York über den Central Park in Manhattan.
    Blick von der Aussichtsplattform "Top of the Rock" auf dem Rockefeller Center in New York über den Central Park in Manhattan (picture alliance / dpa / Sven Hoppe)
    Sudhir Venkatesh will kein abstrakter Soziologe sein, weder radikal konstruktivistisch noch systemtheoretisch. Er liebt die Feldforschung im Stil der beobachtenden Teilnahme eines Ethnografen. Ethnografie der Großstadt ist demnach auch das Thema, um das es in diesem Buch geht. Venkatesh beschreibt seine Arbeit als Soziologe in New York, wo er die Columbia University und städtische Institutionen von einem neuen Forschungsfeld überzeugen konnte - die verschiedenen Zweige von Sexarbeit und Schattenwirtschaft. Man könnte von einer erzählenden Soziologie sprechen, aber eigentlich ist es eine Erzählung über einen Soziologen und seine Erlebnisse im Forschungseinsatz. Venkatesh schreibt:
    "Meine Spezialität bestand darin, aus dem Chaos und Glanz einer bestimmten Welt einen kleinen Ausschnitt auszuwählen, der für das große Ganze stand: das perfekte Forschungsthema, die ganze Welt in einer Nussschale. Ich musste Dinge finden, die sich auf größere Teile der Bevölkerung übertragen ließen. Ich musste etwas über die ganze Stadt aussagen - über alle New Yorker."
    Das klingt interessant, ist es doch auch ein ewiger Wunsch der Romanciers, die New York in unübersehbarer Zahl bevölkern. Und gerade diese literarische Verwandtschaft bringt Spannung in Venkateshs Buch, zeigt es doch einen Wissenschaftler, der sich auch nur als Mensch unter Menschen begreifen kann. Und das wird durchaus als Vorteil begriffen: Als Mensch zeigt man Gefühle und schreibt darüber. Und erst so kommt der Forscher wirklich in Kontakt zum Underground in New York, zu Prostituierten und Pornohändlern, Zuhältern und Hotelportiers, die Vermittlungsdienste leisten. Und zum Crackdealer Shine aus dem Getto in Harlem, von wo er aufbricht, um neue Märkte in New York zu erobern.
    In New York musst du schweben
    Shine verrät dem ortsfremden Soziologen aus Chicago auch die entscheidende Taktik: In New York musst du schweben, die Szene ist nie lokal begrenzt. Und so schwebt der Soziologe von einem Milieu zum anderen und wagt schließlich eine große These: Auch die Akteure der verschiedenen Wirtschaftsformen müssen nicht auf sich begrenzt bleiben:
    "Ich wusste schon, dass sich im Untergrund potenziell überraschende Wahrheiten über das tatsächliche Funktionieren der Gesellschaft entdecken lassen, die nichts mit den Sonntagsreden von Politikern und der Selbstbeweihräucherung der Finanzbranche zu tun haben. Wenn lateinamerikanische Kindermädchen unangemeldet für die Yuppies arbeiteten, die in den teuren Eigentumswohnungen lebten. Und wenn einkommensschwache schwarze Drogenhändler Hedgefonds-Manager mit Drogen versorgten. War es dann nicht möglich, dass die ganze globale Stadt in Wirklichkeit durch die unsichtbaren Fäden der Schattenwirtschaft zusammengehalten wurde?"
    Das ist die Grundidee seines Forschungsansatzes. Und um ihre Stichhaltigkeit begründen zu können, braucht der Soziologe nun auch einen Zugang zu den oberen Sphären des New Yorker Wirtschaftslebens. Venkatesh stößt zu einer Gruppe von jungen Reichen, die offiziell damit beschäftigt sind, die Stiftungen und Wohlfahrtseinrichtungen ihrer Eltern fortzuführen. In dieser Eigenschaft müssen sie auch schon einmal Bedürftige besuchen. Und solche Szenen beschreibt Venkatesh mit Genuss. Etwa den Besuch bei Silvia, Mutter von drei Kindern. Die Stiftungserben schätzen ihren Bedarf: 50.000 im Jahr? Ihnen erscheint das ganz realistisch, aber Silvia fällt fast vom Stuhl: Sie bekommt 800 Dollar im Monat und für 180 Dollar Lebensmittelmarken.
    Andersherum geht es besser: Der Gettodealer Shine ermittelt den Drogenbedarf der Yuppies auf Anhieb und geht betriebswirtschaftlich clever dabei vor, seinen Markt auf die Galerieszenen in Soho auszudehnen. Diese Expansion ist für Venkatesh einer der Indikatoren für die angeblich New-York-typische soziale Durchlässigkeit, eben die Floating City.
    Auch die Reichen expandieren in die Schattenwirtschaft
    Aber dann kommt die Überraschung: Auch die Reichen expandieren in der Schattenwirtschaft. Die junge Erbin Analise betätigt sich als Maklerin für Freundinnen und Bekannte, die mit reichen Freiern verkuppelt werden. Nötig hat sie es nicht, doch der Kitzel bringt ihr immerhin bis zu 200.000 Dollar im Jahr. Während ihr Freund, um dubiose Filmprojekte zu finanzieren, die Kassen der ihm anvertrauten Familienstiftung plündert und hin und wieder auch die Kasse von Analise.
    Das Konfliktmanagement in diesen Fällen gehört dann ebenso zu Venkateshs soziologischer Analyse wie das Management von Analise im Vergleich zu einer anderen Zuhälterin, die Mittelschichtsfrauen aus der Provinz vermittelt, ein boomender Sektor in der anonymen Großstadt. Eine neuerdings begehrte Ware in diesem Laden sind junge Latinas von ganz unten, die allerdings oft am kulturellen Code der weißen Freier scheitern. Bourdieu lässt grüßen, und Venkatesh resümiert:
    "Nach allem, was ich bislang gesehen hatte, würde ich schließen, dass in dieser speziellen Gleichung aus oben und unten das Unten die stärkere Kraft war. Shine verstand den Markt und hatte keine Angst vor dem Chaos. Wie andere Drogendealer wusste er, dass der Misserfolg von heute der Erfolg von morgen sein kann. Und dass man manchmal einen Gang zurückschalten und einen Misserfolg einstecken muss, um langfristig im Spiel zu bleiben. Analise hatte diesen Instinkt nicht. Ihr Urteil wurde durch ihren Ehrgeiz und ihren elitären Leichtsinn getrübt. Sie wollte alles kontrollieren und gleichzeitig jede Vorsicht über Bord werfen. Vielleicht war dies ein Aspekt ihres elitären kulturellen Codes, die Weigerung der Privilegierten, kleinere Brötchen zu backen."
    Die reiche Erbin Analise macht trotzdem ihren Schnitt, zieht sich mit Gewinn aus ihrer New Yorker Hurenvermittlung zurück und wendet sich einem neuen Zeitvertreib in einer europäischen Metropole zu. Leute wie Shine haben, das ist bekannt, andere Karriereaussichten. Sudhir Venkatesh jedoch will in den Armen mehr erkennen als klassische Opfermythen der Soziologie:
    Große Risiken eingehen
    "Genau wie die Großkapitalisten gingen sie erhebliche Risiken ein und taten alles, um mit dem Tempo und dem harten Konkurrenzkampf New Yorks Schritt zu halten. Auch wenn ihr persönliches Einkommen und der sozioökonomische Status ihrer Viertel weitgehend unverändert blieben, waren sie keineswegs die passiven Subjekte, die viele Soziologen in ihnen sahen, um sich selbst als allwissende Väter von gesellschaftlichen Waisen aufzuspielen. Im Gegenteil, sie dachten und handelten dynamisch und taten alles, um mit einer Welt mitzuhalten, die sich mit rasanter Geschwindigkeit veränderte, auch, wenn die Gewinne der kreativen Zerstörung nicht so schnell bei ihnen ankamen wie bei den Reichen."
    Leider verwirft Venkatesh historische Denkmodelle wie die kreative Zerstörung nicht entschieden genug, obwohl er genau weiß und auch beschreibt, wer dabei auf der Strecke bleibt. Die kreative Zerstörung der New Yorker Wohnquartiere vernichtet gewachsene Communities und damit auch deren informelle und solidarische Wirtschaftsformen.
    Leider bleibt die theoretische Diskussion insgesamt unscharf, möglich gewesen wäre auch eine kritische Anbindung an aktuelle Diskussionen der Ungleichheit. Dafür aber bekommen wir eine spannende Erzählung vom Schattenwirtschaften in New York, die fast literarische Feldforschung eines Soziologen.
    Sie ist nahtlos an die fast soziologische Intervention eines Literaten anzuschließen: John Freemann, Literaturkritiker und ehemals Herausgeber des Magazins "Granta", sieht die Reize der Global City abgeklärter. Sein Beitrag zum Thema Arm und Reich ist eine Anthologie mit dem bezeichnenden Titel "Tales of Two Cities", das arme und das reiche New York.
    Vielschichtiges Bild einer geteilten Stadt
    Auch Freeman setzt einen subjektiven Rahmen in seinem Vorwort: Er tritt als Erbe eines kleinen Vermögens auf, das ihm den Kauf eines schönen Lofts in Manhattan erlaubt, während sein Bruder in den Obdachlosenunterkünften New Yorks haust. Man spürt Freemans substanzielles Unbehagen an der sozialen Kälte und Entfremdung selbst in der eigenen Familie und kann sein Projekt einer Literaturanthologie zur Ungleichheit in New York nur begrüßen.
    Die versammelten Texte ergeben das vielschichtige, aber klar aufgenommene Bild einer geteilten Stadt, ein literatursoziologisches Kaleidoskop von Dinaw Mengestu, Zadie Smith, Patrick Ryan, Dave Eggers, Junot Diaz, Teju Cole, Lydia Davis und 24 weiteren, empörten New Yorkern.
    Buchinfos:
    Sudhir Venkatesh: "Floating City. Gangster, Dealer, Callgirls und andere unglaubliche Unternehmer in New Yorks Untergrundökonomie", Aus dem Amerikanischen von Dr. Jürgen Neubauer, Murmann Publishers 2015, 310 Seiten.
    John Freeman (Ed.): "Tales of Two Cities. The Best and Worst of Times in Todays New York", OR/books NY, London 2015, 271 Seiten