"Wir haben noch Zeitungen und das Internet, wo die Menschen sich frei äußern", sagte Scherbakowa. Die Gefahr sei da, dass es zu Gewalt komme. "Es ist eine Situation entstanden, wo es um Gruppen geht, die Menschen angreifen." Sie berichtete von Pöbeleien, Farbanschlagen und auch tätlichen Angriffen. "Es herrscht ein Klima der Angst, auf die Straße zu gehen. Man muss damit rechnen, dass man sofort zur Polizei gebracht wird", sagte Scherbakoewa.
Seit 2012 müssen sich Nichtregierungsorganisationen in Russland als ausländische Agenten registrieren, dazu zählt nun auch Memorial. "Diese Organisationen werden in ihrer Arbeit behindert", sagte Scherbakowa. Niemand in Russland traue sich dann, mit solche Organisationen zusammenzuarbeiten - auch aus Furcht vor Repressionen.
Politisch motivierte Morde wie den an Anna Politkowskaja bezeichnete Scherbakowa als bis heute nicht aufgeklärt.
Das Interview in voller Länge:
Irina Sherbakowa im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann
Dirk-Oliver Heckmann: Zehn Jahre ist der Mord an Anna Politkowskaja heute her. Halten Sie ihn für aufgeklärt?
Irina Sherbakowa: Nein, eigentlich nicht, obwohl angeblich die Menschen, die diesen Auftrag bekommen haben und ihn erfüllt haben, entdeckt sind und verurteilt. Aber es ist immer noch ganz unklar, wer wirklich diesen Befehl gegeben hat. Und das ist eigentlich ein Pendant zu dem anderen Mordfall von Boris Nemzow, unserem Oppositionspolitiker, wo eine ähnliche Geschichte oder eine fast ähnliche Geschichte ist. Wo man die Vollstrecker hat oder angeblich hat oder mit großer Wahrscheinlichkeit hat. Aber wer diesen Auftrag gegeben hat, das ist nicht aufgeklärt, und man kann es nur vermuten, wer eigentlich dafür zuständig sein könnte. So sieht es aus.
Heckmann: Vor zehn Jahren wurde Anna Politkowskaja ermordet. Sie sagen, das ist noch nicht restlos aufgeklärt, nach wie vor nicht. Sie haben den Namen Boris Nemzow erwähnt, den Oppositionspolitiker. Der ist im Jahr 2015, also im vergangenen Jahr in Sichtweite des Kremls erschossen worden. Und schon im Jahr 2006, da wurde der Kreml-Gegner Alexander Litwinenko in London mit dem radioaktiven Gift Polonium ermordet. Die britische Justiz, die sieht es als bewiesen an, dass die Spur nach Moskau führt, auch in die Regierungszentrale. Wie gefährlich ist es heute, in Russland Kritik an der Regierung zu üben?
Sherbakowa: Wir haben eine hybride Situation eigentlich, weil nicht alle kritischen Stimmungen erlöscht sind. Wir haben auch noch Medien, noch ein paar Zeitungen, noch hat man Internet, wo die Menschen sich frei äußern und so. Aber natürlich: Die Gefahr ist da, dass diese Äußerungen dann nicht nur gegen die Obrigkeit gerichtet sind. Es ist, würde ich sagen, noch eine Situation entstanden, wo es Gruppen gibt. Marginale Gruppen formieren sich und die greifen Menschen an, noch nicht sozusagen tödlich, aber sie pöbeln sie an, oder mit Farbe werden die Menschen angegriffen oder tätlich. Aber das ist hier so ein Klima, ein Gewaltklima, würde ich sagen, und ein Klima der Angst, zum Beispiel auf die Straße zu gehen, auf die Straße zu gehen und zu protestieren. Da muss man natürlich damit rechnen, dass man sofort auf die Polizei gebracht wird. Das hat sich natürlich sehr verschlechtert. Auch die Gesetzgebung hat sich verschlechtert. Und damit breitet sich natürlich immer mehr Angst aus. Das kann man ja konstatieren.
"Atmosphäre, dass es möglich ist, Menschen anzugreifen"
Heckmann: Frau Sherbakowa, viele vermuten ja, dass hinter diesen Taten, hinter den Mordfällen, aber auch hinter dem Klima der Angst, das entsteht, das Sie gerade angesprochen haben, dass die russische Regierung hinter diesen Taten steht und hinter diesen Aktionen. Sie haben es gerade eben ja auch gesagt, dass Sie davon ausgehen. Ist das denn aber wirklich denkbar, oder sind das nicht wilde Verschwörungstheorien?
Sherbakowa: Ich glaube nicht daran oder es ist nicht bewiesen, dass irgendwelche Befehle da direkt erteilt werden können. Daran glaube ich nicht. Aber es ist ein Klima geschaffen worden, wo die Kritik eigentlich nicht gefährlich geworden ist, sondern es gibt ja auch Gesetze, die das Organisationen verbieten und auch zum Teil Menschen, sich kritisch zu äußern gegen bestimmte Gesetze. Angriff auf Pressefreiheit, auf Meinungsfreiheit. Es liegt sehr viel in der Atmosphäre, dass es möglich ist, die Menschen, die man als Oppositionelle einschätzt, anzugreifen. Ich denke, der Hass schürt Hasspropaganda. Wer wirklich dafür zuständig ist, würde ich sagen, das sind die Hasspropagandisten, weil die kann man nicht als Journalisten bezeichnen im Fernsehen. Die vergiften natürlich diese Atmosphäre.
"Das hindert unsere Arbeit"
Heckmann: Und zu dieser Atmosphäre, Frau Sherbakowa, gehört auch, dass seit 2012 Nichtregierungsorganisationen, die Geld aus dem Ausland erhalten, sich als ausländische Agenten registrieren lassen müssen. Seit Dienstag steht auch Ihre Organisation "Memorial" auf dieser Liste. Schränkt das Ihre Aktionsfähigkeit eigentlich ein und gehört das zum Klima der Angst? Müssen Sie jetzt Angst haben vor Extremisten beispielsweise?
Sherbakowa: Ja, das gehört dazu. Absolut! Weil es sind ja schon über 140 Organisationen, die zu den sogenannten ausländischen Agenten erklärt wurden. Und diese Organisationen werden natürlich in ihrer Tätigkeit behindert. Das ist eine Diffamierung, weil das wirkt natürlich absolut zerstörend auf die Möglichkeit, mit den Archiven zu kommunizieren. Die Gesellschaft "Memorial" arbeitet mit der Erinnerung und mit der Vergangenheit und beschäftigt sich mit den politischen Repressalien, macht Listen, Biografien. Dazu braucht man staatliche Archive. Das hindert unsere Arbeit. Das hindert unsere öffentliche Arbeit zum Beispiel mit den Schulen, weil da bekommt man einfach Angst, mit so einer Organisation etwas zu tun. Natürlich!
Heckmann: Und müssen auch Sie Angst bekommen, dass Extremisten Sie jetzt auf dem Schirm haben?
Sherbakowa: Ja, wir haben schon diese Beispiele, auch das Sacharow-Zentrum hat das erlebt, wenn irgendeine Ausstellung eröffnet wird, dass wir damit rechnen müssen, ich weiß nicht, da stehen einige Menschen vor unseren Türen und drohen uns an, dass wir das schließen müssen, dass wir Feinde sind. Unsere Schülerwettbewerb-Teilnehmer, das waren ja Schüler, sind so angepöbelt, angegriffen worden, auch als feindliche Agenten, ich weiß nicht, als diejenigen, die sich verkauft haben an den Westen und so. Und ich würde sagen, diese Stimmungen werden immer aggressiver. Damit müssen wir hier auch rechnen, natürlich.
"Wir machen nie etwas heimlich"
Heckmann: Auf der anderen Seite sagt der Kreml, die Menschen haben schon Anspruch darauf zu erfahren, welche Organisation Geld aus dem Ausland bekommt und welche nicht. Auf der anderen Seite entsteht dann dieses Klima, das Sie beschrieben haben. Was glauben Sie, wie lange kann eine Gesellschaft mit einem solchen Klima leben?
Sherbakowa: Erstens haben wir das nie verheimlicht. Auf allen unseren Publikationen, Dokumenten und so steht immer, wer für dieses Projekt das Geld gegeben hat oder die Mittel gegeben hat oder gesponsert hat. Das haben wir nie verheimlicht. Unsere Berichte bekommt das Justizministerium und das Finanzamt einmal in drei Monaten. Das ist ja eine Lüge sozusagen. Wir machen nie etwas heimlich, wir sind absolut eine offene Institution. Und natürlich wirkt das auf unsere Arbeit und wissen Sie, das ist so eine interessante Geschichte. Die Menschen, die diese Gesetze machen, die diese Atmosphäre ausbreiten, die glauben ja fest daran, dass wenn man nur Geld von irgendjemandem bekommt, dass man für Meinungsfreiheit, für Aufarbeitung der Vergangenheit auftreten kann, dass das nur in einem fremden Auftrag gemacht wird. Das ist natürlich eine völlig lügnerische und eine sehr, würde ich sagen, diffamierende Vorstellung davon, was so eine Organisation wie "Memorial" ist.
Heckmann: Dieses Klima der Angst, das jetzt immer stärker wird, wo soll das am Ende hinführen?
Sherbakowa: Das ist eine gute Frage, wenn man die Antwort wüsste. Aber dass es sehr gefährlich ist, davon bin ich überzeugt. Die Aggression in der Gesellschaft, Kampf gegen die Andersdenkenden und so, das hat man alles schon in der Geschichte gehabt. Und leider zeigt uns die Geschichte, dass die Ergebnisse so einer Politik eigentlich sehr gefährlich sein können. Aber daran will man ja gar nicht denken, ehrlich gesagt. Das ist alles zu gefährlich. Ich glaube, das ist ein Spiel mit dem Feuer eigentlich.
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