Im Land herrsche eine sehr angespannte Situation. Die angebliche Spaltung des Landes sei aber ein Mythos. Große Teile der Gesellschaft stünden der Regierung in Kiew sehr kritisch gegenüber, an der Einheit des Landes wollten sie aber festhalten. Sie wollten nicht unter die Fittiche des russischen Präsidenten Wladimir Putin kommen. Auch in Umfrage hätten sich große Mehrheiten für die Einheit des Landes ausgesprochen. Maximal zwölf bis 15 Prozent hätten sich dabei für den Anschluss an Russland ausgesprochen.
Das Problem im Osten des Landes sei, dass dort die Sicherheitskräfte nicht mehr loyal zur Regierung stünden. Kleine Gruppen hätten dort die Macht übernommen und terrorisierten die Bevölkerung. Die Regierung stecke dabei in einem Dilemma, sie könne den Terrorismus nicht tolerieren, müsse aber Blutvergießen vermeiden. Sie könne deshalb nur sehr vorsichtig gegen die bewaffneten Gruppen vorgehen. Viel werde auch von der Haltung der EU abhängen. Sie müsse deutlich machen, dass sie eine Zerlegung eines europäischen Staates nicht hinnehme.
Das Interview in voller Länge
Jürgen Zurheide: Es gibt schwere Straßenschlachten in verschiedenen Städten, und die Lage ist alles andere als ruhig. Die Regierung in Kiew versucht, den Osten wieder unter Kontrolle zu bringen, es scheint aber schwieriger zu sein, als das auf den ersten Blick ausgesehen haben mag. Über die Lage in der Ukraine wollen wir reden mit Ralf Fücks von der Heinrich-Böll-Stiftung, den wir im Moment in Kiew erreichen. Zunächst einmal guten Morgen, Herr Fücks!
Ralf Fücks: Guten Morgen, Herr Zurheide!
Zurheide: Herr Fücks, erst mal die Frage: Was hat sich eigentlich in den letzten Wochen verändert? Sie sind mehrfach in der Ukraine gewesen, beobachten Sie Veränderungen?
Fücks: Ja, es gibt schon eine deutliche Zuspitzung der Situation, und zwar sowohl faktisch, was den Grad der bewaffneten Auseinandersetzung und der gewaltsamen Konflikte angeht im Osten der Ukraine, aber auch was die Stimmung der Menschen betrifft, mit denen wir gesprochen haben immer wieder in den letzten Wochen. Das Land befindet sich faktisch in einem unerklärten Krieg, und das wird auch immer stärker spürbar, wenn selbst Universitätsprofessorinnen, die durch und durch zivil und pazifistisch sind, in Charkiw jetzt darüber sprechen, wie die Stadt ihre Selbstverteidigung organisieren kann, dann kann man daran ermessen, wie angespannt die Situation inzwischen in der Ukraine ist.
Zurheide: Wie gefiltert sind eigentlich Informationen, die Sie bekommen? Oder hat dieses Filtern damit zu tun, dass die jeweilige Sicht der Dinge, die höchst unterschiedlich ist, davon abhängt, mit wem man redet?
Fücks: Na ja, wir sind ja mit einem sehr breiten Spektrum von Menschen in Kontakt, von offiziellen Behörden und Mitarbeitern der Ministerien bis zur NGO-Szene, Umwelt-, Frauen-, Menschenrechtsorganisationen, mit denen wir seit vielen Jahren zusammenarbeiten. Und ich denke schon, das gibt ein einigermaßen objektives Bild der Situation.
Zurheide: Haben Sie noch Hoffnung, dass die beiden Landesteile, die ja offensichtlich sehr unterschiedlich sich orientieren, dass die noch eine Chance haben zusammenzufinden? Oder sind da alle Züge abgefahren?
Fücks: Das ist ein Mythos, diese angebliche Spaltung der Ukraine in einen proeuropäischen Westen und einen prorussischen Osten. Ich war in Donezk, ich war in Charkiw und da gibt es große Teile der Zivilgesellschaft, die zwar kritisch gegenüber der Regierung stehen, dafür gibt es auch viel Grund, die unzufrieden sind mit der sozialen Situation, mit den demokratischen Beteiligungsmöglichkeiten, die aber auf jeden Fall an der Einheit der Ukraine festhalten wollen und die keineswegs unter die Fittiche Putins jetzt geraten wollen. Das heißt, der Osten selbst ist gar nicht politisch-kulturell einheitlich, sondern da gibt es sehr unterschiedliche Haltungen. Und alle Umfragen sagen, dass eine große Mehrheit für die territoriale Einheit der Ukraine ist und maximal 12 bis 15 Prozent der Menschen tatsächlich für einen Anschluss an Russland eintreten. Das Problem ist, dass in den letzten Wochen sich praktisch ein Machtvakuum dort entwickelt hat, weil die Sicherheitsorgane nicht mehr loyal zur Regierung in Kiew stehen, vor allem die Miliz, und das genutzt wird von kleinen bewaffneten, militanten Gruppen, bewaffneten Separatisten, um dort an einzelnen Städten die Macht an sich zu reißen und, man muss schon sagen, die Bevölkerung zu terrorisieren. Also, es ist dann nicht mehr möglich, zum Beispiel auf die Straße zu gehen und gegen diese separatistischen Kräfte zu demonstrieren, weil diese Kundgebungen sofort angegriffen und mit Eisenstangen und Baseballschlägern zusammengeschlagen werden.
Zurheide: Auf der anderen Seite hat die Führung in Kiew natürlich dadurch, dass man Russisch als Sprache zunächst nicht aufgenommen hat, natürlich auch einiges zur Zuspitzung getan. Wenn Sie schon sagen, nein, keine Teilung, aber doch möglicherweise eine föderalistischere Ordnung, könnte das der Ausweg sein?
Fücks: Erst mal muss man sagen, dass im Osten der Ukraine und selbst in Kiew völlig selbstverständlich Russisch Alltagssprache ist, das ist überhaupt kein Problem. Die Regierung oder das Parlament, gar nicht die Regierung, hat am Anfang den Fehler gemacht, dass es das alte Sprachengesetz aufgehoben hat, das ist sofort wieder zurückgenommen worden. Ich halte das für völlig hochgespielt. Die Ukraine braucht tatsächlich mehr kommunale Selbstverwaltung, vielleicht auch zu einem gewissen Grad eine stärkere regionale, politischere Repräsentation, aber man muss sehr vorsichtig mit dem Begriff des Föderalismus sein. Unter den jetzigen Bedingungen, mit dieser massiven politischen und auch militärischen Intervention Russlands über Spezialeinheiten, würde Föderalisierung eher auf ein bosnisches Modell als auf eine Schweizer Kantonallösung hinauslaufen. Also, man muss die politische Einheit der Ukraine verteidigen, ihre territoriale Integrität, und gleichzeitig für mehr inneren Pluralismus sorgen.
Zurheide: Aber wie kann das in der Situation geschehen, in der wir uns aktuell befinden, wo ja die Meldungen von Tag zu Tag mehr Gewalt zeigen?
Fücks: Die Regierung in Kiew steckt ja in einem Dilemma. Sie kann auf der einen Seite diesen bewaffneten Separatismus nicht weiter tolerieren, auf der anderen Seite muss sie Blutvergießen vermeiden und jeden Anlass für Russland für eine offene militärische Intervention versuchen zu verhindern. Das heißt, sie kann nur sehr vorsichtig jetzt gegen diese Truppen, gegen diese bewaffneten Einheiten vorgehen, die Rathäuser besetzt haben und die Rundfunkstationen im Osten besetzt haben, und es braucht dafür auch die Bereitschaft der Zivilbevölkerung, aufzustehen und klar zu sagen, dass sie an einer europäischen und vereinigten Ukraine festhalten will. Das wird noch ein sehr schwieriger Prozess. Das hängt auch davon ab, wie klar Europa und der Westen Partei ergreifen und gegenüber Russland deutlich machen, dass man eine Zerlegung eines europäischen Staats mit diesen brachialen Methoden auf keinen Fall akzeptieren wird.
Zurheide: Können aus Ihrer Sicht – das ist meine letzte Frage – die Wahlen stattfinden?
Fücks: Ich bin nach wie vor zuversichtlich, dass sie stattfinden. Im überwiegenden Teil des Landes herrscht ja politische Stabilität. Ich gehe davon aus, dass sie auch im Osten, im Donbass, zumindest zum Teil stattfinden können. Es ist ja nicht so, dass die bewaffneten Separatisten dort ganze Regionen kontrollieren würden, sondern das sind eher einzelne Inseln, die sie in ihrer Gewalt haben. Aber es wird auf jeden Fall den Versuch geben zu verhindern, dass im Osten der Ukraine diese Präsidentschaftswahlen stattfinden, und am 11. Mai ist ein Referendum schon angekündigt von den russisch-nationalistischen Kräften nach dem Muster der Krim, und man muss sehr aufpassen, dass das dann nicht genutzt wird, um eine formale Teilung zu erzwingen.
Zurheide: Das war Ralf Fücks von der Heinrich-Böll-Stiftung, zurzeit in Kiew. Herr Fücks, ich bedanke mich heute Morgen für das Gespräch, danke schön!
Fücks: Bitte sehr!
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