Überall im Stadtbild tauchen sie auf: Schwarz- rote Sandinisten-Fahnen schwenkende Männer und Frauen. Am späten Vormittag trudeln sie meist ein oder werden herbeigekarrt, um die freien Flächen der großen Kreisverkehre in Managua zu besetzen. Aus großen Lautsprechern tönen Revolutionslieder – kaum verständlich im Lärm des Straßenverkehrs:
"Wir unterstützen Kommandant Daniel." - Gemeint ist Daniel Ortega, der seit 2007 regierende Präsident. "Wir versuchen den Frieden wiederherzustellen, den uns die Putschisten geraubt haben." - Putschisten nennt die Regierung diejenigen, die am 18. April auf die Straße gingen, um gegen die später zurückgenommene Rentenreform zu demonstrieren. Sie war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.
Déjà vu für einstige Mitstreiter Ortegas
"Wir wiederholen das, was wir vor 40 Jahren erlebt haben. Repression, Tote, Menschen, die im Untergrund leben. Für uns ist das ein déjà vu – für die junge Generation nicht", sagt Victor Hugo Tinoco. Er war Mitstreiter von Daniel Ortega im Kampf gegen den Diktator Somoza vor rund 40 Jahren. Er ist entsetzt über die Politik Ortegas. Nach Wochen des Protests und von Demonstranten errichteten Straßensperren ließ der Präsident durchgreifen. Die Proteste wurden gewaltsam niedergeschlagen. Es liefen und laufen Säuberungsaktionen.
"Viele der Studentenführer und Demonstranten der Bewegung für Gerechtigkeit und Demokratie in Nicaragua, die auch den Abgang des Präsidentenpaares Ortega - Rosario Murillo wollen, mussten untertauchen, um in diesem System der Einschüchterung, Verfolgung und Belagerung am Leben zu bleiben."
Der Politikstudent Max Jerez ist einer von ihnen und gehört der Alianza Civica por la Justicia y la Democracia, der Zivilallianz für Gerechtigkeit und Demokratie an. Die Allianz ist zum Sammelbecken des Protestes geworden, vereint unter anderem Vertreter der katholischen Kirche, der Frauenbewegung, Unternehmer und viele einstige Weggefährten Ortegas.
Erschreckende Bilanz von Menschenrechtsorganisationen
Monica Baltonado war Guerillera der Sandinisten und arbeitete früher in leitender Funktion im Präsidialamt bei Ortega: "Er ähnelt sehr Somoza. In mancher Hinsicht ist er sogar schlimmer. Mehr als 500 Nicaraguaner umzubringen, junge Männer und Frauen schlimm zu foltern, sie zu vergewaltigen – in nur vier Monaten. In zehn Jahren der Diktatur von Somoza gab es nicht solche Grausamkeiten."
Die Bilanz, die Menschenrechtsorganisationen ziehen, ist erschreckend: Je nach Organisation und Erhebung zwischen 320 und 528 Tote, bis zu 4000 Verletzte, hunderte Menschen, die verschwunden sein sollen, und viele Inhaftierte.
"568 Gefangene gibt es momentan, und sie werden unmenschlich behandelt. Sie dürfen kein Tageslicht sehen, keine Briefe schreiben, und dürfen einmal pro Monat Besuch bekommen, wenn das Regime es erlaubt. Es gibt Häftlinge, die haben erst nach 45 Tagen oder zwei Monat Besuch empfangen." Daniel Esquivels Frau, die Aktivistin Irlanda Jerez, ist eine der Festgenommenen. Beschuldigt werden sie des Aufruhrs und des Terrorismus.
Regierung spricht von Kriminellen und Terroristen
Für die Regierung sind die Inhaftierten Kriminelle, denen der Prozess gemacht wird, wie Valdrack Jaentschke, stellvertretender Außenminister im Interview betont. "Jeder Tote wurde während der drei Monate der Gewalt zugerechnet, die diese Leute ausgelöst haben. In der Statistik tauchen Namen jedoch doppelt auf."
Die Regierung redet deshalb offiziell von nur rund 200 Todesopfern. Die Oligarchie, diejenigen, die mit Ortega gebrochen hätten, steckten hinter dem ‚Golpe‘, dem ‚Putsch‘, wie sie die Proteste bezeichnet. "Friede und Ruhe haben wir nach einem versuchten gewaltsamen Staatsstreich gegen eine legitim gewählte Regierung wiedergewonnen", zieht Vizeaußenminister Jaentschke Bilanz.
Die Ruhe vor dem Sturm?
"Wir haben derzeit eine Pause bei den Protesten eingelegt, weil Daniel Ortega beschlossen hat, öffentliche Demonstrationen zu verbieten. Jeder, der öffentlich protestiert, kann festgenommen und später wegen Terror und organisiertem Verbrechen angeklagt werden."
Die Betonung legt Studentenführer Max auf Pause. Ist es die Ruhe vor dem Sturm? Die Normalität ist oberflächlich: Nach sieben Uhr abends sind Managuas Straßen leer, die Unis haben den normalen Betrieb nicht wieder aufgenommen, die Einkaufszentren und Touristenziele sind verwaist. Gelitten hat vor allem die Wirtschaft.
"Was die Bevölkerung interessiert: Wie stark sinkt die Produktion? Um 3,5 Prozent! Wie hoch wird die Inflation? 7,4 Prozent! Die Arbeitslosigkeit steigt auf 24 Prozent um 184.000 Personen dieses Jahr", schätzt der Ökonom Nestor Avendano mit seiner Wirtschaftsberatung COPADES. Sein Rezept: "Wir müssen zuerst das politische Problem lösen, um die wirtschaftlichen Probleme angehen zu können!"
Keine Annäherung zwischen den Konfliktparteien
Die Fronten freilich sind verhärtet. Die Allianz fordert die Wiederaufnahme der abgebrochenen Verhandlungen unter Ägide der Kirche und internationaler Beobachter mit dem Ziel vorgezogener Wahlen. Die Regierung indes beschuldigt gerade die Kirche, insbesondere Bischof Baez in Managua Teil der Verschwörung gegen Ortega zu sein. Kein Grund also zu verhandeln!
Man sei allerdings bereit gewesen über eine Art Wahlrechtsreform zu sprechen, signalisierte Vizeaußenminister Jaentschke: "Die Regierung steht auf dem Standpunkt, sie ist bis 2021 gewählt und wird bis dahin die nötigen Bedingungen schaffen und in die Menschen investieren. Punkt. Alles andere ist ein Traum." Damit scheinen weitere Konflikte programmiert. So schnell wird Nicaragua wirklich nicht zur Ruhe kommen.