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Nicaragua
Ortega und Murillo kontrollieren das ganze Land

Gioconda Belli, Nicaraguas bedeutendste Schriftstellerin, kämpfte einst mit Daniel Ortega gegen die Diktatur Somoza. Wie war es möglich, dass sich der ehemalige Revolutionär Ortega zu einem neuen Diktator im heutigen Nicaragua entwickeln konnte? Im Dlf spricht Belli über Ortegas Macht und den Widerstand gegen ihn.

Gioconda Belli im Gespräch mit Peter B. Schumann |
Gioconda Belli 2010.
Die nicaraguanische Schriftstellerin Gioconda Belli (imago / Leslie Searles El Comercio)
Gioconda Belli war lange eine Stimme der sandinistischen Befreiungsfront, die sie aus dem Exil in Mexiko und Costa Rica unterstützte. 1979 kehrte Gioconda Belli beim Sieg der sandinistischen Revolution zurück nach Nicaragua. Bis 1986 engagierte sie sich kulturpolitisch für die Revolutionsregierung, unter anderem als Fernsehdirektorin und Pressesprecherin. Doch Anfang der 1990er-Jahre wendet sie sich, wie viele Weggefährten, von den Sandinisten ab.
Vor einigen Jahren beschrieb sie, wie Vizepräsidentin Rosario Murillo Managua mit beleuchteten Metallbäumen dekorierte, sodass die Hauptstadt des ärmsten Landes auf dem amerikanischen Kontinent nachts wie Disney World leuchtete. Seit April 2018 ist aus einer Rentenreform der Regierung ein Aufstand der nicaraguanischen Bevölkerung entstanden.
Selbstbedienungsmentalität, Korruption und den Autoritarismus des Regimes von Ortega und Murillo wollten die Menschen in Nicaragua nicht länger hinnehmen. Die Machthaber schlugen den immer weiter wachsenden Widerstand mit großer Brutalität nieder. In die Hunderte geht die Zahl der Opfer: der Ermordeten, Verschleppten, Verwundeten oder Inhaftierten. Inzwischen hat sich das autoritäre Regime in eine Diktatur verwandelt: Alle Demonstrationen wurden verboten, zahlreiche Menschenrechtsorganisationen aufgelöst, Medien besetzt und enteignet.
Gioconda Belli, geboren 1948 in Managua, stammt aus einer der reichen Familien Nicaraguas. Sie besuchte eine Klosterschule in Spanien, studierte in den USA Kommunikationswissenschaften. Starke Frauen kennzeichnen ihre Lyrik und Romane. Bellis erste erotische Gedichte lösten im erzkatholischen Nicaragua einen Skandal aus, denn sie erhoben eine Stimme für die sexuelle Selbstbestimmung, das Recht der Bestimmung über den eigenen Körper und forderten die Emanzipation der Frau in allen gesellschaftlichen Bereichen. Gioconda Belli lebt nach vielen Jahren in den USA heute wieder in Nicaragua.

Peter B. Schumann: Vor 40 Jahren wurde in Nicaragua die Diktatur Somoza gestürzt. Einer der Anführer dieser "Sandinistischen Revolution" hieß Daniel Ortega. Als der ehemalige Revolutionär im letzten Jahrzehnt wieder an die Macht kam, hat er aus der schwach entwickelten Demokratie erneut eine Diktatur gemacht. Doch vor einem Jahr, am 18. April 2018, eskalierte der Widerstand gegen sein korruptes System, als er versuchte, mit einer Rentenreform die marode Staatskasse zu entlasten. Studierende führten die friedlichen Demonstrationen an, die er von seinem Unterdrückungsapparat mit unglaublicher Brutalität niederschlagen ließ. Längst hat das Regime auch die letzten Unterstützer verloren. Es steht quasi mit dem Rücken an der Wand. Im Gespräch mit Gioconda Belli, Nicaraguas berühmtester Schriftstellerin, wollen wir Ursachen, Hintergründe und größere Zusammenhänge beleuchten und auch eine Perspektive für die künftige Entwicklung wagen.
Gioconda Belli, Sie sind bei uns bekannt als sandinistische Revolutionärin, als Poetin, Romanautorin, Journalistin und Feministin. Welche dieser Rollen wird Ihnen am meisten gerecht?
Gioconda Belli: Ich bevorzuge die Rolle als Poetin, als Schriftstellerin, denn sie war eine Offenbarung für mich. Ich entdeckte während der Sandinistischen Revolution Anfang der 1970er‑Jahre etwas Verwirrendes: das politische Leben und zugleich meine Fähigkeit zu schreiben. Aber im Lauf der Zeit habe ich entdeckt, dass das Schreiben das Edelste und auch das Nützlichste in meinem Leben ist.
"Soziale Explosion hat sich seit langem angekündigt"
Schumann: Aber die Politik hat Sie auch immer wieder eingeholt und beschäftigt Sie heute mehr denn je seit dem Aufstand vor einem Jahr. Was hat zu dem folgenden Flächenbrand geführt?
Belli: Diese soziale Explosion hat sich seit langem angekündigt. Präsident Ortega kam 2007 nur durch eine Allianz mit Arnoldo Alemán, dem korruptesten Politiker des Landes, an die Macht. Dann hat er die wenigen demokratischen Errungenschaften, die wir inzwischen erreicht hatten, systematisch ausgehöhlt, um seine Position zu festigen. Diese Entwicklung erreichte 2016 ihren Höhepunkt, als er seine Frau, Rosario Murillo, als Vizepräsidentin inthronisierte. Dieses Ehepaar symbolisiert heute die absolute Macht, ein geradezu monarchisches Herrschaftssystem, das sich nach außen so abgeschottet hat, dass noch nicht einmal der innere Zirkel, der Hof bekannt ist.
Schumann: Man weiß jedoch, dass ihre Söhne und Töchter Schlüsselstellungen in den Medien und in der Wirtschaft eingenommen haben.
Belli: Und das alles hat 2016 zu einer großen Wahlenthaltung geführt. Das ist das erste Symptom. Dann gab es einen furchtbaren Brand in Indio Maíz. Das ist ein riesiges, wunderschönes Biosphären-Reservat, das wichtigste des Landes. Dort war ein Feuer ausgebrochen und hat eine Woche lang gewütet, ohne dass die Regierung es effizient bekämpfen ließ. Sie lehnte sogar die Hilfe Costa Ricas ab. Gegen dieses unglaubliche Verhalten demonstrierten damals die Jugendlichen und wurden brutal unterdrückt von Gruppen fanatischer Anhänger von Ortega/Murillo, die straflos um sich schlagen konnten.
Die Jugendlichen zogen sich in die Universität zurück. Am Tag darauf erließ die Regierung das Gesetz über die Rentenreform. Es sah eine Kürzung der Versicherungsleistung von fünf Prozent bei den Rentnern vor. Wieder protestierten die Jugendlichen friedlich auf den Straßen und wurden von einer äußerst gewalttätigen Terrormaschinerie attackiert. Das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat und ist das dritte Symptom. In fünf Tagen waren 23 Jugendliche umgebracht worden, ermordet von Heckenschützen. Diese ungeheure Brutalität trieb die Menschen zum Widerstand gegen dieses autoritäre Regime.
Schumann: Es waren zumeist Jugendliche, Studierende, die als erste demonstrierten. Sie waren sozusagen die Avantgarde des Protestes. Stehen sie in einer besonderen Tradition des Widerstands?
Belli: Die Jugend hat sehr viel zu verlieren, so lange Daniel Ortega und Rosario Murillo mit ihrem Projekt einer autoritären Gesellschaft die einzige Alternative für ihre Zukunft bleiben. Aber wir dürfen auch nicht den Kampf gegen die Diktatur Somoza in den 1970er-Jahren vergessen, an dem besonders Studierende beteiligt waren.
"Eine nicht mehr zu übersehende Verletzung der Menschenrechte"
Schumann: Den Studierenden schlossen sich im letzten Jahr große Teile der Bevölkerung an, schließlich sogar die Unternehmer, die bisher eine der wichtigsten Stützen, Profiteure des Regimes waren. Wieso haben sie die Seite gewechselt?
Belli: Seit dem 18. April 2018 herrscht in Nicaragua eine nicht mehr zu übersehende Verletzung der Menschenrechte durch die Regierung. Daran zerbrachen alle bis dahin existierenden Allianzen. Als mit Kriegswaffen ausgerüstete Paramilitärs die Demonstranten angriffen und es zwischen April und Oktober zu wahren Gemetzeln kam mit mehr als 300 Ermordeten, da reichte es selbst den Unternehmern. Sie schlossen sich zur ersten großen Bürgerallianz zusammen. Dazu gehörten Campesinos, Frauen, Studierende, Kleinunternehmer et cetera. Dann riefen sie, angeführt von der katholischen Kirche, zu einem Dialog mit der Regierung auf. Daneben entstanden andere Vereinigungen, die inzwischen alle zusammen die Blau‑weiße Bürgerallianz bilden. Sie ist das mächtige Bündnis der Opposition gegen die Diktatur von Daniel Ortega.
Schumann: Bedeutet dies, dass die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung gegen das Regime ist?
Belli: Das kann man mit Sicherheit sagen. Denn die Umfragen haben gezeigt, dass 70 Prozent dagegen sind, 10 Prozent sind unsicher. Die Basis von Ortegas Anhängern bilden 20 Prozent der Wähler.
Schumann: Sind das Leute, die von der Regierung besondere Vergünstigungen bekommen?
Belli: Sie erhalten besondere Zuwendungen, vor allem die Staatsangestellten. Das ist ein machistischer Paternalismus, ein Populismus, den wir seit langem nur allzu gut in Nicaragua kennen und den Daniel Ortega von Anfang an praktiziert hat. Er versorgt seine Leute und verlangt dafür von ihnen, dass sie die Klappe halten, vor allem nichts gegen ihn unternehmen. Das hat nichts mit Demokratie zu tun.
Schumann: Nun hat es immer wieder Anläufe gegeben, mit Ortega zu verhandeln, Gioconda Belli. Sie sind alle an seiner kompromisslosen Haltung gescheitert. Er igelt sich hinter einer Mauer der Unantastbarkeit ein und glaubt, den wachsenden Widerstand aussitzen zu können - ganz ähnlich wie Kollege Maduro in Venezuela, der auch glaubt, sich an der Macht festkrallen zu können.
Belli: Das ist zwar das gleiche Drehbuch, aber Nicaragua ist anders. Es ist ein viel kleineres und ärmeres Land und besitzt kein Erdöl wie Venezuela. Dafür ist die Opposition einig in dem Willen, Ortega zu vertreiben und endlich wieder eine demokratische Regierung herzustellen. Auch dürfen wir nicht vergessen, dass es bei uns - anders als in Venezuela - ein revolutionäres Erbe gibt. Wir haben bewiesen, dass es möglich ist, einen Tyrannen zu stürzen: diesen Somoza, den wir 45 Jahre lang hatten erdulden müssen. So etwas erträgt dieses Land auf Dauer kein zweites Mal: eine Dynastie und Diktatur, wie wir sie erlebt haben.
"Er beseitigte alle Kritiker"
Schumann: Auf wen kann sich denn eigentlich dieses Präsidenten-Paar jetzt noch stützen?
Belli: Auf einen fanatisierten Teil der Bevölkerung, der in Ortega noch immer einen Repräsentanten der langen Tradition des Sandinismus sieht. Er selbst hat durch Personenkult auch alles getan, seine Anhänger darin zu bestärken. Dazu hat seine Frau wesentlich beigetragen, denn sie ist die Propaganda-Ministerin. Sie beschwört dabei ständig die Religion und versteht es, die Massen zu manipulieren. So vermochte das Paar eine Anhängerschaft zu bilden und mit Geld aus einem venezolanischen Kooperations-Fonds bei Laune und in Abhängigkeit zu halten.
Schumann: Welche Rolle spielen die Militärs?
Belli: Sie unterstützen stillschweigend Daniel Ortega. Die Armee war irritiert, als er an die Macht kam. Sie war in der Revolution entstanden, von den demokratisch gewählten Regierungen danach entpolitisiert worden und hatte sich dann zu einer Berufsarmee entwickelt. Als Ortega die Regierung übernahm, änderte er bestimmte gesetzliche Grundlagen. Bis dahin musste zum Beispiel der Oberbefehlshaber nach fünf Jahren seinen Posten quittieren, jetzt kann er dreimal wiedergewählt werden, das heißt er ist ein Mann seines Vertrauens.
Schumann: Eine andere Frage: Sie haben Ortega noch als Revolutionär kennen gelernt. War seine Machtbesessenheit, die er seit langem zeigt, schon früh erkennbar?
Belli: Ich glaube ja. Ortega war zunächst nicht die Führungsfigur, die viele in ihm sahen. Er gehörte zu einer Regierungsjunta von neun Personen, die einzelne Funktionen in der Sandinistischen Revolution innehatten und die alle Beschlüsse gemeinsam fassten. Er war eingebunden in dieses Kollektiv. Als die Sandinisten 1990 die Wahlen verloren, wurde sein Führungsanspruch infrage gestellt. Daraufhin begann er all jene aus den eigenen Reihen zu entfernen, die ihn loswerden wollten. Das heißt: Er eliminierte die Gründergeneration der Sandinisten, klagte sie des Verrats und aller nur denkbaren Vergehen an. Er beseitigte alle Kritiker. Außerdem hat er unser Land - nach so viel Kampf und Blut in der Vergangenheit - in einen Kreislauf gestürzt, aus dem wir uns befreit hatten: der Diktatur.
Schumann: Kann man von einer Familien-Diktatur sprechen?
Belli: Ja, und die Tatsache, dass er seine Frau als Vizepräsidentin eingesetzt hat, ist einmalig in Lateinamerika. Beide haben mehrere Kinder und die haben wichtige Posten innerhalb der Partei inne. Einige sind auch verantwortlich für das Telekommunikationssystem. Sie haben die wichtigsten Fernsehkanäle gekauft. Sie haben ein Informationsmonopol errichtet. Außerdem haben sie Hunderte von Millionen Dollar aus einem venezolanischen Fonds dazu verwendet, ein Firmenimperium aufzubauen, über das niemand außer ihnen die Kontrolle hat und das von ihren Söhnen verwaltet wird.
Schumann: Dann gibt es noch ein Mega-Projekt: der Bau eines Kanals mit Hilfe chinesischer Finanzierung. Dadurch sollte eine weitere Verbindung zwischen der Karibik und dem Pazifik geschaffen werden, obwohl der Panama-Kanal gerade erst ausgebaut worden war. Ortega wollte sich wohl damit ein bleibendes Denkmal schaffen.
Belli: Dieses Projekt ist gescheitert. Es existiert zwar noch auf dem Papier, aber glücklicherweise kam die Finanzierung durch den chinesischen Partner Wang Jing nicht zustande. Dabei hat sich eine starke Widerstandsbewegung gegen diesen absurden Kanal gebildet. Er hätte das ökologische System in Nicaragua zerstört. Er wurde ohne jegliche Zustimmung geplant. Seit einiger Zeit erwähnt ihn Ortega nicht mehr. Ich glaube, das war eine schlechte Ehe mit dem Chinesen. Er war wohl überzeugt, dass Wang Jing wirklich das nötige Geld besäße, und der meinte, Ortega würde ihm ein stabiles Land bieten. Als dann die großen Demonstrationen gegen den Kanalbau begannen, da dürfte Wang Jing die Idee, in Nicaragua zu investieren, fallen gelassen haben.
Ortegas "völlige Kehrtwende"
Schumann: Ich möchte nochmal auf die Beseitigung der Kritiker des Regimes zurückkommen, von der Sie gesprochen haben. Dazu gehörten ja auch bekannte Intellektuelle: Sie selbst, Gioconda Belli, sowie die Schriftsteller Ernesto Cardenal und Sergio Ramírez. Sie bildeten zusammen mit anderen eine politische Alternative: die Bewegung der Sandinistischen Erneuerung.
Belli: Als wir 1990 die Wahlen verloren hatten, entschloss sich eine große Gruppe von uns, Daniel Ortega abzulösen, denn es war Zeit, die Partei zu erneuern. Es war auch in der Welt viel geschehen: der Zusammenbruch des Sozialistischen Blocks und der Mauer in Deutschland. Die Linke veränderte sich und strebte nach mehr innerer Demokratie. Wir haben diese Diskussion angestoßen und wurden von Daniel Ortega als Verräter beschimpft, und der Großteil der Parteibasis glaubte ihm mehr als uns. Deshalb haben wir diesen Kampf verloren und die Bewegung der Sandinistischen Erneuerung gegründet.
Schumann: Und was ist aus ihr geworden?
Belli: Sie existiert zwar immer noch. Ortega hat uns allerdings 2008 die juristische Person streitig gemacht und damit auch die Koalitionsmöglichkeit genommen.
Schumann: Aber wie hat das dieser Präsident fertig gebracht?
Belli: Weil er die Oberste Wahlbehörde beherrscht, die solche Entscheidungen treffen kann, und die hat er mit seinen Leuten besetzt. Daniel Ortega besitzt die Kontrolle über alle Institutionen. Er hat es geschafft, die Verfassung zu seinen Gunsten zu ändern und die Wahlen 2011 durch Betrug zu gewinnen. Er kontrolliert alle Staatsorgane, und deshalb gibt es auch keine Widerspruchsmöglichkeiten bei der Wahlbehörde. Wir sind völlig machtlos.
Schumann: Wie hat es Ortega überhaupt geschafft, wieder an die Macht zu kommen?
Belli: Er trat bei allen Präsidentschaftswahlen an und verlor sie zunächst alle. Dann macht er eine völlige Kehrtwende und erfand sich sozusagen neu. Er zeigte sich als ein katholischer, reumütiger Politiker, der um Verzeihung bat für die Probleme mit der Revolution. Er vermittelte den Eindruck, dass er ein anderer geworden war, und schloss eine Reihe von Pakten.
Schumann: Sie sind so unglaublich, dass ich sie kurz erwähnen möchte. Sie haben von dem Bündnis mit dem ehemaligen Präsidenten Alemán gesprochen. Dieser war wegen Korruption sogar im Gefängnis gelandet. Ortega hat ihn da rausgeholt, und später haben sich beide gegenseitig Immunität zusichern lassen. Außerdem gelang es den beiden, das Wahlrecht so zu verändern, dass man bereits mit 35 Prozent der Stimmen Wahlen gewinnen konnte. Nur so kam Ortega 2016 mit 38 Prozent an die Macht. Außerdem verbündete er sich mit dem konservativsten Teil der katholischen Kirche und schaffte dafür als Präsident das Recht auf Abtreibung wieder ab. Heute herrscht in Nicaragua totales Abtreibungsverbot.
Belli: Als Ortega außerdem von seiner Adoptivtochter Zoilamérica des sexuellen Missbrauchs im Alter von 11 Jahren beschuldigt wurde, hat ihre Mutter Rosario Murillo gegen sie und für Ortega ausgesagt. Dieser 'Pakt' verschafft ihr bis heute großen Einfluss auf ihn.
"Es gibt wirklich einen starken Widerstand in Nicaragua"
Schumann: An dem heutigen Widerstand gegen dieses Regime finde ich zwei Aspekte besonders bemerkenswert: den Mut der Studierenden, überhaupt der Jugendlichen, und die Insistenz der oppositionellen Medien. Ein Radiosender ging in Flammen auf, zwei TV-Programme wurden nachts überfallen, enteignet und geschlossen. Trotzdem arbeiten andere weiter. Dieser Widerstandswille ist für mich eines der positivsten Zeichen.
Belli: Und die Stärke der Leute. Sie gehen selbst dann auf die Straße, wenn es verboten ist. Denn seit September letzten Jahres sind öffentliche Demonstrationen untersagt. Vor kurzem haben sie dennoch für die Freilassung der politischen Gefangenen demonstriert. Wieder mal sollte ein Dialog zwischen Regierung und Opposition beginnen, aber als Voraussetzung für die Fortsetzung sollten alle politischen Häftlinge freigelassen werden. Selbst die Organisation amerikanischer Staaten, die um Vermittlung gebeten worden war, machte dies zur Auflage. Denn es handelt sich hierbei um Gefangene, die mit falschen Anschuldigungen und aufgrund eines Gesetzes gegen den Terrorismus inhaftiert wurden, das nachträglich erlassen wurde. Sie gelten alle als Terroristen.
Schumann: Darunter befinden sich auch zwei emblematische Fälle von Journalisten: Miguel Mora, der Direktor des Nachrichtenkanals "100% Noticias", und seine Stellvertreterin Lucia Piñera.
Belli: Sie sind der "Anstiftung zum Hass" in ihrem Medium angeklagt. Sie wurden in Isolationshaft gesperrt, wie Verbrecher behandelt: zwei unserer prominentesten Journalisten. Auch ein anderer Prominenter, Carlos Fernando Chamorro, verlor so seinen Kanal "Confidencial". Er musste nach Costa Rica ins Exil gehen und sendet von dort weiter. Es gibt wirklich einen starken Widerstand in Nicaragua.
Schumann: Gibt es denn überhaupt noch oppositionelle Medien in Nicaragua?
Belli: Die gibt es sehr wohl. Sie werden jedoch vom Regime stark behindert. Aktiv sind unter anderem geblieben "Radio Corporación" sowie die Tageszeitungen "La Prensa" und "Nuevo Diario". Allerdings wird die letzte Lieferung des Druckpapiers der beiden Blätter seit Monaten vom Zoll unter Verschluss gehalten. Deshalb mussten sie bereits den Umfang und die Erscheinungsweise reduzieren und werden bald, wenn überhaupt, nur noch im Internet erscheinen können. Die Regierung ihrerseits hat die wichtigsten Fernsehkanäle im Land gekauft und setzt sie als Propagandainstrumente ein.
Schumann: Viele Journalistinnen und Journalisten sind nach Costa Rica geflohen. Hat sich dort eine neue Informationsfront gebildet?
Belli: Ja, viele von ihnen mussten ins Exil gehen und haben dort ihre Arbeit fortgesetzt. Sie schicken ihre Programme und Beiträge über die sozialen Netze nach Nicaragua: über YouTube oder Facebook.
"Soziale Netze als Zentrum oppositioneller Aktivitäten"
Schumann: Gibt es eigentlich noch einen kulturellen Widerstand, Frau Belli?
Belli: Gewiss. Die wichtigsten Autoren sind gegen dieses Regime. Wir fühlen uns als eine Art Botschafter der Opposition, sind viel umhergereist und haben versucht, die internationale Gemeinschaft zu bewegen, mehr Druck auf Daniel Ortega auszuüben. Dies hat seine Wirkung nicht verfehlt. Die Vereinigten Staaten und Europa haben Sanktionen wegen Verletzungen der Menschenrechte gegen ihn verhängt. Bei diesem Kampf hat die Kultur als Teil der Gegenöffentlichkeit eine wichtige Rolle gespielt. Die Musik beispielsweise und die Protestlieder.
Schumann: Ich erinnere mich an den "Canto Vandálico", den sogenannten Rebellengesang. Das war ein virtuelles Konzert verschiedener Rock- und Popgruppen, das nur im Internet zu erleben war. Als Vandalen hatte das Regime die Aufständischen bezeichnet, um sie zu diskreditieren. Die Musiker haben sich diesen Begriff als Ausdruck ihrer Rebellion zu eigen gemacht.
Belli: Es gibt auch Karikaturen oder die 'Meme' im Internet, die das Regime an den Pranger stellen. Die sozialen Netze haben sich überhaupt zu einem Zentrum oppositioneller Aktivitäten entwickelt.
Schumann: Sind die oppositionellen Kulturzentren aktiv geblieben, die Chamorro-Stiftung zum Beispiel?
Belli: Der Chamorro-Stiftung oder dem PEN-Club, dem ich vorstehe, ist es trotz aller Anfeindungen gelungen, eine Front des intellektuellen Kampfs gegen die Diktatur aufrecht zu erhalten.
Schumann: Ihr eigener Kampf gegen eine Diktatur, Gioconda Belli, begann in den 1970er‑Jahren gegen Somoza. Damals ging es um die nationale Befreiung Nicaraguas. Danach haben Sie sich auf die Befreiung der Frau konzentriert. Ihre erotischen Gedichte und Ihre Romane haben Sie aus dieser Perspektive geschrieben. War das die Konsequenz Ihrer eigenen Erfahrungen als Frau in einer machistischen Gesellschaft?
Belli: Ich bin überzeugt, dass die Ungleichheit der Ursprung jeglicher Ausbeutung ist. Die erste Form der Ausbeutung erfährt der Mensch zu Hause, wo der Mann über die Frau herrscht, obwohl sie Leben erzeugt. Es ist absurd, dass die Frau, nur weil sie Mutter ist, angeblich für wichtige Rollen in der Gesellschaft nicht infrage kommt. Deshalb ist es für mich von zentraler Bedeutung, dass diese Diskriminierung beseitigt wird, dass andere Verhältnisse geschaffen werden, eine gerechtere und harmonischere Welt.
Schumann: In einem Ihrer letzten Bücher "Die Republik der Frauen" wird eine 'Partei der erotischen Linken' gegründet. Sind die Frauen in der Lage, den Charakter der Machtausübung zu ändern?
Belli: Das ist mein Ziel, denn der Charakter der Machtausübung muss geändert werden. Bisher wird immer auf die negativen Beispiele wie Margaret Thatcher und Rosario Murillo verwiesen. Ich sehe das Problem eher darin, dass Frauen, die in Machtpositionen vordringen, glauben, dort erst einmal zeigen zu müssen, dass sie genauso gut wie Männer sind. Es gibt eine von Männern für Männer geschaffene Machtstruktur und die muss geändert und mit einer weiblichen Ethik erfüllt werden: einer Ethik der Sorge um den anderen, der Versöhnung, der Schönheit. Das sollte eine Frau in eine völlig anders konzipierte Machtstruktur einbringen.
Schumann: Die mehrfach erwähnte Vizepräsidentin Rosario Murillo stellt ja nun das genaue Gegenbild dar: das Schlimmste, das Nicaragua passieren konnte.
Belli: Weil sie sich auf die Macht innerhalb einer männlichen Struktur einließ. Violeta Chamorro hingegen - sie war die erste Präsidentin nach der Wahlniederlage der Revolution - hat ihre Macht auf eine ganz andere Weise ausgeübt: Sie hat das Land 'vermütterlicht'. Sie hat gar nicht erst versucht, sich wie ein Mann durchzusetzen, sondern hat mit menschlicher Wärme regiert und hat das große Verdienst erworben, das tief gespaltene Land wieder zu versöhnen, in dem zehn Jahre lang Gewalt geherrscht hat.
"Das Land ist praktisch paralysiert"
Schumann: Kommen wir zu Ihrem neuen Roman "Las fiebres de la memoria". Er ist noch nicht auf Deutsch erschienen, aber man könnte den Titel mit 'Die Leidenschaft der Erinnerung' übersetzen. Es ist Ihr erster historischer Roman, eine Geschichte der Immigration, die im 19. Jahrhundert spielt. Was hat Sie an der für Sie ungewöhnlichen Thematik interessiert?
Belli: Dieser Roman ist ein Stück meiner eigenen Familiengeschichte: Ein Vorfahre ist in der Zeit des Goldrauschs über die USA nach Nicaragua gekommen. Er stammte aus Frankreich und hatte fliehen müssen, weil er seine Frau ermordet haben soll, was er jedoch stets bestritten hat. Er kam nach Nicaragua und hat dort eine große Familie gegründet. Meine Großmutter gehörte dazu. Ich glaube, dass diese Geschichte der Immigration ganz aktuell ist, denn sie zeigt, was mit jemandem passiert, der sich in eine neue Person verwandelt, in einem neuen Land, mit einer neuen Sprache.
Schumann: Der Roman gab Ihnen auch die Möglichkeit, die beiden Welten zu verbinden, in denen Sie leben: die USA und Nicaragua.
Belli: Ich lebe nicht mehr in den Vereinigten Staaten. 2013 bin ich nach Nicaragua zurückgegangen und habe auch keine Wohnung mehr in den USA. Aber ich habe die Situation meiner Hauptfigur sehr gut kennengelernt, damals in den 1970er-Jahren, als ich für die Sandinistische Befreiungsfront im Untergrund gekämpft habe. Ich musste einen anderen Namen annehmen und lernen, als eine andere Person zu leben. Und habe auch das Exil kennen gelernt, denn ich wurde von einem Militärgericht verurteilt und musste fliehen. Und später habe ich dann die 1990er‑Jahre aus familiären Gründen meist in den USA verbracht.
Ich wollte auch nicht miterleben, wie die Sandinistische Revolution zerstört wurde. Ich habe jedoch regelmäßig Nicaragua besucht und dabei das Phänomen der Emigration begriffen. Meine Rückkehr hatte auch damit zu tun, dass ich endlich wieder Spanisch sprechen wollte, denn es ist schwierig, in einer Sprache zu schreiben und in einer anderen zu leben. In Nicaragua bin ich wirklich ich.
Schumann: Wir sollten zum Schluss noch über die Perspektive für Nicaragua sprechen, wenn das im Augenblick auch nicht ganz einfach ist. Wieder haben Verhandlungen zwischen dem Regime und der Bürgerallianz begonnen. Wieder kamen sie ins Stocken, weil Präsident Ortega unter anderem die zentrale Forderung der Opposition, die Freilassung aller politischen Häftlinge, ständig hinauszögert. Was erwarten Sie über kurz oder lang?
Belli: Ich glaube, dass der internationale Druck entscheidend ist, denn er hat dazu geführt, dass Ortega immer wieder an den Verhandlungstisch zurückgekommen ist. Das Land ist praktisch paralysiert. Die Wirtschaft liegt danieder. 130.000 Personen sind arbeitslos. Die Armut steigt. 50.000 sind ins Exil nach Costa Rica gegangen. Es ist eine katastrophale Lage. Aber der internationale Druck, die Anklagen gegen Ortega wegen der von ihm begangenen, zahllosen Verletzungen der Menschenrechte sowie der ständig wachsende Druck von innen, der die Bevölkerung trotz Verbot auf die Straße zu Demonstrationen treibt - diese Faktoren werden Ortega schließlich zwingen, nachzugeben und vorgezogenen Wahlen zuzustimmen. Ich bin nicht pessimistisch.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.