Endzeit-Romane spielen mit unseren täglich von den Medien befeuerten Urängsten. Sie weiten das theoretisch Mögliche zum globalen Alptraum aus, zum Weltuntergangsszenario. Atomkriege können der Ausgangspunkt sein, Meteoriteneinschläge, Naturkatastrophen. Niccolò Ammaniti, geboren 1966, hat für seinen Roman "Anna" die Virus-Variante gewählt. Er spielt die Frage durch: Was wäre, wenn sich ein Killer-Virus nicht durch Impfstoffe aufhalten ließe.
2016 bricht in Belgien die "Rote Seuche" aus, wie der Volksmund sie wegen der roten Hautflecken nennt. Vier Jahre danach hat sie allem Anschein nach sämtliche Erwachsene auf der Welt getötet. Und auch die übrig gebliebenen Kinder sterben, sobald sie geschlechtsreif sind. Mit anderen Worten: Wenn kein Wunder geschieht, wird die Welt in wenigen Jahren menschenleer sein. Zur Freude der Tiere. Im verwüsteten Sizilien begegnet die 13-jährige Anna auf der Suche nach Wasser und Nahrung immer öfter Hunderudeln. Einer ihrer Anführer wurde auf einem Schrottplatz geboren und zur Kampfbestie abgerichtet. Bereits hier zeigt sich Niccolò Ammanitis Sinn für Ironie. Denn er widmet dem Hund eine sachliche, kompakte Kurz-Biografie, als wäre er ein Mensch.
"Wie vielen anderen Hunden schien es Manson vorbestimmt, sein Leben an der Kette zu verbringen. Der Virus änderte alles. Die Epidemie raffte binnen weniger Monate die Familie Oddo dahin, und der Hund blieb allein und angekettet zurück. Er hielt durch, indem er das Regenwasser trank, das sich im Blech der Autos sammelte, und trockene Essensreste vom Boden aufleckte. Hin und wieder kam jemand die Straße entlang, doch keiner blieb stehen, um ihn vom Hunger zu erlösen, und so heulte er verzweifelt den Himmel an. Für eine gewisse Zeit antwortete noch seine Mutter auf sein Rufen, doch dann verstummte sie, und auch der vom Fasten ausgezehrte Manson verlor die Stimme. In seine Nase drang der Gestank der Leichen aus den Massengräbern von Trapani."
Zweikampf mit dem Kettenhund
Die Zwangsdiät rettet den Hund. Irgendwann passt der abgemagerte Kopf durch das Halsband. Manson, benannt nach dem Sektenführer Charles Manson, der seinen Gefolgsleuten eine Serie von Morden befahl, kann sein Leben zum ersten Mal selbst bestimmen. Die sadistische Erziehung durch sein von der Seuche hingerafftes Herrchen zahlt sich bald aus. Denn er unterwirft seine Konkurrenten im Rudel nicht nur, sondern er tötet sie. Das macht Eindruck. Bis er eines Tages Anna ins Visier nimmt. Mit ihrem Zweikampf eröffnet Niccolò Ammaniti den ersten Romanteil: in perfekter, knapp geschnittener Thriller-Prosa. Überraschend ist vor allem die Unbedingtheit, mit der die 13-jährige kämpft. Denn der Auftrag ihrer verstorbenen Mutter ist ihr heilig: Anna soll ihren vier Jahre jüngeren Bruder Astor, bevor sie selbst stirbt, auf das Leben ohne schützende Eltern vorbereiten.
"Mit schonungslosen Bildern baut Niccolò Ammaniti eine alptraumhafte Kulisse von Anarchie und Zerstörung auf. Die Detailbeschreibungen menschlicher Verwesungsprozesse sind dabei nichts für sensible Gemüter. Konfrontiert werden sie mit Annas Erinnerungen an das friedliche Früher und Rückblenden in die Übergangsphase, als der Mangel begann. Auch die Literatur bekommt ihren Platz. Denn Anna soll ihrem Bruder nicht nur das Lesen beibringen, sondern ihm auch die Lust nehmen, das Elternhaus im Zauberwald zu verlassen."
Damit ihr Bruder sich einschließen ließ, erzählte ihm Anna jeden Abend Geschichten vom Draußen. Er hörte still zu, bis seine Atemzüge gleichmäßig wurden und ihm der Daumen aus dem Mund rutschte. Das Draußen auf der anderen Seite des Zauberwalds war totes Flachland. Keiner, ob Erwachsener, Tier oder Kind, war jemals dem Zorn des Gottes Danone entkommen (den Namen hatte ihm Anna zu Ehren eines Schoko-puddings verliehen, der ihr in nostalgischer Erinnerung war). […] In dieser Welt trieben sich Rauchmonster herum, die dem Gott dienten. Riesen aus schwarzem Gas, die jeden umbrachten, der ihren Weg kreuzte.
Bandenkriege unter Kindern
Niccolò Ammaniti umkreist in seinem Roman "Anna" die Frage, was Heranwachsende tun, die sich nach einer Großkatastrophe allein überlassen sind. In der Not bilden sie Banden und neue Hierarchien. So baut der "Bär", Anführer der blauen Kinder, in einem ehemaligen Hotel mit Sklaven eine Schein-Welt auf. Die an der "Roten Seuche" Erkrankten lockt er mit dem Versprechen herbei, dass die geheimnisvolle "kleine Riesin" sie heilen werde. Wer sie sehen will, muss natürlich zahlen: mit allem, was rar geworden ist - von Batterien bis hin zu Medikamenten. Mit dem Tauschhandel beginnt der ganz gewöhnliche Kapitalismus von vorne: Wer mehr besitzt, hat auch mehr Macht.
Niccolò Ammaniti bedient sich immer wieder im Motiv-und Bild-Reservoir von Road-Movies und Science-Fiction-Literatur. Langweilig wird es aber nie. Sein Roman "Anna" bleibt bis zur letzten Seite hochspannend: schon deshalb, weil beim Betreten jeder verlassenen Wohnung Überraschungen drohen. Auch umkurvt er gekonnt die Klippe eines allzu platten Happy ends. Mehr noch: er verliert nie seinen Sinn für Humor: zum Beispiel im Porträt des Schriftstellers Patrizio Petroni, der sich kurz vor Ausbruch der Seuche bei der Familie seiner Freundin einschnorrt, um einen Roman zu schreiben.
"Ein Römer. Mehr als zwei Zentner schwer. Klein und breit, einer, über den man schneller springen konnte als um ihn herumgehen. Mit einem Helm aus schwarzen Locken nicht weit über der Monobraue. Eine Brille mit schwerem Gestell über der Kartoffelnase. Sein praller Wanst lugte aus einem Paar Surfershorts hervor, die tief über dem Hintern saßen, und die Waden, so rund wie Truthahnkeulen, ragten ansatzlos aus den schwarzen Basketballschuhen."
Der Egomane als Sterbehelfer
Niccolò Ammaniti mokiert sich gern, auch mit flachwitzigen Metaphern. Doch hat er stets ein Gespür für menschliche Ambivalenzen. Seine Figuren sind nie eindeutig, sondern widersprüchlich. So wird aus dem egomanisch versoffenen Patrizio ein unkonventioneller Sterbehelfer. Das ist nicht die einzige Überraschung, die der Roman "Anna" bereithält. Ammaniti besinnt sich auch auf das, was Kinder angesichts des allgegenwärtigen Todes zusammenschweißen könnte. Frei nach dem Motto: der Weg ist das Ziel. Denn Anna und Astor wollen das Unmögliche wagen und die Meerenge zwischen Sizilien und Kalabrien überqueren: in der Hoffnung, dass vielleicht doch irgendwo ein Forscher in einem Bunker sitzt und einen Impfstoff gegen die rote Seuche entwickelt. Dass sie dabei von einem Riesenhund begleitet werden, der früher Charles Manson hieß, ist vielleicht zu schön, um wahr zu sein. Doch auch dessen Wandlung folgt einer inneren Logik.
Niccolò Ammaniti: "Anna", aus dem Italienischen von Luis Ruby, Eisele Verlag, München 2018. 338 Seiten, 20 Euro.