"Wenn ich in meinen historischen Vorlesungen eingangs des Semesters frage: Was ist die ‚Aktion Reinhardt‘ gewesen, dann wissen das von 250 Studierenden drei, vier oder fünf."
Dr. Martin Cüppers ist Privatdozent für Neuere Geschichte an der Universität Stuttgart und wissenschaftlicher Leiter der Forschungsstelle Ludwigsburg, die seit 2001 mit der Erforschung der NS-Verbrechensgeschichte befasst ist. Das Unwissen, das Cüppers in Vorlesungen bemerkt, betrifft z.B. die dramatischen Unterschiede in der Größe der Opfergruppen: 2.7 Millionen ermordete polnische Juden, etwa 160.000 deutsche Juden. Es betrifft aber vor allem den Ablauf des Massenmords, die Identität der Täter und das, was Martin Cüppers die Geografie der Tat nennt:
"Da können wir feststellen, dass der Holocaust im Sommer 1941 in der Sowjetunion beginnt. Dort werden in Massenerschießungen, hunderte, tausende Erschießungsaktionen, der ganz überwiegende Teil der sowjetischen Juden ermordet. Es folgt dann im März 1942 die sogenannte Aktion Reinhardt. Das ist der zentrale Vorgang, in dem vor allem die polnische Judenheit ermordet wurde. Und das hauptsächlich in drei Vernichtungslagern: Bełżec, Sobibor, Treblinka. Und dann haben wir ein europaweites Deportationsprogramm, das endet vor allem zwischen Sommer 1942 und, ja, 1944 in Auschwitz-Birkenau."
Holocaust-Gedenken konzentriert sich auf Auschwitz
Das deutsche Holocaust-Gedenken konzentriert sich auf Auschwitz. Aus nachvollziehbaren Gründen. Das Lager existierte noch, als es 1945 von der Roten Armee befreit wurde. Hier wurden die deutschen Juden ermordet. Weil Auschwitz im Gegensatz zu Sobibor, Treblinka und Bełżec kein reines Vernichtungslager war, überlebten deutlich mehr Häftlinge und konnten von Auschwitz berichten.
Der Kontrast zur "Aktion Reinhardt" zum Beispiel könnte kaum größer sein. Wie genau der Völkermord in Polen und der Sowjetunion ablief - damit befasst sich die historische Forschung erst seit dem Ende des Kalten Krieges intensiv. Zunehmend im Fokus steht dabei auch die Rolle von nicht-deutschen Tätern.
Professor Thomas Sandkühler von der Berliner Humboldt-Universität hat zwei dieser nicht-deutschen Tätergruppen gerade die Studie "Das Fußvolk der Endlösung" gewidmet:
"Die Ukrainische Hilfspolizei war eine Einheit, die der Schutzpolizei unterstand. Sie waren rekrutiert worden, um zunächst einmal normale schutzpolizeiliche Aufgaben zu übernehmen, und auch sie wurden dann zunehmend eingespannt in den Vernichtungsprozess gegen die Juden. Maßgeblich waren sie beteiligt an sogenannten Ghettoräumungen, also an Massenverhaftungen."
Trawniki waren "Rückgrat der Massenverbrechen"
Die ukrainischen Hilfspolizisten wurden durch Zeitungsannoncen rekrutiert, meldeten sich also meist freiwillig zum Dienst für die deutschen Besatzer.
Bei den sogenannten Trawniki war das anders: "Das waren ehemalige sowjetische Kriegsgefangene, die in den Kriegsgefangenenlagern von der Wehrmacht festgehalten worden sind und spätestens seit Herbst 1941 akut vom Hungertod bedroht waren. Sie wurden dann von der SS rekrutiert als eine Art von Hilfspolizisten."
Ihre SS-Ausbildung erhielten die Kriegsgefangenen im Zwangsarbeits- und Ausbildungslager Trawniki bei Lublin. Daher der informelle Name der Truppe.
"Zunächst mit dem Hintergedanken, diese Leute dafür zu verwenden, die Besiedlung des weiten Ostens voranzutreiben und Polizeistützpunkte zu errichten. Später dann, als sich diese Pläne als undurchführbar erwiesen, für die Bewachung von Zwangsarbeitslagern und zunehmend dann auch von Tötungslagern im Generalgouvernement Polen, also im zentralen und östlichen Teil Polens. Dort waren die Trawniki sozusagen das Rückgrat der Massenverbrechen, die da durchgeführt wurden."
760 Personen ermorden 1,6 Millionen Menschen
Was das in Zahlen bedeutete für die Vernichtungslager Bełżec, Sobibor und Treblinka, erläutert Dr. Martin Cüppers: "Dort laut meiner Zählung kommen wir auf eine Gesamtzahl von ziemlich genau 760 Personen. Das sind einerseits 122 deutsche Täter, die Kerngruppe. Und auf der anderen Seite 638 Trawniki, die die Deutschen in diesem gigantischen Massenmord unterstützten. 760 Personen ermorden in diesen drei genannten Vernichtungslagern über 1,6 Millionen Menschen."
Wie sorgfältig die SS ihre Spuren verwischte, verdeutlicht ein erstaunlicher Fakt: Selbst ein Mann wie Johann Niemann, 1943 stellvertretender Lagerleiter in Sobibor, war der Forschung bis vor kurzem ein Unbekannter. Das änderte sich erst 2015, als Fotoalben auftauchten, in denen Niemann selbst seine SS-Karriere dokumentiert hatte. Die Bilder wurden 2020 in dem Band "Fotos aus Sobibor" veröffentlicht. Noch spärlicher war bis vor Kurzem das Wissen der Forschung über die weniger hochgestellten deutschen und nicht-deutschen Täter.
"Fußtruppen der Endlösung" lange Zeit in Vergessenheit
"Da gab es in der deutschen politischen Öffentlichkeit, auch in der Strafjustiz eine pragmatisch durchaus nachvollziehbare Entscheidung, dass man sich mit den sogenannten kleinen Rädchen in den Mörderbetrieben nicht eingehend beschäftigen wollte, sondern vor allem den mittleren und höheren Befehlsebenen strafrechtlich nachspürte. Es sind dann diese sogenannten kleinen Täter lange Zeit in Vergessenheit geraten. Und das hat sich eigentlich erst geändert mit den großen Studien über die Polizeibataillone, die Christopher Browning vorgelegt hat."
Wer waren die Trawniki? Welche Aufgaben hatten sie in den Lagern und welche Handlungsspielräume? Wie funktionierten die sogenannten Fußtruppen der Endlösung als Zwangsorganisationen? Mit diesen Fragen beschäftigt sich die Wissenschaft, seit 2009 der Trawniki-Wachmann John Demjanjuk als bislang einziger nicht-deutscher Täter in Deutschland vor Gericht gestellt wurde. Dr. Martin Cüppers: "Der ist als einfacher Wachmann, unterster Dienstgrad, insofern typisch, weil wir über ihn im Grunde sehr wenig wissen."
Sowjetische Prozessakten als Quellen der Forschung
Wesentlich besser konturiert sind mittlerweile einige der höheren Dienstgrade der Trawniki, für die die SS meist Russland-Deutsche Kriegsgefangene auswählte. Die wichtigsten Quellen der Forschung sind dabei die Erinnerungen der wenigen Überlebenden und auch Akten früher Prozesse, die in der Sowjetunion schon kurz nach dem Krieg gegen Nazi-Kollaborateure geführt wurden.
"Etliche Unteroffiziere stechen immer wieder hervor durch besondere Gewalt, durch besonderen Mordwillen, durch die Bereitschaft, die Befehle der Deutschen auch zuverlässig auszuführen. Dann gibt es eine größere Gruppe, die offensichtlich, ja, Befehle verfolgt hat. Und dann gibt es einen Prozentsatz sicherlich im zweistelligen Bereich, die in irgendeiner Form auch Widerstand geleistet haben, die desertiert sind oder versucht haben, die Befehle der deutschen Lager-SS zu unterlaufen."
"Täter prügeln und ermorden individuell"
Die Beschäftigung mit den Tätern der Aktion Reinhardt stellt teilweise seit Jahrzehnten gängige Thesen in Frage. Professor Sandkühler: "Es hat tatsächlich dieses Erklärungsmodell gegeben, dass die Bürokratie im Wesentlichen diesen Massenmord bewerkstelligt habe - eine Bürokratie, die weitgehend zweckrational und von moralischen Skrupeln, aber auch von ideologischen Antrieben frei ihr Werk verrichtet habe. Das ist in Teilen durchaus nach wie vor richtig, aber je näher man dem Geschehen rückt, desto mehr merkt man, wie schwierig das Modell ist."
"Diese Täter, die prügeln, die ermorden individuell, die stehen ihren Opfern Angesicht zu Angesicht gegenüber, die treiben sie bis in die Gaskammern und ermorden die Menschen dort mit kohlenmonoxidhaltigen Abgasen aus Benzinmotoren. Und das hat wenig mit einem industriell in Anführungsstrichen effizienten Vorgang zu tun, das ist Mord und Gewalt in einem Inferno."
Wahrnehmung des Holocaust vom Forschungsstand abgekoppelt
Die neueste Täterforschung stellt aber auch Fragen an das ritualisierte Holocaust-Gedenken und liefert Anstöße für eine bessere Vermittlung von historischem Wissen in Schulen.
Sie lenkt den Blick auf Krieg und Besatzungspolitik als unabdingbarer Rahmen des Holocaust. Auf Täter mit eigenen Motiven, mit Ideen und Initiative. Und auf zu lange an den Rand gedrängte Opfergruppen und Verbrechen.
"Zunächst einmal wissen wir ja schon seit langer Zeit, dass die öffentliche Wahrnehmung des Judenmords, des Holocaust vom Forschungsstand sich weitgehend abgekoppelt hat. Das heißt, das was wir seit etwa 20 Jahren, viel zu wenig: 30 Jahren inzwischen wissen über die Massenverbrechen in Osteuropa, ist eigentlich nie so richtig durchgedrungen in das öffentliche Geschichtsbewusstsein der Bundesrepublik."