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"Nicht Flüchtlinge bekämpfen, sondern Fluchtursachen"

Die EU müsse ihre Flüchtlingspolitik im Bereich humanitäre Hilfe verbessern, sagt Michael Hartmann (SPD). Tragödien wie auf Lampedusa mit Hunderten Toten dürfen sich nicht wiederholen. Bei möglichen Koalitionsverhandlungen mit der Union werde das Thema daher auf der Agenda seiner Partei stehen.

Michael Hartmann im Gespräch mit Bettina Klein | 08.10.2013
    Bettina Klein: Entscheidungen werden nicht erwartet, so hieß es schnell, aber zumindest beraten die Innenminister der EU über mögliche Konsequenzen nach der Flüchtlingstragödie vor Lampedusa. Die Frage ist berechtigt, wie viele dieser Tragödien sich eigentlich noch ereignen müssen, bis tatsächlich Konsequenzen folgen. Die Uneinigkeit blockiert auch in diesen Fragen die Handlungsfähigkeit der Europäischen Union. Sind also die Nationalstaaten allein gefragt?
    Am Telefon begrüße ich den SPD-Innenpolitiker Michael Hartmann. Guten Tag!

    Michael Hartmann: Guten Tag, Frau Klein.

    Klein: Herr Hartmann, beginnen wir mit einer konkreten Zahl, die wir gerade gehört haben von Hans-Peter Friedrich (CSU). Deutschland nimmt die meisten Flüchtlinge in Europa auf. Er nannte: Auf eine Million Einwohner kommen 946 Flüchtlinge. Ist das nicht genug?

    Hartmann: Ich befürchte, diese Zahl wird nicht so einfach zu halten sein, denn tatsächlich ist es doch so, dass jene Menschen, die aus Nordafrika zu uns kommen, zunächst einmal in Griechenland und in Italien aufschlagen. Warum ist die Insel Lampedusa immer wieder im Gespräch? Keineswegs ist es so, dass Deutschland die größte Last trägt. Es geht insgesamt darum, innerhalb Europas faire Regelungen zu finden, und da kann Deutschland auch noch eine Schippe drauflegen.

    Klein: Sie haben gesagt, diese Zahl wird nicht zu halten sein. Wie viel Luft nach oben ist da?

    Hartmann: Das lässt sich nicht abstrakt beantworten. Konkret ist nämlich, dass jene Menschen, die auf Seelenverkäufern übers Mittelmeer fliehen, oftmals Hunderte, ja Tausende Kilometer zurückgelegt haben in letzter Hoffnung.

    Es ist größte Not, die die Menschen ihre Heimat verlassen lässt. Jetzt muss niemand sagen, die Tür macht hoch, das Tor macht weit, kommt alle zu uns, aber man muss in einem fairen Ausgleich jenen Ländern, die die Hauptlast tragen, eine Chance zur Entlastung bieten, das zum einen, und man muss nicht Flüchtlinge bekämpfen, sondern Fluchtursachen. Herr Friedrich scheint, das gelegentlich zu verwechseln.

    Klein: Wir sagen noch mal: Italien nimmt auf 260 Flüchtlinge auf eine Million Einwohner. Auf der anderen Seite sind natürlich die Länder im südlichen Europa, Sie haben es gerade angedeutet, stärker betroffen, weil dort die Flüchtlinge zuerst ankommen und, damit zum nächsten Punkt, durch das Dubliner Abkommen ja festgelegt ist, dass sie nur dort in ihrem Ankunftsland Asyl zum Beispiel beantragen können. Wie sehen Sie denn die Chancen im Augenblick, dass sich daran innerhalb der Europäischen Union etwas ändert?

    Hartmann: Sie haben das sehr richtig dargestellt. Dublin verpflichtet uns zu Regeln, die am Schluss auch recht inhuman und unfair sind gegenüber den Ländern des Südens, und deshalb wäre es notwendig, dieses Paket fair aufzuschnüren, um immer im europäischen Verbund – es geht nie um Einzellösungen – es tatsächlich zu schaffen, dass so, wie wir es bei den syrischen Flüchtlingen Gott sei Dank schaffen, eine faire Verteilung insgesamt stattfindet. Das muss aber jemand in die Hand nehmen und wollen. Ich glaube nicht, dass Herr Friedrich das tut.

    Klein: Er hat ja auch gerade angedeutet, dass er in dieser Richtung wohl die Asylpolitik nicht ändern will. Deshalb noch mal meine Frage: Wie realistisch ist denn das, über was wir gerade sprechen? Wenn sich dafür keine Mehrheiten in der EU finden, dieses Abkommen zu verändern und zu überarbeiten, dann wird daraus nichts und man wird sich was anderes einfallen lassen müssen.

    Hartmann: Sehen Sie, wir sind ein Land, bei dem sehr oft von christlichen Werten geredet wird, und wir hatten auch keine Probleme, die wirklich verfolgten Christen aus dem Nahen Osten, aus dem arabischen Raum aufzunehmen. Das ist gut! Aber christliche Politik gebietet es doch auch insgesamt, allen, die in Not sind, eine Heimstatt zu bieten, und da würde ich mir wünschen, dass Deutschland, das innerhalb der EU ansonsten bärenstark ist, wenn es um Sparauflagen und anderes geht, auch hier mit einer stärkeren, lauteren Stimme spricht. Es spricht derzeit mit fast gar keiner.

    Klein: Aber dann sind wir doch wieder bei dem Punkt. Wenn es keine europäische Regelung gibt, dann sollte Ihrer Meinung nach Deutschland von sich aus mehr Flüchtlinge aufnehmen und damit sozusagen auf die Verantwortlichkeit der Nationalstaaten zurückgreifen an der Stelle?

    Hartmann: Am besten, Europa regelt das. Dafür haben wir Europa und wir unterliegen einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. Das haben wir uns gegenseitig in die Hand versprochen. Aber da muss noch viel ausgebaut werden und da ist vieles nicht in Ordnung. Ich würde mir wünschen, dass Deutschland zunächst einmal innerhalb Europas auf einen fairen Ausgleich und faire Regeln, auch was die Verteilung der Flüchtlinge anbelangt, drängt, aber im Notfall auch bereit ist, als das starke und reiche Land einen über den Durst aufzunehmen. Was über den Durst bedeutet, das lässt sich wie gesagt angesichts des Elends gar nicht so leicht definieren.

    Klein: Ich muss noch mal nachfragen, was Sie meinen mit "fairem Ausgleich". Ich habe die Zahlen gerade genannt: Deutschland nimmt 946 Flüchtlinge auf auf eine Million Einwohner, Italien ein Drittel davon. Was meinen Sie mit "nicht fair"?

    Hartmann: Es ist leider etwas anders in Italien, denn von dort aus versickern viele, die dann irgendwo illegal sich aufhalten, die untertauchen, die halb legal und illegal im Land bleiben.

    Klein: Das heißt, die in diesen Zahlen gar nicht auftauchen, meinen Sie?

    Hartmann: Ja, ja. Ich glaube, dass die Zahlen nicht stimmen, dass sie letztlich hart nicht tragen. Das sagen uns auch viele Flüchtlingsorganisationen, die da durchaus genau empirisch messen.

    Klein: Herr Hartmann, Ihre Partei, die Sozialdemokraten, befinden sich in Sondierungsgesprächen mit der Union. Sie werden sich vielleicht irgendwann in Koalitionsverhandlungen wiederfinden. Mit welcher Position geht die SPD an dieser Stelle konkret hinein?

    Hartmann: Wir haben schon seit langer Zeit als SPD ein Konzept entwickelt, das besagt, dass wir jene angesprochenen europäischen Regelungen noch mal aufbohren wollen im Sinne der Humanität, und da muss niemand Angst haben, dass das Boot deswegen plötzlich voll wäre. Und wir müssen verhindern, dass Bilder, wie sie uns jetzt leider erreicht haben, aus Lampedusa sich wiederholen. Deshalb werden wir, sofern es zu Koalitionsverhandlungen kommt, tatsächlich dieses Thema auch als ein Kernthema mit aufrufen.

    Klein: Konkret heißt das was?

    Hartmann: Wir wollen, dass zum Beispiel der ganze von Ihnen beschriebene Prozess innerhalb Europas noch mal neu diskutiert wird. Wir wollen zum Zweiten, dass die Kommunen, die ja in Wahrheit die Last der Unterbringung und Versorgung der Flüchtlinge zu tragen haben, auch vom Bund Hilfen erhalten und das ganze nicht jeweils auch instrumentalisiert wird je nach politischer Großwetterlage.

    Klein: Hans-Peter Friedrich hat ja gerade auch noch mal konkrete Punkte genannt: Verbesserung der Seenot-Rettung, Vorgehen gegen die Schleuserbanden, nicht zuletzt die Situation in den Herkunftsländern verbessern, also an den Ursachen etwas ändern. Da sind Sie d’accord mit dem Innenminister?

    Hartmann: Wenn er damit seinen Katalog nicht abschließt, ja. Das gehört mit Sicherheit alles dazu. Aber man darf nicht dabei stehen bleiben, denn wer das Elend in den Ländern, um die es da geht, kennt, der weiß genau, dass die Leute weiter kommen werden, egal was wir tun, ob wir Kanonenboote losschicken oder nicht. Und da geht es wirklich um Fragen der Humanität und nicht einfach um Fragen einer Haltung von, ich mach mal die Tür zu und die kommen nicht rein.

    Klein: Und gerecht wäre, dann ja aber allen Menschen zum Beispiel auf dem afrikanischen Kontinent die Möglichkeit einzuräumen, ein besseres Leben in Europa zu führen. Wo soll die Grenze gesetzt werden?

    Hartmann: Gerecht ist es in der Tat, wenn man die Fluchtursachen als Erstes bekämpft. Das sind ja oftmals eher die Gebildeten, die nach Europa kommen und dann auch zum Teil in Deutschland landen. Wir brauchen die durchaus, aber ihre Heimatländer brauchen die noch mehr. Und die beste Politik, um Flüchtlingsströme zu verhindern, sind A ein fairer Welthandel und B eine Friedenspolitik, die in diesen Regionen die schrecklichen Bürgerkriege beendet.

    Klein: Ein Thema, das wir sicherlich noch an anderer Stelle hier im Deutschlandfunk vertiefen werden. – Das war Michael Hartmann, SPD-Innenpolitiker, heute Mittag hier im Deutschlandfunk. Ich bedanke mich für das Gespräch, Herr Hartmann.

    Hartmann: Sehr, sehr gerne.


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