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Nicht mehr ganz in Frankreich

La Goutte d'Or heißt übersetzt der Goldtropfen. Der Pariser Stadtteil grenzt an das Viertel Montmartre. Während sich dort die Touristen tummeln, findet sich östlichen der Basilika Sacré Coeur ein afrikanisch geprägtes Einwandererviertel.

Von Annika Erichsen | 28.07.2013
    In einem kleinen Café am Übergang von Montmartre nach La Goutte d'Or treffe ich Bertrand. Der eher unscheinbare Mittvierziger sitzt wie so oft über ein paar Skizzen gebeugt. Bertrand zeichnet Comics. Die Geschichte, die er sich gerade ausgedacht hat, zeigt einen Superhelden, der sich aus der Touristenhochburg Montmartre ins angrenzende Einwandererviertel La Goutte d'Or flüchtet, um dort im unübersichtlichen Gewusel unterzutauchen. La Goutte d'Or ist das Viertel, in dem Bertrand seit über 20 Jahren wohnt und in das er mich heute mitnimmt.

    "Wir befinden uns in direkter Achse mit dem Sacré Coeur. Hier sind wir noch in Frankreich und gleich betreten wir sozusagen internationales Land. Hier leben auf nur einem Quadratkilometer mehr als 80 Nationalitäten zusammen."

    Ob das mit den 80 Nationalitäten so genau stimmt, sei dahingestellt – jedenfalls sind Bertrand und ich als hellhäutige Europäer eindeutig in der Minderheit. Hier laufen Menschen in traditionellen Gewändern aus aller Herren Länder herum und man schwimmt permanent in einem Sprachenmeer der verschiedenen Kontinente. Es gibt Straßen nur mit afrikanischen Frisiersalons und Lebensmittel, die ich noch nie zuvor in meinem Leben gesehen habe.

    "Das Viertel hier heißt La Goutte d'Or – der Goldtropfen. Der Name kommt noch aus der Zeit, als in Montmartre Wein angebaut wurde. Jahrhundertelang war der Hügel von Montmartre ein einziger Weinberg. Und der beste Wein kam von hier, aus dieser Ecke, daher kommt der Name der Goldtropfen, La Goutte d’Or."

    Weinberge gibt es hier schon lange nicht mehr, aber dafür kann man exotische Früchte, Gewürze und überreife Bananen kaufen und das zu den billigsten Preisen von ganz Paris. Als ich in die kleine Marktstraße eintrete, bin ich plötzlich von lauter Händlern umgeben. Handys, Sonnenbrillen, Kosmetikartikel – von allen Seiten wird mir Ware angeboten. Manche Händler halten ihre Ware in der Hand und zeigen sie den Passanten möglichst unauffällig im Vorbeigehen. Andere bauen sich kleine Stände mit Hilfe von Pappkartons. Als Unterlage immer eine große Plastiktüte, die nur hochgeklappt werden muss, um schnell einpacken und weiterlaufen zu können, wenn die Polizei kommt.

    "Ich stelle mir gerne vor, wie Touristen an der Metrostation Château Rouge aussteigen, um nach Montmartre zu gehen und dann kommen sie unvorhergesehenerweise in Afrika an. Und wissen plötzlich gar nicht mehr, wo sie sind. Das gefällt mir. Dass einfach so das Eine in das Andere übergeht, innerhalb von 100 Metern, 20 Metern, ja 10 Metern eigentlich."

    Anne ist eine hochgewachsene schlanke Frau mit langen braunen Haaren. Meistens trägt sie lange Hosen und eine Lederjacke. Sie strahlt Stärke aus, aber auch Ruhe. Ruhe, die sie unter anderem aus der Atmosphäre des Viertels schöpft.

    "Für mich bedeutet La Goutte d'Or Entschleunigung. Wenn man vom anderen Ende von Paris hier ankommt, wird alles langsamer. Beleibte Frauen schieben sich mit zwei Kilometern pro Stunde durch die Straßen und halten unterwegs stundenlang an, um sich zu unterhalten. Das macht Spaß und es tut gut. Besonders wenn man in einer Stadt wie Paris wohnt, wo alle gehetzt sind und hinter irgendwas herrennen und man vergisst, dass diese Hetze eigentlich gar kein Zwang ist."

    Ein Weltdorf sei das hier, sagt Anne, ein Dorf und gleichzeitig die ganze Welt.

    "Wir sind im Zentrum von Paris, von Bamako, von Dakar. Und das ist toll. Wir haben Glück!"

    La Goutte d'Or ist ein traditionelles Arbeiterviertel. Mitte des 19. Jahrhunderts kamen viele Arbeiter aus ärmeren Gebieten Frankreichs, aber auch aus Polen und Italien um beim Bau des angrenzenden Nordbahnhofs mitzuhelfen. Dominiert wurde das Viertel aber von Frauen. Und die machten damals vor allem eines: Waschen!

    "Das Viertel gehörte den Wäscherinnen und die Maler von Montmartre kamen hierher, um ihnen den Hof zu machen. Es gab hier ja nur Frauen."

    Auch das Theater, in dem Anne arbeitet, war früher mal ein Waschhaus. Seinen Namen hat es behalten: Le lavoir moderne – Die moderne Wäscherei. Der französische Schriftsteller Émile Zola hat auf einem seiner Streifzüge durch das Viertel festgehalten, was er hier 1875 zu Gesicht bekam:

    "Entlang der Allee aus Waschbrettern standen Frauen mit bis zu den Schultern nackten Armen, entblößten Hälsen und gekürzten Röcken, unter denen farbige Strümpfe und geschnürte Stiefel hervorblitzen. Sie walkten die Wäsche wie die Berserker, lachten, lehnten sich zurück, um in den Höllenlärm hineinzuschreien, lehnten sich über ihre Kübel, ordinär und schlaksig, die Haut rot und dampfend."

    Auch musikalisch wurde die Zeit der Wäscherinnen festgehalten. Aristide Bruant, einer der Sänger der sagenumwobenen Pariser Kabaretts des auslaufenden 19. Jahrhunderts, schrieb ein Lied über die schönen Wäscherinnen der Goutte d'Or und ihre Männergeschichten.

    Heute zählt das Viertel zu den "Zones de securité renforcé" - Gebiete mit erhöhter Sicherheitsstufe, das heißt: verdoppelte Polizeipräsenz. Schon Jacques Chirac rückte La Goutte d'Or in seiner Zeit als Pariser Bürgermeister in den Blickwinkel des politischen Diskurses. In einer viel kritisierten Rede von 1991, bekannt geworden als die Rede von Orléans, sprach Chirac von einer Überdosis der muslimischen und schwarzafrikanischen Immigration. Er brachte Argumente vor, die man bis dahin nur von der rechtsextremen Partei Le Front National kannte.

    Die angeblich so verschiedene Lebensweise und Arbeitsmoral dieser Einwanderer müsse den französischen Arbeiter doch verrückt machen, meinte Chirac, vor allem, wenn dann noch der Lärm und der Geruch des Viertels hinzukomme.

    "Le bruit et l’odeur" - der Lärm und der Geruch – das gleichnamige Lied der Rockgruppe Zebda rechnet mit den Worten Chiracs ab.
    Die meisten Einwanderer könnten sich auch Schöneres vorstellen, als im Krieg Kanonenfutter zu sein oder mit dem Vorschlaghammer Straßen aufzureißen. Eine Doktorarbeit zu schreiben sei mit Sicherheit die angenehmere Beschäftigung.

    Im Theater von Anne gibt es keinen Sicherheitsmann. Probleme hätten sie deshalb noch nie gehabt, im Gegenteil, die Beziehungen mit den Leuten aus dem Viertel seien gut. Den Sinn der erhöhten Polizeipräsenz und das Vorgehen der Beamten versteht Anne nicht.

    "Man sieht häufig wie Maronen- oder Erdnussverkäufer festgenommen werden – klar, das sind sehr gefährliche Leute. Zwei Straßen weiter passieren viel zwielichtigere Dinge und Ihr nehmt den Erdnussverkäufer fest. Das sehen die Leute hier jeden Tag. Das rückt die Polizei nicht in ein sehr wirkungsvolles Licht. Die Leute sagen, lasst doch den armen Straßenverkäufer in Ruhe, er tut doch niemandem weh. Ja o. k., er verstößt vielleicht gegen das Gesetz und vielleicht hat er auch keine Papiere, aber er tut niemandem etwas zuleide. Und zehn Meter weiter wird vielleicht gerade mit Drogen gedealt und alle sehen es nur die Polizei nicht. Zumindest hat es den Anschein."

    Anne glaubt an die Veränderung von Sozialstrukturen durch Kultur, aber dafür braucht es Geld. Das Lavoir Moderne zum Beispiel veranstaltete lange ein Theaterfestival für Kinder, das regen Anklang im Viertel fand. Aber leider fielen in den letzten Jahren immer mehr Subventionen weg, sodass aufgrund eines Mietrückstandes vergangenes Jahr der Mietvertrag platzte. Seitdem wird das Theater von Künstlern wie den Tetes Raides, die im Hintergrund proben, besetzt.

    Vor nicht allzu langer Zeit allerdings investierte die Stadt Paris noch in den Aufbau von kulturellen Strukturen in La Goutte d'Or. Direkt neben der 1999 eröffneten Stadtteilbibliothek öffnete 2008 ein Musikzentrum seine Tore, benannt nach der französischen Chanson-Sängerin Barbara.

    Lucie, die quirlige blonde Pressefrau des Zentrums, empfängt mich in der Eingangshalle. Hier liegen blaue und grüne Plastikteppiche auf dem Boden, ein Baldachin mit buntem Perlenvorhang, mehrere Sofas und Sessel laden zum Verweilen ein.

    Die Stimmung ist freundschaftlich-familiär, ein bisschen geht es zu wie im Bienenstock. Das Zentrum begleitet junge Musikgruppen aus ganz Frankreich auf ihrem Weg zur Professionalisierung. Gleichzeitig gibt es zwei Räume, die ausschließlich Kulturvereinen aus dem Viertel zur Verfügung stehen. In dem einen findet gerade ein Ballettkurs für Kinder statt.

    Und gleich nebenan hat Alexandrine eine Gesangsstunde.

    Haben die Leute von außerhalb Vorurteile gegen das Musikzentrum, weil es im Viertel La Goutte d'Or liegt? Karime, der Zuständige für Musikpädagogik, bestreitet das - mit einem kleinen Vorbehalt:

    "Manche Leute glauben, dass es hier nur Hip-Hop gibt, weil La Goutte d’Or ein bisschen was von den Banlieus hat, obwohl es innerhalb von Paris liegt. Aber das stimmt nicht. Viele Gruppen aus dem Viertel, die hierher kommen, machen französische Chansons oder Rock oder auch Hip-Hop – aber eben nicht nur! Das ist hier ein Viertel wie andere in Paris. Ich habe lange im 13. Arrondissement gelebt, das ist das chinesische Viertel. Das kommt hier öfter vor, dass verschiedene ethnische Gruppen zusammenleben. Das hat vielleicht eine exotische Seite, aber das ändert nichts daran, dass die Leute hierherkommen, um Musik zu machen oder in ein Konzert zu gehen. Ich bekomme kein Feedback speziell wegen des Viertels."

    Lucie nickt ihrem Kollegen mit dem wilden Lockenkopf bestätigend zu. Und die Band Lili after Midnight, die gerade im großen Studio für den nächsten Auftritt probt, interessiert sowieso nur eins: der Sound!