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Nicht nur Balkanfolklore

Saša Stanišic hört es nicht gern, wenn man ihn mit Emir Kusturica vergleicht. Er ist kein Fan seines berühmten Landsmannes. Und doch gibt es in Stanišics Debütroman "Wie der Soldat das Grammofon repariert" Szenen, die aus einem Kusturica-Film stammen könnten - turbulente Szenen, in denen getanzt, gezecht und viel geredet wird, Szenen aus einer archaischen Welt mit einer skurrilen Sippschaft: Omas, Opas, Tanten und Onkel, die die Feste feiern, wie sie fallen.

Von Ralph Gerstenberg | 15.12.2006
    Balkanfolklore eben, die den westlichen Vorstellungen vom Leben im ehemaligen Jugoslawien entspricht. Doch Stanišic spielt mit diesem Erwartungsmuster, indem er es viel zu vorbildlich bedient, um dann eine seiner Figuren pointiert bemerken zu lassen, dass die Leute im Westen immer dächten, hier würde ständig gefeiert, man müsse aber auch mal aufräumen. Und mitten im schönsten Fest poltert die reale Bedrohung in Form eines bewaffneten serbischen Nationalisten in die scheinbar heile Welt der ausgelassenen Dorfgemeinschaft.

    Aus! Aus die Musik! Gespielt wird jetzt, was ich befehle!, befiehlt Kamenko und tritt nach der Trompete. Hat unser Volk Schlachten gewonnen, damit Zigeuner auf unsere Lieder scheißen? Ich will ... unsere Musik! Lieder aus der ruhmreichen Zeit, die war und die wieder kommen wird! Kamenko schlägt sich mit der freien Hand gegen die Brust."

    Stanišic lässt seinen Roman in der Vorkriegszeit beginnen. Der Ich-Erzähler Aleksandar wächst wie Stanišic in der bosnischen Stadt Višegrad auf. Er ist ein passionierter Angler und Geschichtenerzähler. Das Talent zum Fantasieren und Fabulieren hat er von seinem Opa Slavko geerbt, einem glühenden Anhänger des Chefgenossen Tito. Der Großvater stirbt im August 1991, genau in den 9,86 Sekunden, in denen Carl Lewis in Tokio einen neuen Weltrekord im 100-Meter-Lauf aufstellt. Die Welt ist dabei, sich zu verändern. Nach dem Zusammenbruch des Sozialismus beginnt der Vielvölkerstaat am Balkan auseinander zu brechen. Der nunmehr opalose Aleksandar fühlt sich dem Erbe seines Großvaters verpflichtet, der in einer Welt gelebt hat, in der alles Wichtige im kommunistischen Manifest oder in der Morgenzeitung stand, einer Welt also, die gerade in Rekordgeschwindigkeit verschwindet. Selbst die Geschichten, von denen Saša Stanišic in seiner Kindheit ebenso fasziniert war wie seine Hauptfigur Aleksandar, scheinen nicht mehr die alte Magie zu besitzen, um die unguten Geister der Gegenwart in Schach zu halten.

    "Was das Geschichtenerzählen an sich angeht, das ist bei uns ne Art Charaktereigenschaft tatsächlich. Je mehr Geschichten man kennt, desto angesehener ist man oder bzw. war man. Inzwischen haben sich die Zeiten so dermaßen geändert, dass die Leute durch diese Überflutung durch das Fernsehen viel weniger erzählen als früher, als es nur zwei Kanäle gab, die auch noch gleichgeschaltet waren. Ich kann mich erinnern, wenn meine Großeltern etwas erzählt haben, dann kamen Kinder dazu und haben sich hingesetzt und haben zugehört. Das ist fast oriental. Und je mehr Geschichten man kannte, umso angesehener war man in der Familie und im Bekanntenkreis. Und das habe ich so ein bisschen versucht zu spiegeln in dem Buch, dass der Aleksandar das als eine Ehrensache ansieht, Geschichten zu sammeln. Und je skurriler, je abgefahrener sie sind, desto wohler fühlt er sich. Er sagt ja: "Da wo ich bin, da sollen auch Geschichten sein."

    Mit dem Einbruch des Krieges in Višegrad verändern sich auch die Geschichten. Während das erste, in der Vorkriegszeit spielende Drittel noch randvoll ist mit sauklugen Ferkeln, Hyazinthenhaaren und bärtigen Fischen, kapituliert die Fantasie vor der Allgegenwart der Bedrohung und der Gewalt in den Kriegskapiteln. Das Erzählen wird zu einem Bericht des Unfassbaren. Aleksandar flieht wie Saša Stanišic nach wenigen Tagen mit seinen Eltern aus der belagerten Stadt nach Deutschland. Mit dem Verlust der Heimat verliert er auch die Fähigkeit zum Geschichtenerzählen.

    "Ich hab mich erinnert, wie es mir ging erinnert, wie schlecht es mir ging in der ersten Zeit hier in Deutschland, wie unfähig ich war, irgendwas zu erzählen, was nicht mit dem Krieg zu tun hatte, und wie schwer es mit gefallen ist, banale Gespräche zu führen. Und wie das Sprechen uns allen schwer fiel. Es war ein riesengroßes Schweigen. Es kann einfach nicht normal weitergehen. So ein Ereignis verändert einfach ein Kind. Und das wollte ich auch in der Art und Weise, wie erzählt wird, charakterisieren. Es konnte nicht mehr so üppig sein und konnte nicht mehr so voller Leben stecken. Ganz klar, die Inhalte verändern sich ja auch. Und erst später im letzten Drittel findet er wieder so langsam zu diesem Sammeln und zum Erzählen. Das ist natürlich eine ganz andere Sprache und ein ganz anderer Blick, aber das war mein Anliegen: Der Krieg, der die Geschichten zersprengt und ins Fragmentarische führt."

    Nach der Flucht aus Bosnien schreibt Aleksandar Briefe an seine zurückgebliebene Freundin Asija. Es sind Berichte aus einer fremden Welt.

    "Heute Nacht hörte ich Mutter schlafend seufzen, sie wachte mit verkrustetem Blut unter der Nase auf. Mit den Nachbarn gibt es Probleme, weil wir in ihrer Nähe sind und sie diese Nähe nicht möchten. Hätte man auch ihnen einen Krieg gegeben, hätten sie sofort auf uns geschossen. Religion ist nicht das Opium des Volkes, sondern sein Untergang. Sagt jedenfalls mein Vater. Ein Junge aus der Straße nannte mich einen Bastard. Meine Mutter habe mein serbisches Blut vergiftet. Ich wusste nicht, ob ich ihn dafür zusammenschlagen sollte oder trotzig und stolz sein. Ich war weder trotzig noch stolz, und wurde zusammengeschlagen.

    Aleksandars Mutter ist bosnische Muslime, sein Vater Serbe - biografische Details, die Saša Stanišic mit seiner Hauptfigur teilt. Nach Kriegsende will Aleksandars Familie nicht nach Bosnien zurückkehren. Ihre Heimat, die sie verlassen musste, existiert nicht mehr. Die Eltern sollen zur so genannten "freiwilligen Rückkehr" gezwungen werden und wandern in die USA aus. Aleksandar bleibt in Deutschland, um das Abitur fertig zu machen. Wenn er sich an Višegrad erinnert, sieht er ein Bild von Tito in seinem alten Klassenzimmer hängen. Auch Stanišics Arbeit am Roman begann mit Erinnerungen.

    " Es gab ein Gespräch mit meiner Mutter Irgendwie kamen wir auf irgendwelche Freunde von mir, die damals mit mir in die Schule gegangen sind und an die ich mich nicht erinnern konnte. Und meine Mutter hat gesagt: "Saša, das geht nicht an. Du kannst nicht vergessen. Du musst versuchen, dich zu erinnern. So gut es geht." Und mich hat es gerührt, dass ich soviel verdrängt hatte und wirklich liebend gerne vergessen hätte. Und dann habe ich angefangen, so eine Art nachträgliches Tagebuch zu führen. Mich zu zwingen, mich zu erinnern, und das schriftlich festzuhalten. Ab da, ich glaube 2001, habe ich angefangen zu sammeln. Also erst einmal waren es meine eigenen knallharten Erinnerungen, soweit das ging. Dann habe ich schon gemerkt, ich ergänze das durch Ausgedachtes. Und irgendwann habe ich mir gesagt: Saša mach dir nichts vor, du musst hier erzählen, dir geht's nicht um das Persönliche, du willst deine Geschichte als eine überpersönliche, globale Sache erzählen, die Flucht im Allgemeinen thematisiert und den Verlust und die Verlustbewältigung, auch das psychologische Spiel: Was macht der Krieg mit einem Kind?" "

    Zehn Jahre nach der Flucht besucht Aleksandar noch einmal seine Heimatstadt. Zuvor hat er eine Reihe von Listen erstellt, Listen, auf denen er seine Erinnerungen notiert hat, die er nun vor Ort mit der Realität abgleicht. Als er bemerkt, dass kaum ein Bild aus der Gegenwart mit dem, was er in seinem Gedächtnis bewahrt hat, übereinstimmt, fühlt er sich fremd an dem Ort, der mal seine Heimat gewesen ist.

    "Ich habe Listen gemacht. Die Moscheen. Eine der beiden soll wieder aufgebaut werden. Es gibt konkrete Pläne dafür und konkrete Proteste dagegen. An den Kastanien, nicht weit von dem Platz, wo das Minarett der größeren Moschee in den Himmel wies, hängen wie früher die Todesanzeigen. Die grün umrandeten mit arabischen Schriftzeichen und die schwarz umrandeten mit dem Kreuz. Es steht vierzehn zu eins für die toten Christen. Nur wenige Muslime sind in ihre Häuser zurückgekehrt."

    "Eigentlich kann sich niemand wirklich vorstellen, dass nach zehn Jahren, nach einem so alles umstürzenden Ereignis alles noch so vorzufinden ist, wie es war. Aber er wünscht sich das. Er erstellt diese Listen der Erinnerungen. Er schreibt sich Namen seiner Freunde auf, die Spiele, die sie gespielt haben, alles Mögliche, bis zu Namen von Fischen, die er gefangen hat im Fluss. Er versucht, das wieder vorzufinden, er würde das gerne wieder vorfinden. Natürlich weiß er das, natürlich weiß das auch der Leser, dass das nicht so sein wird. Aber mich hat das interessiert, weil das Gleiche habe ich nämlich auch gemacht. Bei meiner letzten Recherchereise habe ich versucht, auch solche Listen zu machen und dann quasi detektivisch vorzugehen, zu erkunden, was mit diesen Menschen passiert ist bzw. was mit den Orten passiert ist. Wie sind sie heute? Sie dann auch zu beschreiben, um dann festzustellen, dass sich dort alles, aber auch wirklich alles, verändert hat. Das ist eine vollkommen umgewandelte Stadt. Man kehrt nicht zurück, denn das würde ja heißen, man kommt an einen Ort, wo man schon mal war. Für mich war er so fremd - und für Aleksandar auch -, dass es ein Neuanfang wäre, also keine Rückkehr, sondern man geht zu einem ganz neuen Ort."

    Mit dieser Erkenntnis endet der Roman von Saša Stanišic, dem es gelungen ist, für seine Geschichte von Krieg und Flucht, Heimatverlust und Orientierungssuche eine eigenwillige, aber durchaus sinnfällige und behutsame Erzählweise zu finden. Tagebuchnotizen, Briefe, Erlebnisberichte und ein Buch im Buch werden in die Geschichte eingearbeitet, so dass die Spannung zwischen Vergangenheit und Gegenwart, Erinnerung und Wahrnehmung stets spürbar bleibt. Außerdem ist es ein Glücksfall, dass sich Stanišic, der am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig studiert, entschlossen hat, das Buch nicht in seiner Muttersprache, sondern auf Deutsch zu verfassen. So stößt man auf wunderbar poetische Formulierungen wie "Fähigkeitenzauberer" oder "Chefgenosse des Unfertigen". An anderer Stelle ist jemand "taub wie eine Kanone". Zudem verschmilzt Saša Stanišic die beiden Kulturen, die inzwischen Teil seiner Identität geworden sind, indem er dem Leser auf Deutsch das Gefühl gibt, dass in der Geschichte Bosnisch gesprochen wird.

    " "Und es wird ja auch Bosnisch gesprochen. Es gibt nur eine einzige Stelle, da wird's auch gekennzeichnet, wo Aleksandar sagt: "Und ich sage es auf Deutsch." Das heißt, der Rest des Buches ist eine sprachliche Illusion, also der größtmögliche fiktionale Anteil an dem Buch ist die Sprache selbst. Alle Geschichten und alle Dialoge sind eigentlich im Bosnischen, aber nein, sie sind im Buch eigentlich im Deutschen. Da war ich mir auch bewusst, dass das auch zu einem Verlust führen kann, aber dadurch, dass es mir wichtiger ist, eine Aussage zu transportieren, und nicht unbedingt authentisch zu erzählen, war es dann klar: Okay, Deutsch und nichts anderes."

    Saša Stanišic "Wie der Soldat das Grammofon repariert", Luchterhand Verlag, 320 Seiten kosten 19,95 €. Eine Hörspielversion ist bei Random House erschienen und kostet 17,95 Euro