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Nicht nur hilflose Befehlsempfänger

Ausgehend von Abhörprotokollen der US-Army verfolgt Felix Römers differenzierte Studie die Karrieren einzelner Wehrmachtssoldaten. Der Historiker zeigt: Je länger sie insbesondere an der Ostfront kämpften, desto mehr stumpften sie ab. Dem Kriegsgeschehen waren sie jedoch nicht immer ohnmächtig ausgeliefert.

Von Otto Langels |
    "Die Akten kommen aus dem US-amerikanischen Verhörlager Fort Hunt bei Washington. Dort haben die Amerikaner während des Zweiten Weltkriegs ca. 3000 deutsche Kriegsgefangene interniert und in ihren Zellen heimlich belauscht durch versteckte Mikrofone."

    Berichtet der Historiker Felix Römer. Er hat als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Universität Mainz den Aktenbestand von über 100.000 Seiten im amerikanischen Nationalarchiv in monatelanger Arbeit abfotografiert und akribisch ausgewertet. Seine eindrucksvolle Studie erlaubt eine differenzierte Sicht auf das Innenleben der Wehrmacht, da das Material nicht anonymisiert wurde. Insofern sind die Unterlagen aussagekräftiger als die namenlosen Abhörprotokolle deutscher Kriegsgefangener in britischem Gewahrsam, die Sönke Neitzel und Harald Welzer für ihr im vorigen Jahr erschienenes Buch "Soldaten" ausgewertet haben. Der US-Nachrichtendienst hörte die deutschen Gefangenen nicht nur ab, sondern befragte sie auch zu Themen wie Kameradschaft, Kampfmoral, Ideologie und Kriegsgeschehen.

    "Da waren doch Erschießungen am laufenden Band, da gab es die 12-Mark-Zulage, 120 Kronen am Tag für die Erschießungskommandos."

    Erzählte der SS-Oberscharführer Fritz Swobada seinem Vernehmungsoffizier über die Teilnahme an Massen-Erschießungen im Mai 1942, eine Vergeltungsaktion für das Prager Attentat auf Reinhard Heydrich, den Leiter des Reichssicherheitshauptamtes und sogenannten Reichsprotektor in Böhmen und Mähren.

    "Da haben wir nichts anderes gemacht, also die Gruppen von zwölf Mann haben jeweils sechs Mann umgelegt. Da habe ich vielleicht 14 Tage lang nichts anderes gemacht. Und da haben wir doppelte Verpflegung gekriegt. Das ging auf die Nerven, und dann wurde man stur, dann war es egal."

    Swobada war zum Zeitpunkt der Massenmorde 20 Jahre alt. Die Amerikaner legten zu jedem Wehrmachtssoldaten eine Akte mit Vernehmungs- und Abhörprotokollen sowie einem detaillierten Personalbogen an, damals ein enormer bürokratischer Aufwand, aber heute eine Fundgrube für Historiker. So standen Felix Römer aussagekräftige Quellen zur Herkunft, Mentalität und individuellen Motivlage von 3000 deutschen Kriegsgefangenen zur Verfügung:

    "Jetzt können wir sehen, dass die meisten Soldaten eigentlich ein eher oberflächliches politisches Bewusstsein hatten. Das hieß aber nicht, – das können wir hier sehr deutlich sehen in den Akten von Fort Hunt, weil es dort auch politische Meinungsumfragen unter den Wehrmachtsangehörigen gab – dass sie politisch neutral waren, sondern bei den meisten Soldaten bestand ihre politische Einstellung einfach in der Loyalität zu Hitler und dem NS-Staat."

    Auch wenn die Wehrmacht keine durch und durch politische Armee war, so war sie doch an wichtigen Stellen mit überzeugten Anhängern des NS-Regimes besetzt. Viele Truppenführer und Unteroffiziere spielten eine tragende Rolle und dienten als Vorbild.

    Felix Römer: "Und in diesem harten Kern der Wehrmacht fanden sich besonders viele Männer, die dem Regime besonders loyal gegenüber standen, die sich über das geforderte Maß hinaus mit ihrer Rolle als Soldaten identifizierten. Deshalb war die Wehrmacht auch so erfolgreich, so effektiv, deshalb hielt sie bis zum Schluss so stark zusammen. Und in vielen Situationen machten eben solche einzelnen Führungsfiguren auch den Unterschied."

    "Die Wehrmacht von innen" hat Felix Römer seine Studie im Untertitel genannt. Auf 500 Seiten löst der Autor, der bereits mit einer Arbeit über den Kommissarbefehl und die NS-Verbrechen an der Ostfront auf sich aufmerksam machte, die Ankündigung überzeugend ein. Ausgehend von seinen eigenen Großvätern, die in der Wehrmacht dienten, verfolgt der 34-jährige Historiker die militärischen Karrieren und Einsätze einzelner Soldaten - zum Beispiel die des SS-Oberscharführers Fritz Swoboda, der sich, geprägt durch seine Jahre in der Hitlerjugend und Waffen-SS, zum skrupellosen Gewalttäter entwickelte.

    "Er wurde schon 1939 eingezogen, hat dann Feldzüge mitgemacht in Frankreich, auf dem Balkan, in der Sowjetunion mit der Waffen-SS-Division "Reich", ist dann an der Westfront schließlich in Gefangenschaft geraten. Und im Verhörlager Fort Hunt erzählt er über eine ganze Reihe von Kriegsverbrechen, an denen er beteiligt war. Und es gab also, so könnte man bilanzierend sagen, eigentlich kein Kriegsverbrechen, an dem er nicht beteiligt war. An den Soldaten dieser HJ-Generation, da sieht man ganz deutlich, dass die Indoktrination, die Sozialisation, die Erziehung im NS-Deutschland tatsächlich einen Unterschied machte in der Art und Weise, wie die Soldaten sich zum NS-Regime stellten."

    Aus solchen Biografien destilliert Felix Römer Verhaltensmuster, ideologische Prägungen und individuelle Intentionen. Es waren eben nicht nur das militärische Wertesystem und die soziale Nahwelt des Kriegsgeschehens, wie Neitzel und Welzer in ihrem Buch "Soldaten" konstatierten, die Denken und konkretes Handeln der Wehrmachtsangehörigen bestimmten. Rund zwei Drittel der Befragten in Fort Hunt äußerten sich positiv zu Hitler. Unter den jüngeren Gefangenen, der sogenannten HJ-Generation, betrug die Zustimmungsrate Dreiviertel.

    "Wir haben im Anfang keine russischen Gefangenen gemacht."

    Berichtete der Flak-Oberst Fritz Sandrart in Fort Hunt einem Zellenkameraden.

    "Der Führer hat doch selber gesagt, das sind keine Menschen, das sind Bestien."

    Der ideologisch vorbereitete und propagandistisch begleitete Krieg gegen die sogenannten "slawischen Untermenschen" lieferte den Wehrmachtsangehörigen die Legitimation für ihr brutales Vorgehen. Zugleich aber beeinflusste der Kriegsschauplatz ihr Handeln: Je länger Soldaten an der Front kämpften, zumal an der Ostfront, wo die Wehrmacht einen Vernichtungskrieg führte, desto mehr stumpften sie ab und umso stärker beteiligten sie sich an Kriegsverbrechen. Soldaten, die von der Ost- an die Westfront verlegt wurden, gingen dort härter und radikaler vor als ihre Kameraden, die nicht im Osten gekämpft hatten.

    Felix Römer: "Es wird aus diesen Quellen ganz deutlich, dass die Situation überragende Bedeutung hat und man das Handeln der Soldaten ohne diese Situation gar nicht verstehen kann. Das bildet eben den Rahmen für alles, was passiert. Aber trotzdem können wir in den Abhörprotokollen immer wieder nachvollziehen, wie die Soldaten trotzdem die Situation erst einmal wahrnehmen und auch verschiedene Handlungsoptionen abwägen."

    Mit dem vorliegenden Buch hat Felix Römer nicht nur einen voluminösen Aktenbestand in einer übersichtlichen, gut lesbaren Studie komprimiert. Er bereichert auch die historische Debatte, ob die Wehrmachtssoldaten Getriebene und hilflose Befehlsempfänger in einem ihnen aufgezwungenen Krieg waren, oder ob sie bewusst und aus Überzeugung zu Mördern wurden. Der Autor löst diesen scheinbaren Gegensatz durch einen dynamischen Erklärungsansatz auf: Der einzelne Soldat war dem Militärapparat und dem brutalen Kriegsgeschehen zwar unterworfen, aber nicht immer ohnmächtig ausgeliefert wie zum Beispiel Neitzel und Welzer in ihrer Studie nahe legen. Felix Römer schreibt dem einzelnen Akteur eine gewisse Individualität und Autonomie zu und damit auch eine persönliche Verantwortung für Gewaltexzesse.

    "Ich hab' da vorn gelegen, da war so hohes Gras, da kommen zwei Amerikaner."

    Erzählte der Fallschirmjäger Wilhelm Hevekerl einem Zellenkameraden in Fort Hunt von seinem Einsatz in der Normandie.

    "Ich denke, lass sie nur rankommen, dann kann ich sie besser treffen. Wie sie auf zehn Meter ran sind, sehe ich, dass sie eine Rote-Kreuz-Binde tragen. Jetzt ist es Scheiße."

    Hevekerl dachte einen Moment über die Situation nach und beschloss dann, nicht zu schießen. Dem Soldaten blieben – so zeigt Felix Römer - durchaus manchmal Handlungsspielräume, die über Leben und Tod entscheiden konnten.

    Felix Römer: Kameraden. Die Wehrmacht von innen.
    Piper Verlag 2012, 544 Seiten, 24,99 Euro
    ISBN: 978-3-492-05540-6