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"Nichtbürger" in Lettland
Den lettischen Pass gibt's nur mit Sprachtest

Aus Zweifel an der Loyalität der russischsprachigen Minderheit hat Lettland nach dem Ende der Sowjetunion nicht alle Einwohner eingebürgert, sondern den Status des "Nichtbürgers" eingeführt. Wer den lettischen Pass haben will, muss einen Sprachtest bestehen - viele Ältere scheitern daran.

Von Gesine Dornblüth | 14.01.2020
Angehörige der russischsprachigen Minderheit in Lettland gedenken am sowjetischen Siegesdenkmal in Riga dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Sieg Russlands über Nazi-Deutschland
Angehörige der russischsprachigen Minderheit in Lettland gedenken am sowjetischen Siegesdenkmal in Riga des Endes des Zweiten Weltkriegs und des russischen Sieges über Nazi-Deutschland (AFP/ Ilmars Znotins)
Ein Bürogebäude abseits des Rigaer Stadtzentrums. "Behörde für Angelegenheiten der Staatsbürgerschaft und Migration" steht auf der Glasfassade. Im Erdgeschoss ein großer Saal, Wartebänke, Schalter. Am Informationstresen gibt eine Frau Auskunft auf Lettisch, Russisch, Englisch.
Ein junger Mann im Anzug kommt aus dem Treppenhaus. Girts Pommers ist Sprecher der Behörde. Und er versteht nicht so richtig, was an dem Thema interessant sein soll: an "Nichtbürgern" und der Frage ihrer Einbürgerung.
Dieser Beitrag gehört zur fünfteiligen Reportagereihe Bürger oder Besatzer? Lettland und seine russischsprachige Minderheit
Im Fahrstuhl geht es nach oben. Auch in Estland gibt es "Nichtbürger", dort leben allerdings weniger Russischsprachige als in Lettland. Und Litauen hat als einziger der drei baltischen Staaten allen Bewohnern bei der Unabhängigkeit die Staatsbürgerschaft gegeben. In Litauen lag der Anteil der Russischsprachigen aber auch unter zehn Prozent und nicht bei einem Drittel, wie in Lettland.
Leute über 40 haben Probleme mit dem Sprachtest
"Es ist so schwer, den richtigen Weg zu finden", sagt Pommers. Er meint damit nicht den Umgang mit der russischsprachigen Minderheit, sondern die Gänge in der Behörde. Es ist ein Labyrinth. Das Büro von Tamara Dementjeva ist am Ende eines langes Ganges. Sie teilt sich das Eckzimmer mit drei Kolleginnen, blickt über die Straße auf einen alten Wasserturm. Computer, Akten, zwischen den Schreibtischen eine Grünpflanze.
Tamara Dementjeva bearbeitet seit 20 Jahren Einbürgerungsanträge. Wer immer in Lettland Staatsbürger werden will – die Akte geht über ihren Schreibtisch: "Aber vorher hole ich Auskünfte bei 17 Behörden ein."
Sie prüft, ob die Angaben im Antrag korrekt sind, ob der Antragsteller Vorstrafen oder eine andere Staatsbürgerschaft hat – denn das wären Hinderungsgründe. Zentral aber ist der Sprachtest. Tamara Dementjeva nimmt einen großen Stapel Akten von einem Hocker, legt ihn auf den Tisch und schlägt die oberste Mappe auf:
"Das hier wird eine Absage. Die Person ist nicht zum Sprachtest erschienen. Sie ist Jahrgang 1961. Leute über 40 haben Probleme. Sie haben meist in der Schule nicht gut oder gar nicht Lettisch gelernt."
Nichtbürger zu sein, hat auch Vorteile
Viele Gemeinden in Lettland bieten kostenlose Sprachkurse für Einbürgerungswillige an. Der Andrang ist groß, die Plätze reichen nicht für alle. Tamara Demetjewa blättert durch die übrigen Akten. Alle anderen Anträge in dem Stapel hat sie bewilligt. In Kürze werden die Kandidaten zu einer Einbürgerungsfeier eingeladen. Die Urkunden mit dem Treueschwur sind bereits geschrieben.
Die Neubürger geloben der lettischen Republik Treue, versprechen, die Verfassung und die Gesetze zu achten und zu schützen und die Unabhängigkeit Lettlands zu verteidigen. 150.000 Menschen haben das Verfahren seit der lettischen Unabhängigkeit durchlaufen. Rund um den EU-Beitritt Lettlands 2004 war der Andrang besonders hoch, damals ließen sich bis zu 20.000 Menschen im Jahr einbürgern. Inzwischen hat sich die Zahl eingependelt auf rund tausend im Jahr. Rund zehn Prozent der Bevölkerung leben immer noch mit dem "Nichtbürger"-Status. In Riga ist ihr Anteil am höchsten.
Die Behörde hat Umfragen gemacht, sie wollte von den "Nichtbürgern" wissen, weshalb sie sich nicht einbürgern lassen. Etwa jeder Fünfte sagte, er habe Angst vor dem Sprachtest. Rund 40 Prozent finden, ihnen stehe die Staatsbürgerschaft automatisch oder über ein vereinfachtes Verfahren zu. Nicht zuletzt biete es aber auch Vorteile, "Nichtbürger" zu sein, erläutert Dementjewa:
"Sie brauchen kein Visum für Russland und Weißrussland. Das ist einer der wichtigsten Gründe, weshalb die Leute sich nicht einbürgern lassen. Sie haben Verwandte in Russland, manchmal sind es die Großeltern, die Kinder verbringen dort die Ferien. "Nichtbürger" brauchen weder für die EU-Staaten noch für den Osten ein Visum. Insofern sind sie sogar besser gestellt als die lettischen Staatsbürger."
"Sie sollten die bewusste Wahl treffen, Bürger zu werden"
Dementjewa geht nicht davon aus, dass sich die Einbürgerungspolitik Lettlands noch einmal grundlegend ändert. Es steht nicht auf der Tagesordnung. War es richtig, nicht alle Einwohner sofort nach der Unabhängigkeit Lettlands zu Staatsbürgern zu machen, anders als das Nachbarland Litauen? Tamara Dementjewa nickt. Sie schlägt vor, auch einen Kollegen mit russischen Wurzeln zu fragen. Sie selbst kommt aus einer lettischen Familie, wie die meisten Mitarbeiter der Behörde.
Rolands Timmermans arbeitet ein paar Türen weiter. Er hat in Riga Politikwissenschaft studiert und wurde selbst eingebürgert. Er sieht es wie Dementjewa: Man habe sich der Loyalität der Russischsprachigen nach dem Ende der Sowjetunion nicht sicher sein können.
"Es war ein Kompromiss: Die Russischsprachigen wurden nicht ausgegrenzt, sondern bekamen die Möglichkeit, legal in Lettland zu leben und die Staatsbürgerschaft auf dem Weg der Einbürgerung zu bekommen. Der Staat hat dafür alle Bedingungen geschaffen. Sie sollten die bewusste Wahl treffen, Bürger zu werden."