Die italienische und die chinesische Raumfahrtbehörde betreiben ein gemeinsames Forschungsprojekt. Ziel ist es, jenseits der Erde, irgendwo im Weltraum Hinweise zu bekommen, wie Erdbeben entstehen. Das Projekt trägt den Namen "Matteo Ricci", in Erinnerung an den berühmten italienischen Jesuiten, der zwischen 1582 und 1610 in Peking lebte, wo er auch starb. Ricci wirkte dort als katholischer Missionar, war Mathematiker, Kartograf und Sinologe, also Experte der chinesischen Sprache.
"Longobardo hatte Aristoteles und Seneca studiert"
Matteo Ricci gilt als der berühmteste katholische Missionar im Reich der Mitte. Doch so berühmt er auch war: Mit Erdbeben hatte Ricci nichts zu schaffen. Eigentlich müsste das italienisch-chinesische Forschungsprojekt den Namen von Nicola Longobardo tragen, meint die italienische Sinologin Silvia Toro. Sie erforscht im belgischen Leuven Leben und Werk dieses vergessenen Jesuiten - und vor allem auch sein Erdbebentraktat:
"Longobardo beginnt sein Traktat zu den Erdbeben in wissenschaftlicher Vorgehensweise, wie es damals in Europa üblich war. Er lebte zwischen 1559 und 1654 und er kannte sehr gut die Schriften seines Zeitgenossen Galileo Galilei und seine wissenschaftliche Methode. Und er hatte Aristoteles und Seneca studiert, die bereits über Erdbeben geschrieben hatten."
Silvia Toro hat Nicola Longobardos "Trattato sui terremoti", das Traktat zu den Erdbeben, übersetzt. Es handelt sich um die erste Übersetzung dieser Schrift ins Italienische. Denn der Jesuit hat es in Peking auf Chinesisch verfasst. Die Übersetzung, die jetzt erschienen ist, sorgt in italienischen Forscherkreisen für Aufsehen und Interesse. Silvia Toro belegt im Vorwort zu ihrer Übersetzung, wie geschickt der aus dem sizilianischen Caltagirone stammende Longobardo vorgegangen ist und wie es dem gebildeten Jesuit gelang, die Intellektuellen und Führungseliten des chinesischen Reiches auf sich aufmerksam zu machen.
Gase statt Drachen
Ein schweres Erdbeben war der Anfang. Da begann Nicola Longobardo mit der Niederschrift seines Traktats. Zunächst erklärten die Chinesen sich dieses Beben mit der Präsenz eines riesigen Drachens oder einer ebenso großen Schildkröte, die unterhalb der Erdoberfläche lebt. Immer dann, wenn sie mit dem Tun der Menschen unzufrieden sei, lasse sie die Erde anheben oder absacken.
Longobardo hatte begriffen, dass für die damaligen Chinesen Naturkatastrophen nur mit menschlichem Fehlverhalten zu erklären waren. Diese Einschätzung teilte auch er - so wie die meisten Europäer des 17. Jahrhunderts. Auch die Christen seiner Zeit interpretierten verheerende Seuchen wie die Pest, katastrophale Stürme oder auch Erdbeben als Bestrafung des Menschen durch Gott. Doch Longobardo war davon überzeugt, seinen neuen Landsleuten in Peking einen Schritt voraus zu sein: Für ihn gab es konkrete Hinweise auf mögliche Beben. So wollte er heidnische Fantasien von unterirdischen Drachen oder Schildkröten widerlegen. Silvia Toro:
"Erdbeben sollten ihm zufolge nicht mythologisch gedeutet werden, sondern ließen sich erklären mit dem Hinweis auf den einen christlichen Gott und mit dem Verweis auf ganz bestimmte geologische Vorkommnisse. Daraus leitete er seine missionarische Lehre ab, wonach nur eine Konversion zum einen Gott helfen könne, Naturkatastrophen wie etwa Erdbeben zu vermeiden."
Aber der Jesuit ist auch Naturwissenschaftler und verweist vor rund 400 Jahren darauf, dass vor und während eines Erdbebens immer Gase aus der Erde strömten. Diese Gase, so der Missionar, befänden sich unterhalb der Erdoberfläche und drücken gegen sie. Auf diese Weise komme es zum Erdbeben. Die Gase, so ist in Silvia Toros Übersetzung des Erdbebentraktats zu lesen, drücken so sehr nach oben, dass sie ganze Berge in Bewegung setzen können.
Befreiung von der Matteo-Ricci-Fixierung
Wie viele Chinesen Nicola Longobardo von seiner Erdbeben-Theorie überzeugen konnte, ist unklar. Zur Rezeption seines Traktats in China hat die Sinologin keine Hinweise gefunden. Klar ist hingegen: Er steht immer noch im Schatten seines berühmten Mitbruders Matteo Ricci. Und das, obwohl er nicht weniger einflussreich am Hof in Peking war und nicht weniger Chinesen zum Katholizismus bekehrt hatte als Ricci. Francesco Failla, Direktor der Diözesanbibliothek in Caltagirone, die viele Originalschriften Longobardos besitzt:
"Hier in Caltagirone erinnert viel an diesen Jesuiten: seine Schriften in der Bibliothek, sein Geburtshaus, das immer noch steht. Wir hoffen, dass mit dieser Übersetzung endlich die Rolle dieses Jesuiten aufgewertet wird."
Das hofft auch Calogero Peri, Bischof der Diözese Caltagirone. Er sagt, das Nachdenken über die Jesuitenmission in China müsse von der Matteo-Ricci-Fixierung befreit werden:
"Dieses Traktat ist zwar nur eine relativ kleine Schrift, aber sie führt uns in die komplexe Welt der Jesuiten in China ein. Dass man heute vor allem Matteo Ricci kennt, wenn man an die katholische Mission in China denkt, ist ungerecht. Es waren ja viele Jesuiten, die sich dorthin aufgemacht hatten, immer mit der Intention, nicht nur ihren Glauben, sondern auch ihr Wissen unter die Menschen zu bringen."
Sinologin Silvia Toro hofft, dass mit ihrer Arbeit das Leben und Wirken des sizilianischen Wahlchinesen Nicola Longobardo aufgewertet wird. Ihr italienischer Verlag hat deshalb in diesen Tagen ein Exemplar ihrer Übersetzung des Erdbebentraktats an Papst Franziskus geschickt - auch er ein Jesuit wie Nicola Longobardo.