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Nicolas Mathieu: „Wie später ihre Kinder“
Ein hasserfülltes, versoffenes Frankreich

Seit das Stahlwerk rostet, eskalieren in der französischen Provinzstadt Heillange die sozialen Konflikte. Nicolas Mathieu beschreibt in seinem packenden, mit dem Goncourt-Preis ausgezeichneten Roman die Reaktionen der Nachwachsenden. Drogenkonsum und Gewalt nehmen zu, aber auch das Verlangen abzuhauen.

Von Christoph Vormweg |
Buchcover: Nicolas Mathieu: „Wie später ihre Kinder“
Nicolas Mathieu rückt in "Wie später ihre Kinder" die Verlierer der Automatisierung und Globalisierung in Frankreich in den Mittelpunkt (Foto: AFP/Joel Saget, Buchcover: Hanser Berlin)
Manchmal könnte auch Literatur die Politik beeinflussen. Doch offenbar liest der französische Staatspräsident Romane nicht einmal dann, wenn sie mit dem bedeutendsten Literaturpreis des Landes, dem Prix Goncourt, gekrönt werden. Denn hätte Emmanuel Macron Nicolas Mathieus Roman "Wie später ihre Kinder" gelesen, hätte er sich zehn Tage nach den Goncourt-Feierlichkeiten die folgenreiche Preiserhöhung für das in der Provinz so wichtige und schon immer teure Benzin sicher verkniffen.
"Das Leben hier war immer ein Zurücklegen von Strecken. Zur Schule, zu Freunden, in die Stadt, an den Strand, zum Kiffen hinters Schwimmbad, zum Abhängen im Park. Unterwegs nach Hause, wieder los, auch die Erwachsenen, zur Arbeit, zum Einkaufen, zur Tagesmutter, zur Inspektion in die Werkstatt, ins Kino. Jedes Verlangen war mit einer Entfernung verbunden, jeder Genuss erforderte Sprit."
(…) heißt es im Jahr 1992. Sechs Jahre später hat sich die Situation für Anthony, die Hauptfigur des Romans, weiter zugespitzt.
"Zeitarbeit war gut, das machten alle seine Freunde. Im Klinikum Saint-Vincent hielt er die sanitären Einrichtungen in Ordnung. Dasselbe auf dem Schlachthof. Dann putzte er in Schulen. Bald hatte er in der Küche der Präfektur angefangen. Das Problem war nur, dass die nicht gerade nebenan war, der ganze Lohn ging für den Sprit drauf, zumindest fast. (…) Acht Wochen lang stand er jeden Morgen bei Sonnenaufgang auf, um hundert Kilometer zu fahren, vier Stunden zu arbeiten, wieder zurückzufahren und nicht mal 4000 Francs zu verdienen. Es war zermürbend und machte ihn fertig. Aber wenigstens ließ ihn seine Mutter in Ruhe, wenn er nach Hause kam. Schließlich malochte er ordentlich, was in seiner Familie als normal galt. (...) Wenigstens stand er moralisch auf der richtigen Seite. Er konnte über die Steuern schimpfen, die Einwanderer, die Politiker. Er lag niemandem auf der Tasche."
Der Keim für die Gelbwesten-Bewegung war vor zwanzig Jahren also längst gelegt - und mit ihm die im Roman beschriebene Anfälligkeit der sozial Abgehängten für das dumpfe, fremdenfeindliche Gedankengut des rechtsradikalen "Front National". Nicolas Mathieus Figuren gehören in der Mehrzahl zu den Verlierern der Automatisierung und Globalisierung. Sie leben in Heillange, unweit der Grenze zu Luxemburg. Hinter der fiktiven Provinzstadt verbirgt sich das lothringische Hayange, wo es seit dem 18. Jahrhundert eine starke Eisen- und Stahlindustrie gab. In den 1970er Jahren aber begann die große Krise. Der Roman "Wie später ihre Kinder" rückt den Alltag der Betroffenen in den Mittelpunkt.
Verlierer unter sich
Im Zwei-Jahres-Rhythmus katapultiert er den Leser zwischen 1992 und '98 ins Sommerloch. Denn nach dem französischen Nationalfeiertag, dem 14. Juli, verabschieden sich die Besserverdienenden in den Urlaub. Zurück bleiben die Loser: so der 14-jährige Anthony. Sein Vater, ein ehemaliger Stahlarbeiter, bessert das bescheidene Gehalt der Mutter mit Gartenarbeiten auf. Bei den Tanten und Onkeln läuft es nicht besser.
"Mit den Eigenarten seiner Familie konnte sich [Anthony] immer weniger anfreunden. Seine Leute kamen ihm ziemlich klein vor, wegen ihrer Körpergröße, aber auch wegen der bescheidenen Jobs, wegen ihrer mickrigen Hoffnungen, sogar ihr Unglück war erbärmlich, das allgemeine wie das konjunkturbedingte. Sie wurden entlassen, geschieden, betrogen und bekamen Krebs. Sie waren ganz schön normal, und alles andere kam sowieso nicht infrage. So wuchsen die Familien wie Pflanzen auf einem Boden aus Wut, und das jahrelang angehäufte Leid konnte bei jeder Familienfeier, wenn der Pastis seine Wirkung zeigte, unvermittelt aus seinem unterirdischen Versteck hervorbrechen. Anthony fühlte sich überlegen. Er träumte davon, sich aus dem Staub zu machen."
Dazu passt, dass sich Anthony in die erste Mittelstandstochter verliebt, die ihm über den Weg läuft. Dass Steph und er sich überhaupt kennenlernen, hängt – so will es die Ironie - mit einem Lieferengpass zusammen. Zu Beginn der Sommerferien 1992 gibt es kaum noch Haschisch zu kaufen. Plötzlich ist Anthonys großes Vorbild, sein zwei Jahre älterer Cousin, der gefragte Dealer. Anders als der Araber-Clan aus den Plattenbauten hat er Reserven. Und Haschisch rauchen wollen sie alle – auch die Kinder der Gutsituierten. So werden Anthony und sein Cousin als Lieferanten auf eine Party in den Vierteln der Reichen eingeladen. Und dort taucht tief in der Nacht auch der Dealer aus den Plattenbauten auf: der 17-jährige Hacine, Franzose mit marokkanischen Wurzeln.
Die Logik der Eskalation
Das ist die Ausgangslage für einen hochdramatischen Plot. Denn Anthony hat für die Haschisch-Lieferfahrt von seinem Vater heimlich das Motorrad ausgeliehen. Das aber wird im Laufe der Nacht gestohlen. Zum Kampf für eine unerreichbar scheinende Liebe kommt der Konflikt mit dem Tatverdächtigen Hacine. Die Seelenlagen der Beteiligten macht Nicolas Mathieu mit knapp geschnittenen Rückblenden und schonungslosen Milieubeschreibungen nachvollziehbar: ihre Frustrationen, ihre fatalen Ehrbegriffe, ihre Sehnsüchte. Mosaikhaft weiten sie sich zu einem Gesellschaftstableau des Tals von Heillange.
Wie Édouard Louis in seinem Aufsehen erregenden Debütroman "Das Ende von Eddy" führt uns auch Nicolas Mathieu ein Frankreich vor, das in der Literatur bisher weitgehend ausgeblendet worden ist: ein hasserfülltes, versoffenes, gewalttätiges Frankreich. Denn fast keine der Verlierer-Familien kann dem ökonomischen Druck auf Dauer standhalten. Das spürt auch Anthonys Mutter, die für ihren Sohn 14 Jahre lang einen Alkoholiker ertragen hat, der sie schlägt, wenn ihn die Wut packt. Plötzlich aber scheint auch Anthony unberechenbar zu werden, hemmungslos, ja kriminell.
"Wieder stand die Mutter wie vor einem Fremden. Wenn man bedachte, dass er ihr vor zehn Jahren noch eine selbstgemachte Nudelkette zum Muttertag geschenkt hatte. Er war immer ein guter Junge gewesen. Klar, er war nicht gerade der Hellste in der Schule und suchte oft Streit, aber insgesamt wusste sie, woran sie war. Als er ganz klein war, hatte sie ihm Gute-Nacht-Lieder gesungen. Er liebte Heidelbeermarmelade und den kleinen Comic-Indianer Schakarie oder wie der hieß. Sie konnte sich noch daran erinnern, wie sein Kopf gerochen hatte, wenn er auf ihren Knien einschlief, samstagabends, vor dem Fernseher. Wie warmes Brot. Und eines schönen Tages hatte er ihr gesagt, sie solle anklopfen, bevor sie sein Zimmer betrat, alles war so unerwartet schnell gegangen. Jetzt hatte sie diesen halben Schlägertyp vor sich, der ein Tattoo wollte, nach Schweißfüßen stank und schlurfte wie ein Assi. Ihr kleiner Junge. Sie wurde wütend."
Nicolas Mathieus allwissender Erzähler arbeitet die Zerrissenheiten seiner Figuren heraus, ihre Ängste und verblassenden Träume. Auf Kommentare verzichtet er. Darin liegt die große Stärke seines Romans "Wie später ihre Kinder". Der Leser verfängt sich gleichsam ungeschützt in die Ausweglosigkeiten der dargestellten Verlierer, in ihre Sehnsucht nach Trost, die sie oft in den Vollrausch treibt. Unter den Jüngeren jedenfalls wollen alle weg aus Heillange, selbst die Kinder der Etablierten. Steph, die von Anthony Angehimmelte, träumt von einem Leben in Paris. Der wirtschaftliche Erfolg ihrer Eltern schützt sie aber nicht vor den Komplexen einer Provinzlerin. Manchmal fühlt sie sich deshalb sogar von Anthony angezogen. Doch hat sie ein genaues Gespür für die soziale Grenze, die sie nicht überschreiten darf, wenn sie Erfolg haben will. Mit ihm möchte sie in der Stadt nicht gesehen werden. Allerdings liebt Steph den Alkohol – und das macht Annäherungen möglich.
"Als Steph zurückkam, hielt sie eine Wodkaflasche in der Hand.
‚Was ist das?‘
‚Wir waren letztens zum Saufen hier und haben eine Flasche dagelassen.‘
‚Cool.‘
Sie schraubte den Deckel ab, ein frisches Knacken, und setzte an.
‚Ist warm‘, sagte sie und verzog das Gesicht.
‚Lass mich auch mal.‘
‚Das ist wirklich widerlich, was?‘
‚Und wie.‘
‚Gib mir nochmal.‘
Steph nahm noch einen ordentlichen Schluck und ging dann zur Orientierungstafel, die am Abgrund stand. [...] Mit einem Satz war Anthony neben ihr. Sie hielt ihm schon die Flasche hin.
‚Tut trotzdem gut.‘
‚Ja.‘
[...] Im Tal wurde es schon Nacht. Auf Anthonys Gesicht hoben die Strahlen der tiefstehenden Sonne die Unvollkommenheiten hervor, den Flaum auf der Lippe, den Pickel am Nasenflügel. Am Hals pochte eine Ader. Er drehte sich zu Steph. Sie beide waren ein Nichts in dieser Landschaft, die schon an sich nicht viel hermachte. (…) In diesem Tal waren Menschen reich geworden und hatten herrschaftliche Häuser gebaut, die in den Dörfern standen und dem Zerfall ringsum spotteten. Kinder waren von Wölfen, Kriegen, Fabriken verschlungen worden: Und nun waren Anthony und Steph hier und blickten auf die Verwüstung. Unter ihrer Haut bebte es. Und ebenso ging in der erloschenen Stadt unter der Oberfläche eine Geschichte weiter, bei der man sich entscheiden musste, auf welcher Seite man stand, die Entschlossenheit und Kämpfe erfordern würde.
‚Willst du mit mir gehen?‘
Steph hätte beinahe laut losgelacht, aber Anthonys Ernsthaftigkeit hielt sie davon ab. Er starrte in die Landschaft, ohne mit der Wimper zu zucken, dickköpfig und schön. Der Wodka zeigte seine Wirkung, und Steph fand ihn gar nicht mehr so klein. Und sie gewöhnte sich an dieses Gesicht, das sie jetzt von der Seite sah, wo es nicht so schief war wie von vorn. Er hatte lange braune Wimpern, wirre schwarze Haare. Sie vergaß, misstrauisch zu sein."
Die Sprache der Hassliebe
Nicolas Mathieu, der eigentlich Kino-Kritiker werden wollte, zoomt sich ganz nah heran an seine Figuren: an ihre heimlichen Abenteuer, ihre Gefühle der Leere, der Verzweiflung, der Hassliebe. Ihre Sprache kennt er aus eigener Erfahrung: die rassistischen Tonlagen von Anthonys Eltern, die sich für die besseren Franzosen halten, den Angeber-Slang der Jugendlichen, die leeren Worthülsen der Arrivierten. Erzähltechnisch besonders gelungen sind die zweijährigen Zeitlöcher zwischen den vier Roman-Teilen. Sie steigern die Spannung und die Erzähldynamik. Denn die Neuigkeiten aus den fehlenden Jahren gibt Nicolas Mathieu nur zögerlich preis. Auch unterschlägt er nicht die Perspektive der arabischstämmigen Franzosen aus den Plattenbauten. Anthonys Mutter zwingt ihren Sohn zu einem gemeinsamen Besuch bei dem verdächtigten Hacine. Sie will das gestohlene Motorrad unbedingt zurückhaben, um ihre Kleinfamilie zu retten. Denn wenn ihr Mann auch Anthony schlüge, hieße das Scheidung. Doch nur Hacines alter Vater ist zu Hause. Seine Reaktion nach dem Gespräch: Er züchtigt seinen Sohn mit einem Knüppel. Hacine fährt das Motorrad daraufhin vor das Haus von Anthonys Eltern. Doch in seinem Hass fackelt er es ab. Der Strafe zweiter Teil sind zwei Jahre bei der Familie in Marokko. Womit niemand rechnet: Der Kleindealer von Heillange mausert sich dort zum Großdealer, der im doppelten Boden seines Autos das Haschisch nach Frankreich transportiert.
"Der geschäftliche Erfolg gab ihm eine Vorstellung davon, wie die Welt funktionierte. Seiner Meinung nach hatte man im Leben die Wahl. Man konnte es machen wie sein Vater, sich beschweren und auf die Chefs sauer sein, die ganze Zeit betteln und Ungerechtigkeiten auflisten. Oder man konnte, wie sein Beispiel zeigte, etwas wagen, Unternehmergeist entwickeln und das Schicksal herausfordern. Talent wurde belohnt, das bewies er eindrücklich. Durch seine Machenschaften am Rand der Gesellschaft eignete er sich deren Grundideen an. Geld hatte wirklich eine unfassbar integrative Wirkung, machte aus Dieben Aktionäre, aus Drogenhändlern Konformisten, aus Zuhältern Händler. Und umgekehrt."
Hacine scheint auf der Siegerstraße. Doch er hat Heimweh nach Heillange und kommt zurück. Mit gezielter Gewalt versucht er den dortigen Haschisch-Handel an sich zu reißen. Was er in seinen Großmanns-Träumen aber unterschätzt, ist das Bedürfnis nach Rache. Denn während er in Marokko lebte, hat das abgefackelte Motorrad Anthonys Kleinfamilie zerstört. Auf den ersten Blick hat die Scheidung der Eltern zwar ihr Gutes, weil sein Vater nicht mehr trinkt. Doch das Motorrad brennt weiter in dessen Kopf. Wie Édouard Louis in seinem Roman "Im Herzen der Gewalt" schreibt auch Nicolas Mathieu über die Langzeitwirkungen, die Demütigungen entfachen, über die Kettenreaktionen, die sie auslösen können.
Showdown beim Leichenschmaus
1994, nach der Beerdigung eines allseits beliebten Gewerkschafters, befinden sich plötzlich alle vier in derselben Kneipe: die beiden Väter, die sich als Kollegen im Stahlwerk früher schätzten, und ihre verfeindeten Söhne. Der Showdown – und es ist nicht der letzte – gehört zu den stärksten Szenen des Romans. Denn auch diesmal entscheiden Zufälle darüber, wohin die Eskalation führt.
Man könnte auch sagen: Nicolas Mathieu setzt hier die politischen Szenarien, die der Soziologe Didier Eribon in seinem autobiographischen Essay "Rückkehr nach Reims" reflektiert, in Fiktion um, in alltägliche Dramen. Als Stahlarbeiter definierte man sich als Gegner der Kapitalisten und wählte sozialistisch. Mitte der 1990er Jahre aber haben sich die Feindbilder verschoben. Für die sozialen Verlierer sind die Immigranten aus den ehemaligen Kolonien plötzlich an allem Schuld. Sie wählen jetzt Le Pen.
Doch ist der Roman "Wie später ihre Kinder" kein Klagebuch aus der altlinken Ecke. Nicolas Mathieu will die Realität so darstellen, wie er sie selbst in seiner Jugend erlebt hat. Das heißt: Er porträtiert ambivalente Charaktere vor einem diffusen politischen Hintergrund. Die Jugendlichen geben dem Plot dabei eine schwer ausrechenbare Grundenergie. Ihre spätpubertäre Wut wird so drastisch beschrieben wie ihre mal hilflosen, mal erfolgreichen Versuche alkoholbefeuerter sexueller Annährung.
Aus eigener Erfahrung schreiben
Wie schon in seinem ersten Roman, einem Sozialkrimi, schreibt Nicolas Mathieu nicht als Nabelschauer, sondern multiperspektivisch. Nicht nur den sozialen Verlierern gibt er eine Stimme, sondern auch den Gewinnern. Der von Anthony angehimmelten Mittelstandstochter Steph gelingt am Ende der Absprung nach Paris. Ihre Freundin Clem schafft es immerhin bis nach Nancy. Im Sommer 1996 treffen sie sich in der alten, mittlerweile verschmähten Heimat.
"Clem hatte haufenweise Geschichten aus der Praxis ihres Vaters auf Lager, von den Verrückten, die dort ein und aus gingen. Für ihre Begriffe ging es im Wartesaal zu wie im Armenhaus. Alkoholiker, Rentner, Bedürftige, Staublungenkranke, Übergewichtige, Krampfadrige, Behinderte und andere Verunglückte, Ausländer, die schlecht Französisch sprachen, und Franzosen, die auch nicht viel besser zu verstehen waren. (…) Man machte sich lustig, um das Unheil zu bannen, die hinterhältige Pest, die sich nach und nach von unten her ausbreitete. (…) Man fragte sich, was für ein Leben diese Leute in ihren ärmlichen Wohnungen führten, wo sie das ganze Fett in sich reinschaufelten und sich mit Glücksspiel und Seifenopern vergifteten, ständig neue Kinder und Unglück produzierend, verzweifelt, tobend, abgehängt."
Nicolas Mathieu rückt die "Unsichtbaren" in der französischen Gesellschaft in den Vordergrund. Als "Gelbwesten" haben sie es 2018 bis ins Fernsehen geschafft. Doch an den existentiellen Dramen ändert das nur wenig. Anthony wählt für seine Flucht aus Heillange eine klassische Variante: nicht die Fremdenlegion, aber eine Verpflichtung in der französischen Armee. 1998 jedoch holt ihn das Pech zurück. Wegen einer Verletzung wird er für untauglich erklärt und ausgemustert. Heillange bleibt sein Schicksal.
Heimfahrt wider Willen
Sein rückfälliger Vater hat sich unterdessen im Suff ertränkt, seine Mutter lebt weiter ihre Minimalexistenz. Anthonys großes Vorbild, der Cousin, hat sich als Jungvater gerade für ein Häuschen verschuldet. Auch Hacine führt ein 0-8-15-Leben mit Job und Baby. Da erscheint der Romantitel "Wie später ihre Kinder" als ein böses Omen. Doch dann explodiert plötzlich die Hoffnung. Im vierten Sommerloch findet die Fußballweltmeisterschaft in Frankreich statt. Über jeden weiteren Sieg inszenieren die Medien eine große nationale Versöhnungsshow. Denn die Mehrzahl der Spieler stammen aus den ehemaligen Kolonien. Auch in Heillange scheint das Kriegsbeil zunächst begraben zu sein. Nach dem Halbfinalsieg begegnet Anthony Hacine, später Steph.
Doch verschont uns Nicolas Mathieu mit einem falschen Happy End. Bis zur letzten Seite bleibt sein Roman hochspannend - gerade deshalb, weil Siege gefeiert werden müssen: besoffen, bekifft und im Freiheitsrausch auf dem Motorrad.
Über 446 Seiten schafft es Nicolas Mathieu seine Figuren in ihrer Innensicht zu respektieren: durch Differenzierung und Detailreichtum. Seine soziologische Perspektive ist geprägt von den Werken des 2002 verstorbenen Pierre Bourdieu. Sein größtes Vorbild als Schriftsteller aber bleibt Annie Ernaux: in ihrer "sozialen Scham", in der Genauigkeit, mit der sie soziale Verhältnisse verortet. Die großen Motive seines Roman "Wie später ihre Kinder" sind das Austesten der eigenen Grenzen, der "Schwindel des Verbotenen", die soziale Demütigung, der Alltagsrassismus, das Drama der Lust und der halberwiderten Liebe. Nicolas Mathieu ist ein Autor des Dazwischen. Das macht ihn so faszinierend. Er schafft es, selbst ganz banalen Dialogen mit viel Sinn für Lakonik eine – wenn auch meist traurige – Dimension zu geben. In seinem mitreißenden Roman hat der Provinzjugend aufs Maul geschaut und den sozial Abgehängten, den Verzweifelten, die ihr imaginäres Frankreich und sich selbst nicht mehr finden.
Nicolas Mathieu: "Wie später ihre Kinder"
Aus dem Französischen von Lena Müller und André Hansen
Hanser Berlin im Carl Hanser Verlag, München. 446 Seiten, 24 €.