Manfred Götzke: Hier meine persönlichen Top-Drei-Ausreden für vergessene Hausaufgaben: Meine Katze wurde gestern kastriert, ich musste mich den ganzen Abend um sie kümmern. Auch gut: Ich konnte es leider nicht mit meiner Religion vereinbaren, die Aufgabe zu lösen, da sie mir schwere intellektuelle Anstrengungen verbietet. Oder der Klassiker: Oh, ich dachte, die Hausaufgaben waren erst für nächste Woche. Ginge es nach Jutta Allmendinger, der Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin, wären solche Ausreden in Zukunft für die Katz, sie fordert nämlich, klassische Hausaufgaben abzuschaffen. Eine sinnvolle Idee? Darüber möchte ich mit Frau Allmendinger und Joseph Kraus sprechen, dem Präsidenten des Deutschen Lehrerverbandes. Frau Allmendinger, Sie halten Hausaufgaben für ungerecht, damit sprechen Sie ja so manchem lernunwilligen Achtklässler aus der Seele.
Jutta Allmendinger: Ja, ich finde es ungerecht in zwei Dimensionen, kann man sagen. Also zunächst mal könnte man ja sagen, dass Hausaufgaben die kognitive Entwicklung fördern, dass man einfach mehr lernt, wenn man Hausaufgaben macht. Immerhin machen wir über unser Schulleben hinweg anderthalb Jahre nur Hausaufgaben. Dieses kann die empirische Bildungsforschung so nicht bestätigen. Das zweite, was man sagen kann, ist, dass Hausaufgaben dazu beitragen, dass man Selbstdisziplin lernt, und auch da gibt es große Fragezeichen, was damit zusammenhängt, dass es immer auf eine spezifische Konstellation von Lehrern, Eltern und auch Schülern ankommt. Und von daher finde ich, dass Hausaufgaben, erstens wenig bringen, und zweitens die Unterschiede je nach sozialer Herkunft, also je nach Elternhaus, verschärfen.
Götzke: Herr Kraus, führen Hausaufgaben zu Chancen und Bildungsungerechtigkeit?
"Ein wichtiges pädagogisches Diagnostikum"
Joseph Kraus: Ja, gut, dann müssten wir Schule abschaffen, denn Schule kann nie Gleichheit herstellen. Ich plädiere aber nachdrücklichst für eine Beibehaltung der Hausaufgaben aus zwei pädagogischen Gründen. Erstens ist die Erledigung von Hausaufgaben und die erledigten Hausaufgaben, die die Schüler dann in die Schule bringen, ein wichtiges pädagogisches Diagnostikum, sodass der Lehrer oder die Lehrerin dann sieht, aha, das ist richtig gemacht, das ist okay so, ich kann mit dem Stoff weitergehen. Oder aber er erkennt, ah, da gibt es viele Fehler, die Rechenvorgänge hat man noch nicht verstanden, da muss ich in der Schule noch eine Übungsstunde machen, noch mal eine Erklärungsstunde machen. Übrigens, in dem Zusammenhang sage ich auch mit Nachdruck, es hat überhaupt keinen Zweck, wenn die Eltern ihren Kindern die Hausaufgaben erledigen. Sie sollen dafür sorgen, dass vernünftig gearbeitet wird, dass feste Arbeitsgewohnheiten da sind, ansonsten sollen sie die Kinder durchaus auch mal mit fehlerhaften Hausaufgaben in die Schule kommen lassen, weil das wie gesagt ein Diagnostikum für den Lehrer ist. Und der zweite pädagogische Grund ist, Hausaufgaben sind natürlich auch ein Stück Förderung von Eigenverantwortung. Ich möchte nicht die totale Verstaatlichung von Erziehung. Dass Hausaufgaben von zu Hause erledigt werden, ist auch ein Stück Verantwortung der Familie, ein stück Verantwortung der Schüler, ein Stück Verantwortung der Eltern.
Allmendinger: Darf ich darauf gleich was sagen?
Götzke: Gerne, Frau Allmendinger!
Allmendinger: Also zunächst mal zu der ersten These: Die Schule kann sehr wohl Chancengerechtigkeit herstellen. Sie kann schon dazu beitragen, dass die Schere zwischen Kindern aus unterschiedlichen Elternhäusern nicht weiter aufgeht. Das ist das Erste, das Zweite ist, dass Lehrer ja oft nur ein Häkchen dran machen, ob Hausaufgaben gemacht sind oder nicht, und sehr selten geben sie tatsächlich die Rückmeldung, ob die Prozesse, die die Kinder gewählt haben, richtig sind. Und das Dritte, Eigenverantwortung kann man in der Tat auch am Nachmittag in der Schule lernen. Das setzt nicht voraus, dass es zu Hause gemacht wird.
Kraus: Das ist doch am grünen Tisch, Frau Allmendinger, was Sie sagen. Wenn Sie am Nachmittag Hausaufgaben in der Schule machen, dann wird das so sein wie meistens in der Gruppenarbeit, die stärksten und die leistungsfähigsten, schnellsten Schüler geben letztendlich den Ton an beziehungsweise machen die Arbeiten, und die schwächeren hängen sich hinten mit dran. Ich behaupte im Gegensatz zu Ihrer These, dass die Abschaffung von Hausaufgaben insbesondere die schwächeren Schüler noch zusätzlich schwächt oder, ein bisschen plakativ ausgedrückt, Sie machen die schwächeren Schüler nicht dadurch schneller und stärker, indem Sie die stärkeren sozusagen bremsen. Im Übrigen, die stärkeren Schüler brauchen die Hausaufgaben nicht, die leistungsfähigen Schüler, die sind von der Aufnahme, von der Auffassungsgabe her so topfit, dass sie in der Schule alles mitnehmen. die schwächeren Schüler brauchen die Hausaufgaben, weil sie einfach eine Einübungsschleife noch brauchen.
Allmendinger: Ich rede nicht vom grünen Tisch, ich rede einfach von einer empirischen Bildungsforschung …
Kraus: Ja, gut, Empirie ist das eine und Schulpraxis ist das andere.
Allmendinger: Die zusammengetragen hat, was da an Ergebnissen vorliegt, und wir sehen, dass auch stärkere Schüler, indem sie mit schwächeren Schülern zusammen lernen, unglaublich viel dazulernen, profitieren davon, indem sie einfach auch soziale Kompetenzen setzen, denn die sind ja immer notwendig, weil sie die dadurch auch erlernen.
Kraus: Ja, vielleicht im Bereich der sozialen Kompetenzen, aber nicht im Bereich der intellektuellen und der kognitiven Kompetenzen, und ich sehe im Übrigen schon seit Jahren eine große Kluft zwischen der sogenannten Empirie und der Schulpraxis, beide haben sich weit voneinander entfernt.
Götzke: So, an dieser Stelle machen wir erst mal einen Punkt, wir wollen gleich weiterdiskutieren, ob Hausaufgaben abgeschafft werden sollten oder nicht, und wollen dann auch über die Rolle der Eltern sprechen, die sich, wie Herr Kraus sagt, zu stark einmischen bei den Hausaufgaben und auch sonst.
Sie hören "Campus und Karriere" im Deutschlandfunk, und wir diskutieren heute über Hausaufgaben. Sind Hausaufgaben ungerecht und sollten deshalb abgeschafft werden, wie Jutta Allmendinger vom Wissenschaftszentrum Berlin fordert? Oder sind sie für das selbstständige Nacharbeiten des Unterrichts unerlässlich, wie Joseph Kraus vom Deutschen Lehrerverband meint? Herr Kraus, das mit dem selbstständigen Nacharbeiten, das ist ja so eine Sache, Sie haben es ja gerade schon angedeutet, oft erledigen nicht die Schüler die Hausaufgaben, sondern deren Eltern, und das sind meist die typischen Akademiker-Helikopter-Eltern. Da sind die Schüler bildungsferner Eltern natürlich ein bisschen im Nachteil.
Kraus: Nein, da liegt ein Nachteil für diese Schüler, weil diese Schüler mit geschönten Hausaufgaben in die Schule kommen und letztendlich dann bei irgendwelchen Prüfungen auf die Nase fallen. Die Lehrkraft hat den Eindruck, es ist ja alles in Butter, es ist ja alles bestens, wir können ja mit dem Stoff weitermachen, aber bei der Prüfung selbst ist dann Mama oder Papa nicht dabei. Also man schadet den Kindern, wenn man diese Hausaufgaben ihnen abnimmt, und man behindert sie in der Entwicklung ihrer Selbstständigkeit und Eigenverantwortung.
Götzke: Frau Allmendinger, liegt das Problem vielleicht eher bei Helikopter-Eltern, die sich zu viel um ihre Kinder sorgen?
"Die soziale Selektivität unseres Bildungssystems ist enorm."
Allmendinger: Oh nein, das sehe ich überhaupt nicht. Helikopter-Eltern sind Eltern, die einfach von den Schulen mehr Transparenz brauchen, und es gibt sehr viele Schulen, die eine ganz genaue Rückmeldung geben an die Eltern, nicht nur, was die kognitive Entwicklung ist, sondern auch, was die Einbettung in der Schule ist, was die sozialen Aufgaben sind, die ihre Kinder übernehmen. Und wenn diese Transparenz geschaffen werden würde – und viele Schulen schaffen das, diese Transparenz zu schaffen –, dann lassen Eltern auch los. Also da sehe ich das Problem überhaupt nicht. Vielleicht noch mal einen ganz kurzen Kommentar zu Herrn Krause, ich meine, bildungsnahe Eltern, die kümmern sich um ihre Kinder, sie geben oft Nachhilfe, und wir sehen, dass diese Nachhilfe tatsächlich zu einem größeren Verständnis auch beiträgt. Die bildungsfernen Eltern, die kümmern sich auch um Hausaufgaben, dass man am Tag zwei Stunden für die Hausaufgaben reserviert, oder anderthalb Stunden. Sie können aber nicht dazu beitragen, dass das Erlernte oder dass das zu Erlernende besser begriffen wird.
Kraus: Frau Allmendinger, Sie werden ein Kind nicht zum Abitur bringen, indem Sie zu Hause nur als Mama ständig nebendran sitzen, die Hausaufgaben erledigen und nur Nachhilfe, Nachhilfe, Nachhilfe machen. Das ist einfach nicht so.
Allmendinger: Oh, aber das sehen wir ja, dass es so ist.
Kraus: Und wir haben natürlich, wir haben diese Helikopter-Eltern, ich habe erst kürzlich ein Buch dazu geschrieben, die sich um alles kümmern und die damit die Eigenverantwortung der Kinder erschlagen. Das bringt nichts, den Kindern alles abzunehmen.
Allmendinger: Ja, letztlich profitieren aber doch die Kinder, die machen doch höhere Abiturraten. Sie sehen doch diese soziale Selektivität unseres Bildungssystems, die ist enorm. Das wissen Sie doch viel besser als ich.
Kraus: Hören Sie doch bitte auf mit den Abiturquoten, tun Sie doch nicht so, als hätten bei uns gerade in Deutschland, bei einer extrem niedrigen Jugendarbeitslosenquote, Leute, die kein Abitur haben, keine Chance. Es gibt Eltern, die sind so bodenständig, dass sie sagen: Okay, warum soll mein Kind Abitur machen, warum soll mein Kind studieren, wo wir doch einen gigantischen Fachkräftemangel haben? Wir haben 60 Wege zur Hochschulreife, und mittlerweile machen 45 bis 52 Prozent der jungen Leute ihre Hochschulzugangsberechtigung nicht über ein Gymnasium, sondern über andere Wege. Wir haben ein ausgesprochen auch sozial selektives Bildungswesen.
Allmendinger: Das weiß ich, Herr Kraus, aber diese anderen Wege sind extrem langwierig. Warum sollen Sie denn diese Kinder auf diese langen Wege schicken, wenn sie doch die Möglichkeit hätten, auch kurze Wege zu bewältigen?
Götzke: An dem Punkt kommen wir nicht weiter. Frau Allmendinger, Sie sagen, alternativ in Lerngruppen in der Schule, angeleitet vom Lehrer, lernt es sich besser. Das setzt aber eine Ganztagsschule für alle Schulformen und für alle Schulen voraus.
Allmendinger: Ja, das ist natürlich etwas, was ich mir in der Tat sehr wünsche, weil wir heute im Vergleich zu noch vor 20, 30 Jahren eine hohe Diskrepanz haben zwischen dem, was man von Eltern, insbesondere Müttern erwartet, und das ist die Erwerbstätigkeit, das ist auch mehr als eine Halbtagserwerbstätigkeit, die allemal nicht sich nach den Schulöffnungszeiten richtet, sodass wir heute mehr und mehr Kinder sehen, die von der Schule nach Hause kommen, kein warmes Essen hatten und einige Stunden zu verbringen haben zu Hause, ohne dass jemand zu Hause ist. Und das finde ich keine gute Entwicklung, auch die Kinder finden das nicht gerade cool, sodass ich mir doch wünschen würde, dass diese eine Entwicklung … darf ich bitte ausreden?
Kraus: Kinder finden es gut, wenn man Halbtagsschule hat, wenn man den Nachmittag selbst gestalten kann.
Allmendinger: Hallöchen, darf ich ausreden? Sodass ich es gut finde, dass wir eine Ganztagsschule haben, …
Kraus: So, wie Sie mich ausreden lassen?
Allmendinger: … wo auch das Essen angeboten wird, wo am Nachmittag die Möglichkeit besteht, nicht von Lehrern, der hinter einem steht, sondern durch Lehrer, die zeigen, wie eine prozessorientierte Hausaufgabenerledigung auch stattfinden könnte, wie man mit der Unterstützung von auch anderen Kindern gemeinsam das macht.
Kraus: Das liest sich und hört sich alles gut an, es muss auch ein Leben für Kinder außerhalb von Schule geben, das ist Teil letztendlich auch von Individualentwicklung, das ist Teil letztendlich auch der Entwicklung von Eigenverantwortung.
Allmendinger: Aber Herr Kraus, Ganztagsschulen laufen doch nicht bis nachts 24 Uhr, Ganztagsschulen laufen bis 15 oder 16 Uhr, das wissen Sie doch viel besser als ich.
Götzke: Ganztagsschule bis 16 Uhr, Herr Kraus, ein Konzept, mit dem Sie sich anfreunden können?
Kraus: Nein, da halte ich nichts davon, auf freiwilliger Basis ja, aber nicht aus Pflichtveranstaltung. Im Übrigen, ich will jetzt nicht finanzpolitisch argumentieren – wir sind meilenweit und Jahrzehnte davon weg, das Ganze finanziert zu bekommen.
Götzke: Frau Allmendinger, das Finanzproblem können wir nicht außer Acht lassen. Können wir Ganztagsschulen in ganz Deutschland überhaupt finanzieren?
Allmendinger: Ja, aber wir geben doch unglaublich viel familienpolitische Leistungen aus, das ist doch jetzt gerade durch die Presse gegangen, wie viele Milliarden wir dafür ausgeben. Und vieles von diesem Geld ist quasi wie im Gießkannenprinzip verteilt und kommt gerade nicht bei den Kindern an. Wenn wir heute davon sprechen, dass wir Kindertagesstätten brauchen, dann verstehe ich nicht, warum wir nicht gleichermaßen fordern, in der gleichen Vehemenz und mit dem gleichen politischen Druck dahinter, dass wir auch Ganztagesschuleinrichtungen brauchen.
Kraus: Nein, da habe ich als Staatsbürger was dagegen, das fördert die Delegation von elterlicher Erziehungsverantwortung an den Staat noch mehr. Ich bin auf der Basis des Artikels sechs des Grundgesetzes: "Pflege und Erziehung sind das vornehmliche Recht der Eltern und die zuvorderst ihnen obliegende Pflicht. Der Staat und die Schule hat den Eltern nicht alles abzunehmen".
Allmendinger: Ich fühle mich auch auf der Grundlage des Grundgesetzes, welches nämlich sagt, dass der Staat durchaus die Pflicht hat, ein soziokulturelles Mindestmaß herzustellen für die Kinder und für deren Entwicklung. Und dieses ist nicht gewährleistet, das zeigt auch der neue Armutsbericht.
Götzke: Pro und Kontra Hausaufgaben, das war ein Streitgespräch mit Jutta Allmendinger und Joseph Kraus. Ganz herzlichen Dank!
Allmendinger: Ich danke Ihnen, Herr Götzke
Kraus: Bitte schön!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Jutta Allmendinger: Ja, ich finde es ungerecht in zwei Dimensionen, kann man sagen. Also zunächst mal könnte man ja sagen, dass Hausaufgaben die kognitive Entwicklung fördern, dass man einfach mehr lernt, wenn man Hausaufgaben macht. Immerhin machen wir über unser Schulleben hinweg anderthalb Jahre nur Hausaufgaben. Dieses kann die empirische Bildungsforschung so nicht bestätigen. Das zweite, was man sagen kann, ist, dass Hausaufgaben dazu beitragen, dass man Selbstdisziplin lernt, und auch da gibt es große Fragezeichen, was damit zusammenhängt, dass es immer auf eine spezifische Konstellation von Lehrern, Eltern und auch Schülern ankommt. Und von daher finde ich, dass Hausaufgaben, erstens wenig bringen, und zweitens die Unterschiede je nach sozialer Herkunft, also je nach Elternhaus, verschärfen.
Götzke: Herr Kraus, führen Hausaufgaben zu Chancen und Bildungsungerechtigkeit?
"Ein wichtiges pädagogisches Diagnostikum"
Joseph Kraus: Ja, gut, dann müssten wir Schule abschaffen, denn Schule kann nie Gleichheit herstellen. Ich plädiere aber nachdrücklichst für eine Beibehaltung der Hausaufgaben aus zwei pädagogischen Gründen. Erstens ist die Erledigung von Hausaufgaben und die erledigten Hausaufgaben, die die Schüler dann in die Schule bringen, ein wichtiges pädagogisches Diagnostikum, sodass der Lehrer oder die Lehrerin dann sieht, aha, das ist richtig gemacht, das ist okay so, ich kann mit dem Stoff weitergehen. Oder aber er erkennt, ah, da gibt es viele Fehler, die Rechenvorgänge hat man noch nicht verstanden, da muss ich in der Schule noch eine Übungsstunde machen, noch mal eine Erklärungsstunde machen. Übrigens, in dem Zusammenhang sage ich auch mit Nachdruck, es hat überhaupt keinen Zweck, wenn die Eltern ihren Kindern die Hausaufgaben erledigen. Sie sollen dafür sorgen, dass vernünftig gearbeitet wird, dass feste Arbeitsgewohnheiten da sind, ansonsten sollen sie die Kinder durchaus auch mal mit fehlerhaften Hausaufgaben in die Schule kommen lassen, weil das wie gesagt ein Diagnostikum für den Lehrer ist. Und der zweite pädagogische Grund ist, Hausaufgaben sind natürlich auch ein Stück Förderung von Eigenverantwortung. Ich möchte nicht die totale Verstaatlichung von Erziehung. Dass Hausaufgaben von zu Hause erledigt werden, ist auch ein Stück Verantwortung der Familie, ein stück Verantwortung der Schüler, ein Stück Verantwortung der Eltern.
Allmendinger: Darf ich darauf gleich was sagen?
Götzke: Gerne, Frau Allmendinger!
Allmendinger: Also zunächst mal zu der ersten These: Die Schule kann sehr wohl Chancengerechtigkeit herstellen. Sie kann schon dazu beitragen, dass die Schere zwischen Kindern aus unterschiedlichen Elternhäusern nicht weiter aufgeht. Das ist das Erste, das Zweite ist, dass Lehrer ja oft nur ein Häkchen dran machen, ob Hausaufgaben gemacht sind oder nicht, und sehr selten geben sie tatsächlich die Rückmeldung, ob die Prozesse, die die Kinder gewählt haben, richtig sind. Und das Dritte, Eigenverantwortung kann man in der Tat auch am Nachmittag in der Schule lernen. Das setzt nicht voraus, dass es zu Hause gemacht wird.
Kraus: Das ist doch am grünen Tisch, Frau Allmendinger, was Sie sagen. Wenn Sie am Nachmittag Hausaufgaben in der Schule machen, dann wird das so sein wie meistens in der Gruppenarbeit, die stärksten und die leistungsfähigsten, schnellsten Schüler geben letztendlich den Ton an beziehungsweise machen die Arbeiten, und die schwächeren hängen sich hinten mit dran. Ich behaupte im Gegensatz zu Ihrer These, dass die Abschaffung von Hausaufgaben insbesondere die schwächeren Schüler noch zusätzlich schwächt oder, ein bisschen plakativ ausgedrückt, Sie machen die schwächeren Schüler nicht dadurch schneller und stärker, indem Sie die stärkeren sozusagen bremsen. Im Übrigen, die stärkeren Schüler brauchen die Hausaufgaben nicht, die leistungsfähigen Schüler, die sind von der Aufnahme, von der Auffassungsgabe her so topfit, dass sie in der Schule alles mitnehmen. die schwächeren Schüler brauchen die Hausaufgaben, weil sie einfach eine Einübungsschleife noch brauchen.
Allmendinger: Ich rede nicht vom grünen Tisch, ich rede einfach von einer empirischen Bildungsforschung …
Kraus: Ja, gut, Empirie ist das eine und Schulpraxis ist das andere.
Allmendinger: Die zusammengetragen hat, was da an Ergebnissen vorliegt, und wir sehen, dass auch stärkere Schüler, indem sie mit schwächeren Schülern zusammen lernen, unglaublich viel dazulernen, profitieren davon, indem sie einfach auch soziale Kompetenzen setzen, denn die sind ja immer notwendig, weil sie die dadurch auch erlernen.
Kraus: Ja, vielleicht im Bereich der sozialen Kompetenzen, aber nicht im Bereich der intellektuellen und der kognitiven Kompetenzen, und ich sehe im Übrigen schon seit Jahren eine große Kluft zwischen der sogenannten Empirie und der Schulpraxis, beide haben sich weit voneinander entfernt.
Götzke: So, an dieser Stelle machen wir erst mal einen Punkt, wir wollen gleich weiterdiskutieren, ob Hausaufgaben abgeschafft werden sollten oder nicht, und wollen dann auch über die Rolle der Eltern sprechen, die sich, wie Herr Kraus sagt, zu stark einmischen bei den Hausaufgaben und auch sonst.
Sie hören "Campus und Karriere" im Deutschlandfunk, und wir diskutieren heute über Hausaufgaben. Sind Hausaufgaben ungerecht und sollten deshalb abgeschafft werden, wie Jutta Allmendinger vom Wissenschaftszentrum Berlin fordert? Oder sind sie für das selbstständige Nacharbeiten des Unterrichts unerlässlich, wie Joseph Kraus vom Deutschen Lehrerverband meint? Herr Kraus, das mit dem selbstständigen Nacharbeiten, das ist ja so eine Sache, Sie haben es ja gerade schon angedeutet, oft erledigen nicht die Schüler die Hausaufgaben, sondern deren Eltern, und das sind meist die typischen Akademiker-Helikopter-Eltern. Da sind die Schüler bildungsferner Eltern natürlich ein bisschen im Nachteil.
Kraus: Nein, da liegt ein Nachteil für diese Schüler, weil diese Schüler mit geschönten Hausaufgaben in die Schule kommen und letztendlich dann bei irgendwelchen Prüfungen auf die Nase fallen. Die Lehrkraft hat den Eindruck, es ist ja alles in Butter, es ist ja alles bestens, wir können ja mit dem Stoff weitermachen, aber bei der Prüfung selbst ist dann Mama oder Papa nicht dabei. Also man schadet den Kindern, wenn man diese Hausaufgaben ihnen abnimmt, und man behindert sie in der Entwicklung ihrer Selbstständigkeit und Eigenverantwortung.
Götzke: Frau Allmendinger, liegt das Problem vielleicht eher bei Helikopter-Eltern, die sich zu viel um ihre Kinder sorgen?
"Die soziale Selektivität unseres Bildungssystems ist enorm."
Allmendinger: Oh nein, das sehe ich überhaupt nicht. Helikopter-Eltern sind Eltern, die einfach von den Schulen mehr Transparenz brauchen, und es gibt sehr viele Schulen, die eine ganz genaue Rückmeldung geben an die Eltern, nicht nur, was die kognitive Entwicklung ist, sondern auch, was die Einbettung in der Schule ist, was die sozialen Aufgaben sind, die ihre Kinder übernehmen. Und wenn diese Transparenz geschaffen werden würde – und viele Schulen schaffen das, diese Transparenz zu schaffen –, dann lassen Eltern auch los. Also da sehe ich das Problem überhaupt nicht. Vielleicht noch mal einen ganz kurzen Kommentar zu Herrn Krause, ich meine, bildungsnahe Eltern, die kümmern sich um ihre Kinder, sie geben oft Nachhilfe, und wir sehen, dass diese Nachhilfe tatsächlich zu einem größeren Verständnis auch beiträgt. Die bildungsfernen Eltern, die kümmern sich auch um Hausaufgaben, dass man am Tag zwei Stunden für die Hausaufgaben reserviert, oder anderthalb Stunden. Sie können aber nicht dazu beitragen, dass das Erlernte oder dass das zu Erlernende besser begriffen wird.
Kraus: Frau Allmendinger, Sie werden ein Kind nicht zum Abitur bringen, indem Sie zu Hause nur als Mama ständig nebendran sitzen, die Hausaufgaben erledigen und nur Nachhilfe, Nachhilfe, Nachhilfe machen. Das ist einfach nicht so.
Allmendinger: Oh, aber das sehen wir ja, dass es so ist.
Kraus: Und wir haben natürlich, wir haben diese Helikopter-Eltern, ich habe erst kürzlich ein Buch dazu geschrieben, die sich um alles kümmern und die damit die Eigenverantwortung der Kinder erschlagen. Das bringt nichts, den Kindern alles abzunehmen.
Allmendinger: Ja, letztlich profitieren aber doch die Kinder, die machen doch höhere Abiturraten. Sie sehen doch diese soziale Selektivität unseres Bildungssystems, die ist enorm. Das wissen Sie doch viel besser als ich.
Kraus: Hören Sie doch bitte auf mit den Abiturquoten, tun Sie doch nicht so, als hätten bei uns gerade in Deutschland, bei einer extrem niedrigen Jugendarbeitslosenquote, Leute, die kein Abitur haben, keine Chance. Es gibt Eltern, die sind so bodenständig, dass sie sagen: Okay, warum soll mein Kind Abitur machen, warum soll mein Kind studieren, wo wir doch einen gigantischen Fachkräftemangel haben? Wir haben 60 Wege zur Hochschulreife, und mittlerweile machen 45 bis 52 Prozent der jungen Leute ihre Hochschulzugangsberechtigung nicht über ein Gymnasium, sondern über andere Wege. Wir haben ein ausgesprochen auch sozial selektives Bildungswesen.
Allmendinger: Das weiß ich, Herr Kraus, aber diese anderen Wege sind extrem langwierig. Warum sollen Sie denn diese Kinder auf diese langen Wege schicken, wenn sie doch die Möglichkeit hätten, auch kurze Wege zu bewältigen?
Götzke: An dem Punkt kommen wir nicht weiter. Frau Allmendinger, Sie sagen, alternativ in Lerngruppen in der Schule, angeleitet vom Lehrer, lernt es sich besser. Das setzt aber eine Ganztagsschule für alle Schulformen und für alle Schulen voraus.
Allmendinger: Ja, das ist natürlich etwas, was ich mir in der Tat sehr wünsche, weil wir heute im Vergleich zu noch vor 20, 30 Jahren eine hohe Diskrepanz haben zwischen dem, was man von Eltern, insbesondere Müttern erwartet, und das ist die Erwerbstätigkeit, das ist auch mehr als eine Halbtagserwerbstätigkeit, die allemal nicht sich nach den Schulöffnungszeiten richtet, sodass wir heute mehr und mehr Kinder sehen, die von der Schule nach Hause kommen, kein warmes Essen hatten und einige Stunden zu verbringen haben zu Hause, ohne dass jemand zu Hause ist. Und das finde ich keine gute Entwicklung, auch die Kinder finden das nicht gerade cool, sodass ich mir doch wünschen würde, dass diese eine Entwicklung … darf ich bitte ausreden?
Kraus: Kinder finden es gut, wenn man Halbtagsschule hat, wenn man den Nachmittag selbst gestalten kann.
Allmendinger: Hallöchen, darf ich ausreden? Sodass ich es gut finde, dass wir eine Ganztagsschule haben, …
Kraus: So, wie Sie mich ausreden lassen?
Allmendinger: … wo auch das Essen angeboten wird, wo am Nachmittag die Möglichkeit besteht, nicht von Lehrern, der hinter einem steht, sondern durch Lehrer, die zeigen, wie eine prozessorientierte Hausaufgabenerledigung auch stattfinden könnte, wie man mit der Unterstützung von auch anderen Kindern gemeinsam das macht.
Kraus: Das liest sich und hört sich alles gut an, es muss auch ein Leben für Kinder außerhalb von Schule geben, das ist Teil letztendlich auch von Individualentwicklung, das ist Teil letztendlich auch der Entwicklung von Eigenverantwortung.
Allmendinger: Aber Herr Kraus, Ganztagsschulen laufen doch nicht bis nachts 24 Uhr, Ganztagsschulen laufen bis 15 oder 16 Uhr, das wissen Sie doch viel besser als ich.
Götzke: Ganztagsschule bis 16 Uhr, Herr Kraus, ein Konzept, mit dem Sie sich anfreunden können?
Kraus: Nein, da halte ich nichts davon, auf freiwilliger Basis ja, aber nicht aus Pflichtveranstaltung. Im Übrigen, ich will jetzt nicht finanzpolitisch argumentieren – wir sind meilenweit und Jahrzehnte davon weg, das Ganze finanziert zu bekommen.
Götzke: Frau Allmendinger, das Finanzproblem können wir nicht außer Acht lassen. Können wir Ganztagsschulen in ganz Deutschland überhaupt finanzieren?
Allmendinger: Ja, aber wir geben doch unglaublich viel familienpolitische Leistungen aus, das ist doch jetzt gerade durch die Presse gegangen, wie viele Milliarden wir dafür ausgeben. Und vieles von diesem Geld ist quasi wie im Gießkannenprinzip verteilt und kommt gerade nicht bei den Kindern an. Wenn wir heute davon sprechen, dass wir Kindertagesstätten brauchen, dann verstehe ich nicht, warum wir nicht gleichermaßen fordern, in der gleichen Vehemenz und mit dem gleichen politischen Druck dahinter, dass wir auch Ganztagesschuleinrichtungen brauchen.
Kraus: Nein, da habe ich als Staatsbürger was dagegen, das fördert die Delegation von elterlicher Erziehungsverantwortung an den Staat noch mehr. Ich bin auf der Basis des Artikels sechs des Grundgesetzes: "Pflege und Erziehung sind das vornehmliche Recht der Eltern und die zuvorderst ihnen obliegende Pflicht. Der Staat und die Schule hat den Eltern nicht alles abzunehmen".
Allmendinger: Ich fühle mich auch auf der Grundlage des Grundgesetzes, welches nämlich sagt, dass der Staat durchaus die Pflicht hat, ein soziokulturelles Mindestmaß herzustellen für die Kinder und für deren Entwicklung. Und dieses ist nicht gewährleistet, das zeigt auch der neue Armutsbericht.
Götzke: Pro und Kontra Hausaufgaben, das war ein Streitgespräch mit Jutta Allmendinger und Joseph Kraus. Ganz herzlichen Dank!
Allmendinger: Ich danke Ihnen, Herr Götzke
Kraus: Bitte schön!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.