Das letzte Wegstück auf den Gipfel der Hohen Eule führt durch den Wald über knorrige Äste und viel Felsgestein. An einer Weggabelung erhebt sich die Eulenbaude. Diese Herberge aus Holz mit ihren großen Aussichtsfenstern sieht genauso aus wie Ende des 19. Jahrhunderts, als sie entstand und als der Fremdenverkehr im Eulengebirge so recht in Gang kam. Das Haus ist gerade außer Betrieb, kein Mensch zu sehen, eine Schar von Hunden bellt und reißt an den Ketten. Also geht es ohne Einkehr weiter durch den Wald auf das 1.015 Meter hohe Gipfelplateau. Hier schaut der Besucher von allen Seiten weit in die grüne niederschlesische Landschaft.
Einen noch besseren Blick hat, wer weitere 25 Meter auf den Bismarckturm steigt. Der weiße Rundturm mit Zinnen gibt dem Eulen-Gipfel etwas von einer Ritterburg. 1906 errichtet, war er Teil eines gesamtdeutschen Kults um den Reichsgründer Bismarck.
Als Niederschlesien 1945 zu Polen kam und die Bevölkerung komplett ausgetauscht wurde, verfiel der Bismarckturm – wie manch anderes unliebsames Relikt aus deutscher Zeit.
Vor knapp einem Jahrzehnt hat man ihn aber restauriert und für Besucher neu eröffnet. Schon lange gebe es keine Berührungsängste mehr mit der deutschen Vergangenheit, sagt Michał Dominiak. Dominiak betreibt das Hotel Adler, auch ein Holzhaus aus deutscher Zeit. In 900 Metern Höhe, neben der Bergstation eines Skilifts, blickt man hier tief ins Tal.
"Es kommen viele Menschen aus anderen Gegenden Polens, aber auch aus Deutschland. Wir haben hier zum Beispiel eine Gruppe von Deutschen, die aus Sokolec stammen, dem ehemaligen Falkenberg. Sie kommen wenigstens einmal oder zweimal im Jahr, verbringen hier gern ihre Zeit. Mit den Einheimischen von heute verstehen sie sich sehr gut. Viele Deutsche haben ihre alten Häuser wiederentdeckt."
Wandel im Tourismus
Ob Polen, Deutsche oder andere: In den vergangenen Wochen und Monaten haben sich die touristischen Vorlieben im Eulengebirge stark verändert – nicht mehr die Berge stehen im Mittelpunkt, sondern die Bergwerke.
"Wir sind im Inneren eines Berges namens Osówka. Hier wurde im Zweiten Weltkrieg ein unterirdisches Labyrinth von Gängen angelegt." Zdzisław Łazanowski ist Vorsitzender eines Vereins, das ein öffentliches Museum unter dem Titel "Unterirdische Stadt der Nazis" betreibt. Im Bauch des Bergs Osówka, knapp zehn Kilometer von der Hohen Eule entfernt, mussten im Zweiten Weltkrieg Tausende Häftlinge aus dem nahegelegenen KZ Groß-Rosen an einem Nazi-Großprojekt arbeiten, das bis heute Rätsel aufgibt. Waffenfabriken, Rückzugsgebiet für die Oberen von Wehrmacht und SS, ein neues Führerhauptquartier: Daran baute man hier im Eiltempo kurz vor Kriegsende.
Niemand weiß, wie groß und verzweigt das Gelände ist – und was dort im Einzelnen geschah. Alle Baupläne und Dokumente gingen bei Kriegsende verloren. "Wir sind jetzt 16 Stockwerke unter der Erde. Über uns sind Gneisfelsen. Hier sollte es einen Fahrstuhl für den Personen- und Güterverkehr geben. Oben gibt es einen Korridor aus Beton, der zu einem riesigen Bunker führt. Nach dem Krieg nannte man ihn umgangssprachlich 'Kasino': Dort plante man den Raum für das Kommando der Bodentruppen. Im Fall einer Bedrohung sollten die deutschen Offiziere hier hinunter fahren, um sich tief unter der Erde zu verbergen. Die unterirdischen Räume sind ausbetoniert – mit hermetisch abgedichteten Schleusen. Sie hätten sogar einem Atomangriff standgehalten."
Auf den Spuren des Goldzuges
Nach ein paar Schritten durch den Stollen, durch den ohne Weiteres ein Lastwagen passen würde, hält Zdzisław Łazanowski inne. Er weiß, was die Besucher am meisten beschäftigt. In der Gegend geht seit Langem das Gerücht um, unter der Erde sei ein Goldzug verborgen. Im Sommer dieses Jahres hat ein deutsch-polnisches Schatzsucherduo dieses Gerücht mit dem Hinweis auf eigene Georadar-Messungen zur Gewissheit erklärt. Ein gepanzerter Eisenbahnzug, womöglich mit Goldbarren aus den Breslauer Banktresoren, oder wenigstens mit wertvollem Archivmaterial und Kulturgütern wäre bei Kriegsende nahe der Stadt Waldenburg unter der Erde verschwunden.
Beweise gibt es aber immer noch nicht, dafür umso mehr Spekulationen. Spekuliert wird auch darüber, dass es zwischen den Bergstollen von Osówka und den unterirdischen Gleisanlagen nahe Waldenburg, mehr als 20 Kilometer entfernt, einen Verbindungsweg gibt. Zdzisław Łazanowski bedient die Neugier seines Publikums mit einem vagen Scherz: "Wenn wir jetzt zum Ende dieses Korridors laufen, dann eine Kehrtwende von 45 Grad machen und 242 Meter laufen – da gibt es so eine Stelle im Stollen. Und wer dort die Hand auflegt, der wird hören, wie dieser Zug in 20 Kilometern Entfernung vibriert."
Auf insgesamt bis zu 200 Quadratkilometern soll sich das Stollensystem unter dem Eulengebirge und der Stadt Waldenburg erstrecken. Die Nazis nannten das Ganze "Projekt Riese". Nur wenige Teile von "Riese" sind heute für die Besucher zugänglich. Den Zugang ermöglichen verschiedene, miteinander konkurrierende Museen.
Dubiose Forschungen
In einer Schlucht südlich der Hohen Eule liegt Ludwikowice. Hier geht es hinter einer alten Fabrikruine zum privaten Militärtechnikmuseum Riese-Molke. Das Museum veranstaltet Survivaltrainings, Militärpicknicks und Rallyefahrten. Das Verhältnis zur Nazi-Historie scheint geschäflich-unbefangen. Als Deutscher mag man sich über manches wundern: Auf dem Parkplatz zum Beispiel hängt ein Plakat mit einem freundlich dreinblickenden Mann in Naziuniform, blutverschmiertem Kittel und einer modischen Brille. Es handelt um die Werbung einer Augenoptik-Firma aus dem polnischen Breslau.
Wer in das Privatmuseum will, kauft sich seine nicht ganz billig Eintrittskarte in einem alten Eisenbahnwaggon. Dann wird man von Fremdenführer Artur abgeholt und steht bald vor einem riesigen runden Betonskelett aus dem Zweiten Weltkrieg: "Das hier ist eine der größten Attraktionen: die Fliegenfalle. Als die Rote Armee 1945 hier einrückte, fand sie den ganzen Bau mit einem Netz aus Stahlseilen überzogen. Daher dieser seltsame Name, die Fliegenfalle. Hierher hat man im November 1944 60 Wissenschaftler aus ganz Europa geholt, die meisten natürlich unfreiwillig, Physiker, Biologen, Mathematiker und so weiter. Sie haben an schwerkraftlosen magnetischen Antriebsformen gearbeitet und an einem schwerkraftlosen Motor für die sogenannte fliegende Glocke. Die magnetische Anziehungskraft innerhalb des Skeletts ist heute noch 16 Mal höher als in der Umgebung. Um auf die Wissenschaftler zurückzukommen: Damit sie nicht in die Hände der Russen fielen, haben die Nazis sie im Wald in der Nähe erschossen."
Nördlich des Eulengebirges im Waldenburger Bergland lag bis zur Wende das Zentrum des niederschlesischen Steinkohlenreviers. Doch seit Langem lebt man in der malerischen Stadt Waldenburg, polnisch: Wałbrzych, mit ihren rund 100.000 Einwohnern nicht mehr von der Kohle.
Auch hier, in Wałbrzych ist die Bedeutung des Tourismus stark gewachsen. Das viereinhalb Hektar große Gelände der früheren Steinkohlenzeche Julia mitten in der Stadt hat man in ein großes Bergwerksmuseum verwandelt, dazu ein Zentrum für Wissenschaft und Kunst samt Hotel eingerichtet: "Stara Kopalnia", auf Deutsch "Alte Zeche", heißt das Ganze. 2014 wurde es eröffnet. Die Gerüchte um einen Goldzug an der Bahntrasse bei Waldenburg haben auch in der "Stara Kopalnia" die Besucherzahlen hochschnellen lassen, erzählt Direktorin Anna Żabska: "Es kursiert das Gerücht, dass es hier mindestens drei Goldzüge gab. Experten sagen, dass gerade das Bergwerk Julia, auf dessen Gelände wir uns gerade befinden, mit seinen Schächten und seinen 200 Kilometer Stollen ein idealer Ort ist, um verborgene Schätze zu heben. Im Rahmen des Projekts Riese könnte unser Bergwerk über Tunnel und Schächte mit dem Schloss Fürstenstein verbunden sein."
Kommerz mit einem Mythos
Fürstenstein nahe Waldenburg ist ein viel besuchtes Schloss, das größte in Schlesien. Unter dem Schloss wurde im Zweiten Weltkrieg ebenfalls am Projekt "Riese" gebaut. Der Andrang der Besucher gilt nicht nur dem majestätischen Renaissancebau, sondern auch den Tunnelbauten darunter. Verkäufer im Ritterkostüm bieten Goldbarren aus Schokolade an – in Anspielung auf den Goldzug. Anna Żabska ist sich sicher: "Wir nutzen das Interesse der Welt an diesem Goldzug, um für die ganze schöne und geheimnisvolle Region von Waldenburg und für das Eulengebirge zu werben."
Noch im Laufe des Monats November soll ein Expertenteam bei Waldenburg mit Bohrungen und Messungen unter der Erde beginnen, um herauszufinden, ob es den Goldzug nun gibt – oder nicht.