Der an der Universität Basel lehrende Wirtschaftswissenschaftler und Soziologe Oliver Nachtwey hat in seinem neuen Buch "Verkannte Leistungsträger:innen" den Niedriglohnsektor in Deutschland unter die Lupe genommen. Nachtwey analysiert die Lage von Arbeitskräften wie Friseurinnen, Wäscherinnen, Pflegepersonal, Kassiererinnen, Paket- oder Essens-Lieferanten. Diesen Sektor macht kennzeichne "eine Wiederkehr der sichtbaren Klassengesellschaft", so Nachtwey im Deutschlandfunk. Die Menschen, die im Niedriglohnsektor tätig sind, befänden sich "knapp über der Armutsgrenze" und "in einem Kampf um den Alltag".
"Die Klassengesellschaft ist umfänglicher denn je"
Nachtwey ordnet diesen Zustand in die Geschichte der modernen Klassengesellschaft ein. Der heutige Niedriglohnsektor ist dem Soziologen zufolge ein Teil von ihr. Klassengesellschaft sei ein beständiges Merkmal der Geschichte des Kapitalismus, aber auch der Nachkriegsgeschichte. Verändert habe sich jedoch immer wieder ihre Zusammensetzung.
Nach dem Zweiten Weltkrieg habe es einen großen Aufstieg der Arbeiter- und Arbeiterinnen-Klasse gegeben sowie die Herausbildung einer großen, relativ beständigen Mittelschicht. Heute gebe es allerdings wieder eine Unterklasse, "die sehr stark darauf angewiesen ist, durch Arbeit überhaupt ihr Leben einigermaßen bewältigt zu bekommen", sagte Nachtwey. Die Klassengesellschaft sei "heute umfänglicher denn je". Die Menschen, die ihr angehören, besitzen Nachtwey zufolge "keine Produktionsmittel und zu wenig Aktien" und müssten ihre Arbeitskraft deshalb verkaufen.
Kehrseite des Frauenaufstiegs
Demgegenüber hob Nachtwey hervor, dass die Frauen-Emanzipation ein bedeutsames Fortschrittsmerkmal der letzten 40 Jahre sei: "Wir haben eine starke Frauenerwerbstätigkeit, einen Aufstieg der Frauen auch in die höheren Berufe." Zugleich werde jedoch übersehen, dass dieser Aufstieg der Frauen in die Mittelklasse eine Unterseite habe, "nämlich die häufig weibliche migrantische Unterschichtung", so Nachtwey.
Die Tätigkeiten, die notwendig sind, seien nach wie vor dieselben: "Jeder Haushalt muss in irgendeiner Form gereinigt werden, Essen muss gekocht, die Kinder gehütet, die Alten gepflegt werden. Das erledigen nach wie vor in der Regel Frauen. Meistens sind es aber jetzt Frauen aus migrantischen Haushalten, aus dem Ausland, zu sehr schlechten, sehr ausbeuterischen Bedingungen." Der Soziologe fasst das aktuelle Ergebnis der weiblichen Emanzipationsgeschichte so zusammen: "Die Frauenerwerbstätigkeit ist klassenstrukturiert und ethnisch konnotiert."
Einstiegsjobs in der Essenslieferung für Migranten
Die "migrantische Unterschichtung" sei im gesamten Niedriglohnsektor zu beobachten. Nachtwey nannte im Dlf als Beispiel die Tätigkeiten im Sektor der Essenslieferung. Diese seien für viele Migranten, die im Zuge der letzten Krise der Flüchtenden nach Deutschland gekommen seien, Einstiegsjobs. Für diese Tätigkeiten müsse man nicht die deutsche Sprache beherrschen, sondern könne den Job mit einem gegebenenfalls rudimentären Englisch und einer entsprechenden App erledigen.
"Das Aufstiegsversprechen funktioniert noch, aber nicht für alle", so Nachtwey. Für eine bestimmte Gruppe hochqualifizierter Personen, die sehr viel an kulturellem Potenzial mitbringen, "fährt der Fahrtstuhl immer weiter nach oben". Aber es gebe nicht mehr den allgemeinen Aufstieg, bei dem alle Gruppen der Gersellschaft profitierten. "Für Leute, die bei den unteren 30 Prozent sind oder da neu landen, für die ist es ganz schwer, da rauszukommen." Es sei ein Merkmal einer sich "neu konturierenden Klassengesellschaft", dass eine solche Festigung von unten bestehen bleibe, so Nachtwey. Man müsse entweder ganz besonders gut qualifiziert sein oder "übermäßige Kräfte aufbringen", um sich aus der Situation herauszuarbeiten.
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