Oben am Steilufer steht das Ehepaar Schultheiß.
"Ich werde das nächste Jahr 80, da ist mir das ein bisschen wacklig", zaudert er mit Blick auf die enge Treppe am Hang. Aber sie hat sich schon vorgewagt auf die unregelmäßigen Stufen. Hinab zum felsigen Ufer. Trockenen Fußes hinüber zum Mäuseturm, Binger Wahrzeichen und Sehnsuchtsort der Rheinromantik: "Das ist neu, das ist für alle in der Gegend neu. Deshalb sind auch immer wieder Besucher da, weil das eine Sensation ist, ne."
Am Fuß der Treppe führt ein Damm aus Steinblöcken durch den Fluss, der hier eher eine Pfütze ist. Lena und Christel Falkenberger kommen soeben von der Insel zurück. Begeistert hat Mutter und Tochter: "die Aussicht". – "Strand-Feeling, fast wie am Meer." "Die Sandbänke, schön." "Doch, sehr schön."
Fast 100 Kilometer sind sie hergefahren.
"Von Minheim an der Mosel. Wir haben's in der Presse gehört, in der Zeitung gelesen."
Die Tour von der Mosel an den Rhein habe sich gelohnt.
"Auf jeden Fall, das ist ja was Besonderes", pflichtet ihnen Gabi Stockhausen bei.
"Aus Lahnstein, extra angereist, extra in der Woche, wo nicht so viel Betrieb ist, extra bei gutem Wetter."
Das Laub des Wäldchens in der Mitte leuchtet golden
Denn da entfaltet die Sand- und Felsbank im Rhein ihre Inselparadies-Qualitäten, das Laub des Wäldchens in der Mitte leuchtet golden. Doch erstmal muss man mit heilen Knochen über die groben Steinklötze des Damms kommen. Der schwankende Gang über die Felsbrocken kitzelt die Lachmuskeln.
"Das ist schön hier, das haben sie schön gemacht", ruft einer beim Balancieren.
Irrtum: Das Wasser- und Schifffahrtsamt hat nur den Wall über den Stromkabeln zur Insel ausgebessert, keinesfalls wollte die Behörde einen schönen, wackligen Wanderweg bauen. Der Mäuseturm reckt seine beigefarbenen Zinnen in den stahlblauen Himmel. Davor posiert Angelika mit Sohn Niklas für ein Erinnerungsfoto. So oft hatte sie versucht, Plätze auf einer der vier jährlichen Schiffs-Touren zum Turm zu ergattern.
"Sehr schnell ausgebucht – wir haben's noch nicht geschafft. Wir haben's versucht, es ist schon schwierig, da dran zu kommen."
Die Mittdreißigerin – froh, es zu Fuß zum Mäuseturm geschafft zu haben.
"Und unglaublich traurig, dass ich verpasst hab', als die Tür auf war."
Unbekannter hatte Ende Oktober die Tür aufgebrochen
Die Turm-Tür hatte ein Unbekannter an einem Sonntagmorgen Ende Oktober aufgebrochen. Andere hielten das fälschlicherweise für den Tag der offenen Tür und posteten das über die sozialen Netzwerke. Es setzte eine Völkerwanderung ein, die bis heute nicht abgerissen ist. Sechs Tage lang gestattete das Wasser-und Schifffahrtsamt den Zugang ins Turminnere, obwohl sich die enge Wendeltreppe nicht für Besuchermassen eignet. Leute standen Stunden Schlange und bedankten sich unter Freudentränen, dass ein Kindheitstraum wahr wurde.
"Oh, wie schön!" – "Das ist auch mal was für die Kinder."
Sabine ist mit ihrer Familie da. Sohn und Tochter, sechs und zehn Jahre alt, stört nicht, dass der Turm jetzt wieder geschlossen ist. Sie werfen Steine ins Wasser und klettern über die Felsen.
"Mal eine andere Perspektive, mitten im Rhein zu stehen, und man sieht, was sonst unter Wasser ist, was gefährlich ist für die Schifffahrt, sonst", sagt Sabine und blickt über die geriffelte Fels-Landschaft, die normalerweise der Rhein umspült. Soeben naht ein Container-Schiff, es transportiert nur ein Drittel dessen, was es laden könnte. Normal in diesen Tagen, weiß man beim Wasser und Schifffahrtsamt.
"Erschreckend, wie niedrig das Wasser ist", findet Sabine. Die deutsch-kanadische Familie aus der Nähe von Mainz macht sich auch so ihre Sorgen.
Hans: "Ja, um die Umwelt. Das ist nicht normal, was hier überall passiert, die Menschen machen schon unser Paradies kaputt, ne."
Charlene: "Es ist zwar schön und amazing, hier zu laufen, aber es ist sehr bedenklich: Ist es eine Ausnahme, oder wird es die Regel?"
Rheininsel und Vogelschutzgebiet
Trockenen Fußes zu einer Rheininsel - ein Erlebnis, finden Hans und Charlene, nur können sie es nicht so richtig genießen. Noch weniger, als sie erfahren, dass das Inselchen Vogelschutzgebiet ist.
"Wir Verbrecher in unserer Neugier!", sagt sie und muss lachen.
Der Eisvogel soll hier anzutreffen sein, verrät eine Fotografin mit Kamera und Riesenobjektiv. "Bitte nicht betreten – Ruhezone für Vögel", steht auf einem kaum leserlichen Schild, das unweit vom Turm im Gebüsch liegt. Offensichtlich war der Inselzipfel flussabwärts mal gesperrt. Dorthin zieht es soeben Enrico, er entdeckt erstaunliche Ähnlichkeiten mit einem Südsee-Paradies. Der Wormser hält mir sein Handy mit einem Urlaubsfoto von den Malediven unter die Nase – und tatsächlich, abzüglich der Palmen wirkt der Mäuseturm-Strand genauso idyllisch. Enrico trägt eine Angel im olivfarbenen Beutel quer übern Rücken.
"Aber ich hab nichts gefangen, leider."
"Was könnte man denn fangen?"
"Barsch, Karpfen vielleicht, vielleicht auch Zander, und manchmal springt auch ein kleiner Waller drauf."
Ein Fluss-Wels. Aber nicht heute, da hat Enrico Anglerpech. Ein anderer dagegen schwelgt im Liebesglück. Thommi Baake kommt mir auf dem wackligen Rückweg über den Steinwall entgegen. Mit seiner Freundin.
"Ich bin Kinderbuch-Autor und hab' in der Grundschule gelesen. Und das ist meine frische Liebe. Wir sind seit vier Monaten zusammen. Und sie hat mich besucht und..."
"… jetzt machen Sie einen schönen Ausflug", frage ich.
"Die frische Liebe ist immer abenteuerlustig."
"Rheinromantik ist für die frische Liebe perfekt, oder?"
Baake: "Für jede Art von Liebe, auch für die alte. Tschüs!" – "Tschüs!"
Abschieds-Blick zum Mäuseturm. Der gleitet allmählich in den Nachmittagsschatten.