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Niger
Agadez als Durchgangsstation für Flüchtlinge

Schätzungsweise 120.000 Migranten werden pro Jahr durch die Stadt Agadez in Niger geschleust. Ihr Ziel: der Norden in Richtung Libyen und Algerien und von dort weiter nach Europa. Nun will die Europäische Union schon hier Migration verhindern und zum Beispiel den Grenzschutz unterstützen - doch gerade die einheimischen Polizisten stehen in Verdacht, Flüchtlingen um Geld zu erpressen.

Von Jens Borschers |
    Mehrere Pick-ups, auf denen dutzende Migranten sitzen, fahren durch die Wüste von Agadez im Niger in Richtung Liyben (1.6.2015).
    Mehrere Pick-ups, auf denen dutzende Migranten sitzen, fahren durch die Wüste von Agadez im Niger in Richtung Liyben (1.6.2015). (afp / Issouf Sanogo)
    Agadez liegt im Zentrum des afrikanischen Staates Niger. Das Land gilt als eine der ärmsten Nationen der Welt. Auch in Agadez gibt es hohe Arbeitslosigkeit, viel Armut, viel Staub und viel Müll. Ein Wirtschaftszweig allerdings boomt: der Transport von Migranten durch die Wüste Richtung Libyen und Algerien. Von dort aus hoffen viele auf eine Chance, einen Weg nach Europa zu finden. Etwa 120.000 Migranten werden pro Jahr durch die Stadt geschleust. Das schätzt die Internationale Organisation für Migration (IOM).
    Einer von ihnen ist Muhammadu Conaté. Muhammadu Conaté ist ein abgemagerter junger Mann. 24 Jahre alt. Agadez im Niger soll für ihn nur eine Zwischenstation sein. Er erzählt seine Geschichte so: Zu Hause in Burkina Faso leben seine Eltern und seine beiden kleinen Schwestern. Muhammadu sagt, er habe die Schule abgebrochen, um Geld zu verdienen. Geld, das die Familie fürs Essen und für die Schulgebühren der kleinen Mädchen braucht. Er erzählt aber auch, dass er drei Jahre lang gearbeitet habe, um genug Geld für seinen Auswanderungsversuch zusammenzukriegen. Dafür habe er in Burkina Faso alle möglichen Jobs angenommen. Welche genau, das ist aus dem jungen Mann nicht herauszukriegen.
    Dann sei er aufgebrochen. Von Ouagadougou, der Hauptstadt von Burkina Faso, nach Agadez im Staat Niger. Er habe sich vorher bei Kameraden erkundigt, wie schwierig denn der Weg nach Agadez wohl sei.
    "Sie haben gesagt, es gibt keine Schwierigkeiten auf der Route", sagt Muhammadu Conaté. Was waren das für Kameraden? "Kameraden, die auch hierher gefahren sind", sagt Conaté, "und dann weiter nach Libyen."
    Wahrscheinlicher ist allerdings, dass ihm Schleuser gesagt haben, es gebe keine Probleme. Denn die wollen für ihre Dienste bezahlt werden und reden deshalb nicht gerne über Schwierigkeiten auf den Migrationsrouten.
    Polizisten verlangen für die Weiterreise Geld
    Muhammadu Conaté hatte aber viele Probleme. Bei der Ankunft in Agadez hatte er schon kein Geld mehr übrig. Immer wieder seien die Busse, mit denen er und andere Migranten nach Agadez gefahren sind, angehalten worden.
    "Polizisten haben uns angehalten. Alle Ausländer mussten sich auf eine Seite der Straße stellen. Und dann wollten sie Geld von uns haben, wenn wir weiterfahren wollten. Mal drei Euro, mal sieben Euro, kurz vor Agadez waren es 15 Euro."
    Experten von der Internationalen Organisation für Migration bestätigen solche Berichte. Die Polizisten kennen die Migrantenrouten sehr genau, sagen sie. Die wüssten, dass da Geld zu holen sei und sie nähmen es sich mal mit Worten, mal mit Schlägen.
    Muhammadu Conaté berichtet, dass er in Agadez ankam und sein Budget für die gesamte Reise schon verbraucht war. Jetzt hängt er fest in der Stadt der Migranten und Schleuser. Kein Geld, keine Arbeit, keine Perspektive. Nur noch eine schwache Hoffnung: "Ich will nach Libyen", sagt Conaté. "Da gibt es bestimmt Arbeit. Und dann kann ich nach Italien, Insch-a-allah."
    Für seine Familie zu Hause ist Muhammadu Conaté wahrscheinlich der Hoffnungsträger. Derjenige, der es vielleicht schaffen könnte bis nach Europa. Und derjenige, der dann Geld nach Burkina Faso schicken könnte zu seiner Familie.
    Etliche Migranten in Agadez erzählen ganz ähnliche Geschichten. Auch Gerd Müller, Deutschlands Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit, hört sie, als er im August Agadez besucht. Die Europäische Union unterstützt dort ein Aufnahmezentrum für Migranten, die zurück in ihre Heimat wollen. Weil sie nicht mehr können, weil sie kein Geld mehr haben, weil sie keine Chance mehr auf eine Fortsetzung ihrer Auswanderungsreise sehen. Minister Müller besucht dieses Zentrum und sagt anschließend:
    "Also, man sieht erst mal, was Hoffnungslosigkeit bedeutet, wenn man in die Gesichter schaut und mit den jungen Leuten spricht. Sie suchen nichts Anderes als eine Zukunft. Arbeit. Überleben."
    Zukunft. Arbeit. Überleben. Die Forschung darüber, was Menschen dazu treibt, ihre Heimat zu verlassen, und ihr Glück anderswo zu suchen, ist noch nicht besonders weit entwickelt. Es gibt große Schwierigkeiten, verlässliche Daten und Informationen zu bekommen. Konflikte, Kriege, Armut, Mangel an Arbeitsmöglichkeiten oder ganz schlicht die Neugier, anderswo Erfahrungen sammeln, dazulernen zu können – das alles können Gründe für Migration sein.
    Bedürfnis nach Sicherheit ist wichtige Fluchtursache
    Christian Dustmann ist Wirtschaftsprofessor am University College in London. Er forscht seit Langem zum Thema Migration und stellt zunächst einmal fest:
    "Viele Menschen sind schlicht zu arm. Sie können sich Migration nicht leisten. Migranten aus Entwicklungsländern, die nach Europa wollen, sind diejenigen, die es sich leisten können, zu emigrieren."
    Die Ärmsten der Armen Afrikas können sich Transport und Geld für Schleuser nicht leisten. Die große Masse derjenigen, die in Afrika ihre Heimatländer verlässt, schafft es allein schon aus finanziellen Gründen nur bis in die umliegenden Nachbarstaaten.
    Wer nach Europa will, braucht ziemlich viel Geld. Für Busfahrten, für Schleuser, für Bestechungen, für Essen und Trinken. Aber warum machen sich Menschen, die dieses Geld zusammenbekommen können, überhaupt auf den Weg, raus aus ihrem Heimatland? Der Migrationsforscher Christoph Dustmann sieht ein Hauptmotiv in einem Mangel an Sicherheit:
    "Es ist nicht so sehr eine Frage von mangelndem Wohlstand oder wirtschaftlicher Nachteile. Es geht um Sicherheit und Dienstleistungen in den Heimatländern. Menschen haben keinen Zugang zu Wasser, sie sehen keine Zukunft für ihre Kinder, sie vermissen Institutionen, die es ihnen möglich machen würden, zuhause zu bleiben. Und wenn wir uns um Auswanderung kümmern wollen, dann sollten wir uns auf diese Punkte konzentrieren."
    Es scheint so, als komme diese Botschaft bei der Europäischen Union in Brüssel und auch bei der Bundesregierung in Berlin langsam an. Zumindest lautet der offizielle politische Ansatz jetzt Fluchtursachen bekämpfen. Die Frage ist nur wie.
    EU will Migrationspartnerschaften verhandeln
    Die Europäische Union will jetzt sogenannte Migrationspartnerschaften mit Staaten verhandeln, die beim Thema Migration eine besondere Rolle spielen. Dazu gehören vor allem Staaten wie Niger und das Migrantendrehkreuz Agadez dort: Pro Woche, schätzt die Europäische Kommission, passieren Tausende Migranten die Stadt Agadez, Richtung Norden. Ihr Ziel ist zurzeit vor allem Libyen. Sie wollen an die Mittelmeerküste, um von dort aus nach Europa zu kommen.
    Da will Europa ansetzen. Mit dem Ziel, die Migranten bereits aufzuhalten, wenn sie noch auf afrikanischem Boden sind. Der stellvertretende Präsident der EU-Kommission, Frans Timmermans, nannte gleich vier Staaten in Westafrika, mit denen möglichst bald Migrationspartnerschaften geschlossen werden sollen. Mali, Nigeria, Senegal und – natürlich – Niger.
    Europas wichtigstes Ziel: Die Zuwanderung begrenzen, möglichst effektiv. Deshalb fließen viele Millionen Euro in eine Mission mit den Namen EUCAP-Sahel. Europäische Polizisten und Zöllner versuchen schon seit einiger Zeit, ihre Kollegen in Mali oder Niger zu schulen: Darin, wie man die Grenzen besser schützen kann. Darin, wie man wirksame Kontrollen durchführt. Aber was der Grenzschutz für eine Megaaufgabe ist, zeigt das Beispiel des westafrikanischen Staates Mali: 7.000 Kilometer Grenzen hat Mali und ganze 19 ausgebaute Grenzstationen. Da muss noch sehr viel Geld in den Grenzschutz investiert werden, um auch nur annähernd die Kontrolle zu bekommen.