"Bring Back Our Girls - Bringt unsere Mädchen zurück!" Seit die Terrorgruppe Boko Haram Mitte April über 200 Schülerinnen entführt hat, ist der Ruf der Demonstranten in den Straßen der Hauptstadt Abuja nie verstummt. Eltern und Verwandte der Mädchen kommen nicht mehr zu den Kundgebungen – nach mehr als 100 Tagen haben sie keine Kraft mehr, um den Medien Rede und Antwort zu stehen. Das übernehmen jetzt Leute wie der Menschenrechtsaktivist Jibrin Ibrahim:
"Ich komme hierher, weil ich es einfach nicht akzeptieren kann: Bis zu 250 Schülerinnen in der Gewalt von Terroristen – dieser Gedanke ist für mich einfach unerträglich. Es muss alles, aber auch alles versucht werden, damit sie freikommen."
Keine Verhandlungen mit Terroristen
Gespenstische Videos tauchen im Netz auf, darin fordert Abubakar Shekau, der Chef der Terrorgruppe Boko Haram: Die Mädchen würden nur dann freigelassen, wenn im Gegenzug inhaftierte Kampfgenossen freikommen. Doch darauf geht die Regierung bis heute nicht ein. Offenbar hat Präsident Goodluck Jonathan persönlich schon im Mai einen fast perfekten Deal abgeblasen. Begründung: Mit Boko Haram werde nicht verhandelt.
Angeblich weiß die Regierung mittlerweile, wo die Schülerinnen aus Chibok festgehalten werden – tun kann oder will sie nichts, um ihr Leben nicht zu gefährden.
Die Familien der Opfer glauben schon nicht mehr daran. Sie wollen Taten sehen, und sie wollen die Wahrheit. Möglicherweise ist sie niederschmetternd – wenn es stimmt, was mutmaßliche Boko-Haram-Aussteiger vor kurzem einem kamerunischen Journalisten des Senders "TV 5 Monde" anvertraut haben:
"Unser Kommandant hat beschlossen, diese Mädchen zu entführen – und statt sie zu töten, sollten sie als Geiseln dienen, um Lösegeld zu erpressen oder Kämpfer freizukaufen. Nur Gott weiß, wo die Mädchen heute sind, wir waren bei ihrer Entführung nicht dabei. Wir wissen nur, dass die meisten Mädchen als Sexsklavinnen dienen, und dass einige schon schwanger sind."
Weltliche Geschäftemacherei statt Gottesstaat
Die dramatische Entführung offenbart, worum es Boko Haram eigentlich geht. Nur vordergründig um religiösen Fanatismus, um einen Gottesstaat, um die Durchsetzung der Scharia. Eigentlich geht es um Terror, um ganz weltliche Geschäftemacherei. Damals, vor zehn Jahren, hätte man schon erkennen müssen, was sich da zusammenbraut, sagt heute Nigerias berühmtester Sohn, der Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger Wole Soyinka.
"Am Anfang hätte man Boko Haram noch kontrollieren können, mit ehrlichen politischen Maßnahmen, Entwicklungsinitiativen für den verarmten Norden. Aber die Regierung hat es nicht geschafft, dieser Terror-Hydra gleich zu Beginn alle Köpfe abzuschlagen. Deswegen befinden wir uns jetzt in einem militärischen Szenario, aus dem wir nicht mehr herauskommen."
Das Symptom eines kranken Staates
Boko Haram ist das Symptom eines kranken Staates. Eines Staates, der den Terror selbst verschuldet hat, der immer zweigeteilt war, in einen verhältnismäßig stabilen Süden und einen verarmten Norden, in dem der Ölreichtum aus dem Nigerdelta nie ankam - oder dort in Korruption und Misswirtschaft versank. Genau das hat diese islamistische Sekte, die Boko Haram einmal war, immer kritisiert. Der Name "Boko Haram" wird häufig übersetzt mit "Westliche Bildung ist Sünde". Doch "Boko Haram" heißt auch: "Täuschung ist verboten". Im Bundesstaat Borno wurde Boko Haram von Lokalpolitikern instrumentalisiert, mit Geld gekauft, und dann fallengelassen. Aus Partnern wurden erbitterte Gegner. 2009 ließ Nigerias inzwischen verstorbener Präsident Yar Adua den damaligen Anführer der Sekte exekutieren. Das Blutbad – verübt von Nigerias Militär und Polizei - war die Geburtsstunde des Terrormonsters namens Boko Haram.
Heute ist die Gruppe viele Millionen Dollar schwer, ihre Kämpfer sind bestens ausgerüstet und trainiert, international vernetzt – mit Al Kaida im Islamischen Maghreb, mit Al Shabab in Somalia. Im Norden Nigerias kämpft die Armee einen erbitterten Krieg gegen Boko Haram, in drei Bundesstaaten gilt der Notstand.
Doch ein Teil der nigerianischen Machtelite hat gar kein Interesse daran, dass der Terror jemals endet. Das bestätigen die mutmaßlichen Boko-Haram-Aussteiger gegenüber dem Sender TV5 Monde:
"Natürlich hat Boko Haram Komplizen in der Regierung und beim Militär. Sie geben uns Geld, sie informieren uns über ihr Vorgehen, und wir sagen ihnen, was wir vorhaben. Um die Zentralregierung zu torpedieren, finanzieren diese Leute den Terror gegen den eigenen Staat. Es ist ein Geschäft. Und so lange dieses Geschäft läuft, wird weiter Blut fließen in Nigeria."
Kontakte zwischen Armee, Politikern und Terroristen sind lukrativ – für alle Seiten. Tatsächlich gibt es viele Hinweise darauf, dass ohne die kontinuierliche Bedrohung durch Boko Haram eben nicht Milliarden Naira für die Rüstung ausgegeben würden, offenbar ein Fünftel des gesamten Staatshaushalts. Fleischtöpfe, die Begehrlichkeiten wecken.
Politiker machen sich die Taschen mit Schmiergeldern voll, und gerade erst wurden zehn Generäle der nigerianischen Armee wegen Waffenhandels zu Haftstrafen verurteilt: Es dürfte nur die Spitze des Eisbergs sein. In der zynischen Rechnung der nigerianischen Machtelite spielen Tausende Opfer des Boko Haram-Terrors ebenso wenig eine Rolle wie das Schicksal der entführten Mädchen von Chibok.