Nigerias Hauptstadt Abuja, vor zehn Tagen. Auf einem Busbahnhof ist morgens zur Hauptverkehrszeit eine Autobombe gezündet worden. 75 Tote, 141 Verletzte. Die Islamisten-Sekte Boko Haram hat den Terrorismus zurück in die Hauptstadt gebracht. Dabei hatte Präsident Goodluck Jonathan kurz zuvor noch in einem Interview verkündet, man habe die Extremisten in den Nordosten abdrängen können:
"Wir haben diese Boko Haram-Herausforderung. Boko Haram hat ja nicht in der Provinz angefangen. Ihre ersten Attentate haben sie damals in der Hauptstadt verübt. Bombenangriffe gegen das Gebäude der Vereinten Nationen, gegen das Hauptquartier der Polizei. Aber jetzt haben wir sie in das Gebiet an der Grenze zu Kamerun zurückgedrängt."
Offensichtlich ist Boko Haram doch nicht ins Grenzgebiet zurückgedrängt. Offensichtlich kann die Organisation in der nigerianischen Hauptstadt verheerend zuschlagen. Und ebenso offensichtlich ist Nigerias Regierung besorgt um den Ruf des Landes als Investitionsstandort. Im Mai ist Abuja Treffpunkt für den Afrika-Gipfel des Weltwirtschaftsforums. Jetzt sollen mehr als 6.000 Sicherheitskräfte, verteilt über einen Umkreis von 250 Quadratkilometern, diese Konferenz schützen.
Die Frage wird sein, ob die massive Polizei- und Militärpräsenz hilft. Und wem sie hilft. Im Nordosten Nigerias hat die Regierung schon vor mehr als einem Jahr den Ausnahmezustand ausgerufen. Dort agiert Boko Haram am häufigsten. Dort schlägt die Armee besonders hart zurück. Trotzdem konnten schwer bewaffnete Männer mehr als 200 Schülerinnen entführen. Seit mehr als zehn Tagen herrscht ein komplettes Informationschaos in dieser Sache. Es gibt falsche oder gar keine Informationen. Es gibt Erfolgsmeldungen der Militärs, die sich kurz darauf als komplett falsch herausstellen.
Misstrauen gegen Regierung und Verwaltung, der Vorwurf mangelnder Transparenz beschränkt sich keineswegs nur auf die Terrorismusbekämpfung. Das gilt auch im Bereich der Wirtschaft.
Enomer Reichtum extrem ungleich verteilt
Als Nigeria Anfang April zur größten Wirtschaft des afrikanischen Kontinents gekürt wurde, da fragten sich viele Nigerianer: Was hat das mit uns zu tun? Die Zahlen auf dem Papier der Statistiker sind das eine, die Lebenswirklichkeit der meisten etwas anderes. In der neuerdings größten Volkswirtschaft Afrikas müssen immer noch etwa 60 Prozent der Menschen von weniger als einem Euro pro Tag leben. Junge Menschen finden keine Arbeit. Gleichzeitig hören sie aber, dass bei der staatlichen Erdöl-Gesellschaft über zehn Milliarden Euro versickert sind. Weg. Es ist bisher nicht nachzuvollziehen, wo das Geld hingekommen ist.
Unter solchen Widersprüchen ächzt die nigerianische Regierung. Finanzministerin Ngozi Okonjo-Iweala verteidigt sich: Die Regierung arbeite an Strukturreformen. An der Verbesserung der Institutionen:
"Letztendlich muss jemand etwas opfern, damit es besser wird. Ich habe eine angenehme Karriere aufgegeben, um hierher zu kommen und aufzuräumen. Weil ich einsehe, dass letztlich wir Nigerianer selbst hier aufräumen müssen. Und das tun wir."
Das Problem ist: Es gibt ungeheuer viel aufzuräumen. Der enorme Reichtum des Landes ist extrem ungleich verteilt. Im Süden sprudeln die Öl-Quellen, sie liefern etwa 80 Prozent der Staatseinnahmen - und trotzdem finden junge Menschen keine Arbeit im Süden. In den Zentralen der großen Telekommunikationskonzerne freut man sich über gigantische Wachstumsraten, aber in dieser Branche entstehen nur wenige Arbeitsplätze. Wieder verteidigt sich die Nigerias Finanzministerin Okonjo-Iweala. Die Regierung habe doch Programme für Klein-Unternehmer aufgelegt, damit die Jobs schaffen.
"Eines davon hilft jungen Unternehmern zwischen 18 und 40 Jahren, ihre Unternehmen zu stärken. Es beruht auf einem Wettbewerb der Businesspläne. Wenn sie in diesem Wettbewerb gewinnen, bekommen sie einen Zuschuss zwischen 10.000 und 90.000 Dollar. Bisher haben wir 3.600 Gewinner und die haben 27.000 Arbeitsplätze geschaffen. Bisher. Aber wir visieren 80.000 bis 100.000 Jobs an."
100.000 Arbeitsplätze - das klingt nach viel und ist doch gleichzeitig wenig in einem Staat von etwa 170 Millionen Menschen. Öl, Telekommunikation, die nigerianische Filmindustrie - das sind einige der Grundpfeiler der Wirtschaft. Sie reichen aber bei Weitem nicht aus, um Arbeitsplätze für die Masse der Bevölkerung zu schaffen. Im Süden wehren sich viele Menschen gegen die Umweltzerstörung durch die Öl-Förderung. Die Landwirtschaft Nigerias kriselt, die Produktion sinkt, trotz sehr fruchtbarer Böden. Unruhen, Anschläge und ethnische Streitigkeiten in Nigeria sind zumindest zum Teil auch Ausdruck dieser Misere.
Junge Männer ohne Perspektive offen für radikale Angebote
Präsident Goodluck Jonathan versucht immer wieder, Gewalt und den Terrorismus zu vorübergehenden Phänomenen zu erklären. Und den wachsenden Einsatz des Militärs beschreibt er als aussichtsreiche Maßnahme für eine bessere Zukunft im bettelarmen Nordosten Nigerias:
"Unser nächster Schritt ist sicherzustellen, dass sich die Bedingungen für die Wirtschaft in den diesen Regionen verbessern. Unglücklicherweise muss dafür aber erst mal dafür gesorgt werden, dass es einigermaßen friedlich bleibt. Denn niemand wird in einer unruhigen Gegend investieren. Und deshalb muss das Militär dort agieren."
Das Militär agiert auch. Mit großer Härte, mit ständig steigenden Kosten. Aber bisher ohne durchschlagenden Erfolg. Beispielsweise im Bundesstaat Borno. Biye Peter Gumtha stammt von dort. Er ist Abgeordneter im nigerianischen Repräsentantenhaus. Gumtha befürwortet das Eingreifen des Militärs gegen die Islamisten-Sekte Boko Haram grundsätzlich. Aber er hält den Konflikt keineswegs für eine primär religiöse Auseinandersetzung. Gumtha meint, mangelnde Perspektiven und die grassierende Korruption, das sei es, was viele junge Menschen zu den Rebellen treibe.
"Die Wirtschaft hier ist am Boden. Kaum noch Handel, kaum noch Landwirtschaft. Viele der jungen Männer im Alter von 15 bis 30 Jahren haben sich dieser Gruppe angeschlossen. 95 Prozent unserer jungen Leute in Borno haben eine Verbindung zu denen. Deshalb kann man sie nicht eliminieren."
Junge Männer ohne Perspektive sind offen für radikale Angebote - das meint der Abgeordnete Biye Peter Gumtha. Und in Nigeria leben viele junge Menschen ohne Perspektive, nicht nur im Nordosten des Landes. An diesem Problem dürfte die auf dem Papier frisch gekürte größte Volkswirtschaft Afrikas noch ziemlich lange zu arbeiten haben.