Die Freude war groß: 21 der über 200 entführten Mädchen aus dem Ort Chibok in Nordost-Nigeria sind frei. Nach über zwei Jahren Gefangenschaft der Terrormiliz Boko Haram.
"Wichtig ist: Es handelt sich nicht um einen Gefangenaustausch. Es ist eine Befreiung; das Produkt mühsamer Verhandlungen und Vertrauen auf beiden Seiten. Wir sehen das als glaubwürdigen ersten Schritt, um alle Chibok-Mädchen aus der Gefangenschaft zu befreien."
Kein Austausch von Gefangenen, sondern eine Befreiung, sagt der Informationsminister Lai Mohammed und dabei bleibt die Regierung. Aus Sicherheitskreisen heißt es, es sei Geld geflossen. Die Kritik an Verhandlungen mit den Terroristen ist groß, gleichzeitig steht die Regierung unter enormem Druck, die verschollenen Mädchen zu ihren Familien zurückzubringen – auch, weil der Fall international für Schlagzeilen sorgte. Auch Habiba Balogun von der Bewegung "Bring Back Our Girls" ist noch nicht zufrieden. Man dürfe nicht vergessen, dass immer noch 197 Chibok-Mädchen in den Händen von Boko Haram seien.
"Wir wollen die Regierung unter Druck setzen, damit sie etwas unternimmt und diese Mädchen mit allen verfügbaren Mitteln befreit. Wir wussten immer, dass sie die Mittel dazu hatten und jetzt haben sie sie auch eingesetzt."
Boko Haram hält viele Menschen als Geiseln fest
Die Chibok-Mädchen sind nicht die einzigen Geiseln: Die Terrorgruppe Boko Haram hat zahlreiche Kinder, Frauen und Männer in ihrer Gewalt. Die Hoffnung, die Terroristen endlich zu besiegen, war groß, als der Ex-General Muhammadu Buhari im Mai 2015 sein Amt als Präsident antrat. Und tatsächlich sah es so aus, als ob Buharis neue Bodenoffensive Boko Haram besiegen könnte.
Die viel bemängelte Ausrüstung des Militärs wurde verbessert, die militärische Zusammenarbeit mit den Nachbarstaaten Kamerun, Tschad, Niger und Benin intensiviert. So konnte die nigerianische Armee weite Landstriche, die von Boko Haram eingenommen worden waren, wieder unter ihre Kontrolle bringen.
Buhari bezeichnete kurz darauf Boko Haram als "technisch besiegt", die Terror-Miliz gilt als intern zerstritten. Ein militärischer Erfolg, aber kein Grund zum Jubeln, warnt Politikbeobachter Kabiru Adamu.
"Natürlich ist Boko Haram geschwächt. Ende 2014, Anfang 2015 hatten sie im Norden Nigerias ein riesiges Gebiet erobert, aber mittlerweile haben sie in keinem Bundesstaat mehr die uneingeschränkte Kontrolle. Das Militär hat also einen guten Job gemacht. Aber es wäre gefährlich, diese Situation falsch einzuschätzen. Die ursprüngliche Strategie der Terrorgruppe mag nicht mehr funktionieren, aber die Ideologie bleibt gefährlich. Und noch sehe ich nicht, welche Lösungen Nigeria hat, um die Verbreitung der Ideologie zu verhindern."
Und die Anschläge gehen trotz Verhandlungen mit der Regierung weiter. Nahezu zeitgleich zur Befreiung der 21 Chibok-Mädchen verübte Boko Haram einen blutigen Anschlag im Nordosten des Landes. Weil die Terrorgruppe keine größeren Landstriche mehr kontrolliert, kehrt sie zu ihrer alten Strategie zurück, verübt Anschläge in Dörfern und Städten: Mehr als zweieinhalb Millionen Menschen befinden sich in Nigeria auf der Flucht.
Boko Haram wütet weiter im Norden des Landes
In den vom Militär zurückeroberten Gebieten wurde das Ausmaß des Boko-Haram-Terrors erstmals sichtbar: zerstörte Dörfer, Geisterstädte, verbranntes Land und vergiftete Brunnen. Zehntausende Menschen leiden unter extremer Unterversorgung, schätzen die Vereinten Nationen. Darunter fast eine Viertelmillion Kinder im Norden Nigerias, die stark unterernährt sind; viele von ihnen vom Hungertod bedroht. Die Krise bedroht mittlerweile nicht nur den Nordosten des Landes, sondern auch die Nachbarstaaten Niger, Kamerun und Tschad. UNICEF-Mitarbeiter sprechen von der derzeit schlimmsten Hungersituation der Welt.
Weil die Terrormiliz Boko Haram im Norden des Landes wütet, sind außerdem hunderttausende Menschen auf der Flucht. Mehrere Millionen sollen zwischen den Fronten eingesperrt sein zwischen der nigerianischen Armee und Boko Haram. Die Krise wird zusätzlich durch den Klimawandel verschärft, der die Region um den Tschad-See hat austrocknen lassen. Das Ackerland kann kaum noch bewirtschaftet werden. Selbst, wenn es Hilfsorganisationen gelingt, mit Militärschutz in die Regionen zu kommen, bleibt die Arbeit gefährlich, erzählt Jean-Harvé Bradol von "Ärzte ohne Grenzen":
"Ein Hindernis, in diese Regionen zu gehen, ist die Angst: Auf den Straßen müssen wir fürchten, auf Minen zu treten. Wir haben Angst, zwischen die Fronten von Boko Haram-Kämpfern und nigerianischer Armee zu geraten."
Diese Angst ist nicht unbegründet. Im Juli erst wurde ein Hilfskonvoi der Vereinten Nationen attackiert.
Wirtschaftliche Krise in Nigeria
Die wirtschaftliche Krise in Nigeria lähmt das Land zusätzlich. Die Korruption blüht. Nigeria rangiert 2015 laut der Anti-Korruptionsorganisation Transparency International auf Platz 126 von 168 – die korruptesten Länder der Welt. Afrikas größte Volkswirtschaft steckt in der Rezession. Zwei Quartale hintereinander schrumpfte die Wirtschaft des Landes.
Das ist spürbar für die Nigerianer: hohe Preissteigerungen, Arbeitsplatzverluste, teilweise Engpässe bei der Lebensmittelversorgung. Ein niedriger Ölpreis und ein Aufstand in der ölproduzierenden Delta-Region im Süden des Landes haben die Regierungseinnahmen auf ein Viertel gegenüber 2014 geschrumpft. Das macht es extrem schwer, auf die enormen und drängenden humanitären Bedürfnisse im Nordosten zu reagieren. Und damit wächst die Kritik an Nigerias Präsident Buhari weiter. Jetzt sogar aus den eigenen Reihen.
"Wenn das so weiter geht, werde ich nicht mehr an irgendeiner Bewegung teilnehmen."
Das sagte jüngst erst die Präsidentengattin Aisha Buhari in einem Interview mit der BBC und sorgte damit für Aufruhr im Land. Ohne eine neue Regierungsbildung sei sie nicht mehr an Bord, betonte Aisha Buhari. Heißt konkret: keine weitere Wahlkampfunterstützung für ihren Mann bei der nächsten Wahl. In der Vergangenheit hatte die First Lady ihren Mann aktiv unterstützt. Im Interview ging sie aber noch weiter. Ihr Mann kenne nicht einmal das Führungspersonal wichtiger Regierungsorganisationen.
Sie habe Angst vor einer Rebellion, wenn ihr Mann seinen Regierungskurs nicht ändere. Auf einer Pressekonferenz in Berlin, nach einem Treffen mit Bundeskanzlerin Angela Merkel, musste sich Präsident Buhari auch prompt zu den Äußerungen seiner Frau positionieren und sorgte seinerseits für Diskussionsstoff.
"Ich weiß nicht, zu welcher Partei meine Frau gehört, aber ... Sie gehört in meine Küche und in mein Wohnzimmer und die anderen Zimmer in meinem Haus."
Nigerias Präsident Buhari kämpft in seinem Land an allen Fronten, ein Ende der vielen Krisen ist nicht abzusehen. Die Probleme Nigerias gleichen einer Hydra, einem schlangenhaften, mehrköpfigen Ungeheuer. Sobald Buhari glaubt, einem Problem den Kopf abgeschlagen zu haben, wachsen in kürzester Zeit zwei neue Köpfe nach.