Kommentar
Die EU ist nur bedingt verteidigungsfähig

Die EU muss viel mehr in Sicherheit und Verteidigung investieren. Das fordert ein Konzept von Finnlands Ex-Präsidenten Niinistö. Doch die Halbherzigkeit der Europäer bei der Ukraine-Unterstützung weckt Zweifel, dass die Empfehlungen umgesetzt werden.

Ein Kommentar von Marcus Pindur |
Die Beine eines uniformierten Soldats.
Der ehemalige finnische Präsident Sauli Niinistö legte einen Plan für ein neues Sicherheits- und Verteidigungskonzept der EU vor. (picture alliance / dpa / Mohssen Assanimoghaddam)
Es hat seit der Vollinvasion Russlands in die Ukraine zweieinhalb Jahre gedauert, bis die Europäische Union eine Bestandsaufnahme ihrer sicherheitspolitischen Defizite, ihrer zivilen Resilienz und möglicher Gegenmaßnahmen vorgelegt hat. Allein dies zeigt, wie sehr die Dinge im Argen liegen.
Der Bericht des ehemaligen finnischen Staatspräsidenten Sauli Niinistö im Auftrag der EU-Kommission offenbart, wie viel die Europäer nach- und aufholen müssen, um ihre Abschreckung, Verteidigung und zivile Widerstandskraft auch nur ansatzweise gewährleisten zu können.

Die sicherheitspolitische Lage Europas ist prekär

Davon ganz abgesehen sollte ein Blick in die kommende Woche alle Beteiligten daran erinnern, wie prekär die sicherheitspolitische Lage der Europäer ist. Sollte Donald Trump es ins Weiße Haus schaffen, dann könnte der europäische Pfeiler der NATO bald ihr einziger Pfeiler sein. Selbst falls die USA Mitglied im westlichen Bündnis blieben, würde die amerikanische Unterstützung Europas und der Ukraine deutlich zurückgeschraubt.
Die europäischen NATO-Mitglieder sind zum Großteil auch Mitglieder der Europäischen Union. Die EU wäre also im Notfall - außer den sehr unterschiedlich handlungsfähigen Nationalstaaten - der institutionelle Rahmen, in dem Verteidigung ohne nennenswerte Beteiligung der USA organisiert werden müsste.

Niinistö-Bericht fordert Investitionen von 20 Prozent der EU-Mittel

Doch Niinistös Bericht zeigt überdeutlich: Die derzeitigen EU-Mittel sind unzureichend, um Europas Verteidigung auszubauen oder um die Ukraine im Verteidigungskrieg gegen Russland zu unterstützen. Er empfiehlt, dass in Zukunft 20 Prozent der EU-Mittel für Verteidigung und Resilienz ausgegeben werden. Wie das finanziert werden soll, lässt Niinistö bewusst offen. Gemeinsame Schuldenaufnahme für einen sicherheitspolitischen Fonds scheint nach bisheriger Lage ausgeschlossen.
Nicht überraschend legt Niinistö deswegen einen langen Katalog prozeduraler Empfehlungen vor: von mehr Kooperation zwischen NATO und EU über eine verbesserte Zusammenarbeit der Geheimdienste und gemeinsamen verpflichtenden Standards beim Zivilschutz bis hin zur Resilienz einzelner Haushalte. Die Bürger sollten Lebensmittel, Wasser und Treibstoff für mindestens eine Woche vorhalten. Das setzt ein Bewusstsein für mögliche Krisen voraus. Politik kann das nicht verordnen, sie muss für dieses Bewusstsein werben.
Ob die einleuchtenden und angemessenen Empfehlungen Niinistös umgesetzt werden, liegt nur zum Teil in den Händen der Europäischen Kommission. Es sind die nationalen Regierungen, die im Wesentlichen den Test der völlig veränderten Sicherheitslage bestehen müssen. Ob das geschieht, ist unklar. Die Halbherzigkeit, mit der die Ukraine von den Europäern inklusive Deutschlands unterstützt wird, bietet jedenfalls nicht viel Anlass für Optimismus.
Marcus Pindur, Dlf-Korrespondent für Sicherheitspolitik
Marcus Pindur hat Geschichte, Politische Wissenschaften, Nordamerikastudien und Judaistik an der Freien Universität Berlin und der Tulane University in New Orleans studiert. Er war Stipendiat der Fulbright-Stiftung, der FU Berlin sowie des German Marshall Fund. 1997 bis 1998 arbeitete er als politischer Referent im US-Repräsentantenhaus. Pindur war ARD-Hörfunkkorrespondent in Brüssel, bevor er 2005 zum Deutschlandradio wechselte. Von 2012 bis 2016 war er Korrespondent für Deutschlandradio in Washington, D.C. Seit Anfang 2019 ist er Deutschlandfunk-Korrespondent für Sicherheitspolitik.